Driving Space Stephan Janitzky über Maximiliane Baumgartners „Fahrender Raum“, München, und ihre Ausstellung in der Galerie Kirchgasse, Steckborn
Der Empfang ist ein Tanz, der Hummeltanz. Die Gruppe schwirrt herum, die Gesichter teilweise verhüllt oder bunt geschminkt, in übergroße weiße Oberhemden gekleidet. Das Wort „Hummel“ wird immer und immer wiederholt, die Dynamik des Gesprochenen verändert sich konstant, wird lauter, schneller, leiser, langsamer, synchronisiert sich und läuft über in Dissonanzen. Die Körper versuchen, mitzumachen, mal läuft es rund, dann stottert es, kippt ins pathetische Wollen, kippt ins alberne Weitermachen-Müssen, wird wieder ernst und konzentriert.
In Maximiliane Baumgartners Malerei „Trigger Copy Hummel“ ist der gleiche Tanz dargestellt, zur Linken liegt lesend unter einem Baum der Erfinder des Tanzes, Gusto Gräser, geboren 1879, Künstler, Dichter, Tänzer, Bohemien, fahrender Vagabund, Pazifist sowie Mitbegründer der Künstler*innenkommune Monte Verità in den Schweizer Alpen. Teilweise durchdrungen von den tanzenden Gestalten, wird er beobachtet von einem kleinen Hund am unteren Bildrand, von dem nur der Hinterkopf zu sehen ist, Third-Person-Perspective, aktuell bekannt aus Rollen-, Adventure- und Actiongames.
Der Eröffnungstanz und die Malerei liegen ein paar Hundert Kilometer voneinander entfernt, sind zeitlich um ein paar Tage versetzt - hier open air in München-Freimann, dort in den Räumen der Galerie Kirchgasse im schweizerischen Steckborn. Auf einer Wiese in München-Freimann steht im Sommer 2018 der Pavillon des „Fahrenden Raums“, laut Selbstauskunft „ein Kunstprojekt und Aktionsraum für kunstvermittlerisches und künstlerisches Handeln im Städtischen Kontext in Freimann, München. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.“ Klingt nach Kapitelüberschrift in einem mehrseitigen Projektantrag an eine einschlägige Stiftung und bleibt in der Intention, derartig Formuliertes zu veröffentlichen, umso rätselhafter, wenn man es mit der Praxis abgleicht.
Der Pavillon, von Baumgartner mit Jochen Weber zusammen konzipiert und gebaut, ist doppelt so groß wie ein Schrebergartenhäuschen, etwas höher, die gesamte Front lässt sich öffnen und wird zum Bühnenraum und beherbergt das beständig wachsende „Performative Gusto Gräser Kinder-Archiv“. Nebenan Kulissenbauten, eine begehbare Häuserzeile und etwas abseits das Hühnerhaus von Jonas Beutlhauser samt Hühnern, die herumtollen, picken, manchmal durch die Gegend gejagt werden.
„Die Stadt München hat eine Geschichte der künstlerischen Aktionsräume“ schreibt Baumgartner in einer begleitenden Publikation [1] und führt aus, dass es sich um Versuche der Selbstorganisation im öffentlichen Raum handelte, vor allem in den späten 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Übergänge zur zeitgleich in München entstehenden Happening- und Aktionskunst-Szene sind fließend, prominentes Beispiel wäre hier der 1969 gegründete Aktionsraum 1, und es gibt weitere aufregende Namen zu nennen: die Gruppe KEKS, Abkürzung für „Kunsterziehung Kybernetik Soziologie“, und die Pädagogische Aktion (PA), beide Gruppen von Aktivist*innen, Künstler*innen und Sozialpädagog*innen, die sich bei der Besetzung der Münchner Kunstakademie 1968 zusammengetan hatten und in Folge Aktions- und Spielräume unter direkter Einbindung von Kindern und Jugendlichen auf der Straße, in Parks, leerstehenden Fabrikhallen und Gasthäusern, ruinierten Villen oder im deutschen Pavillon auf der Venedig Biennale entwickelten. Der Kunstpädagogische Dienst (KPD) als ein Teilbereich von Kultur & Spielraum e.V. arbeitet in dieser Tradition pädagogisch-künstlerischer Spielräume mit Projekten wie der Spielstadt Mini-München bis heute weiter.
2015, Freimann, ein leerstehender Supermarkt, auf einem gebastelten Plakat im Schaufenster steht: „100 % Rabatt. Beim Reingehen 100 € geschenkt!“ - eine glatte Lüge, der Supermarkt hat hier geschlossen. Es ist eher ein Versprechen: Die Simultanbühne des Fahrenden Raums feiert hier Eröffnung. „Eintreten darf jeder als potenzielle Produzent*in in den gemeinsamen Ort, der als Catwalk, Paradeplatz, Drehort, Dokumentation und Bühne permanente Umdeutung erfahren hat und als Startrampe funktioniert; als Möglichkeitsraum für erfundene und reale Akteure und Versionen, die es schaffen, diese Ladenzeile für sich zu reklamieren“, fasst die Künstlerin Mirja Reuter das gemeinsam Erfahrene und Konstruierte im Ex-Supermarkt zusammen.
2018, wieder in Steckborn, Galerie Kirchgasse. Die bereits erwähnte Malerei „Trigger Copy Hummel“ ist Teil einer Serie von insgesamt acht mit Lack gemalten Bildern auf Alu-Dibond. Weil meist recht vordergründig Figuren erkennbar sind, die vor einem kulissenhaften Bildmittelgrund und vor einem radikal leeren, maximal grundierten Hintergrund agieren, stets beschäftigt zu sein scheinen, entsteht der Eindruck des Dokumentarischen. Das Noch-mal-zeigen-Wollen, was bereits passiert ist, aufgezeichnet werden will, auch schnell festgehalten werden muss: Modellhafte Konstruktionen, die auf die architektonische Spielplatzintervention „Die Rote Stadt“ der PA im Münchner Olympiadorf verweisen; Motive, die den parallel stattfindenden Veranstaltungen des „VagabundInnentreffs“ im Pavillon entlehnt sind, immer wieder Gusto Gräser, der bis 1958, die letzten 16 Jahre seines Lebens in Freimann verbrachte, hier oft bei Freunden unterkam und auf Bäumen sitzend, seine Dichtungen in Form von selbstgestalteten Druckwerken und Flugschriften en passant verteilte.
Zugleich fallen die ungewöhnlichen Formate der Bildträger in den Blick - wenig von repräsentativem Tafelbild, keine querformatigen Panoramabestrebungen, keine einfachen Rechtecke, sondern zugesägte verschachtelte Flächen und Ausschnitte. Die Konturen erinnern an Formen von Fenstern, Türen, Wandflächen, die herausgelöst wurden aus einer umfassenderen Architektur und jetzt hier an der Wand, wie sie dort hängen, auch etwas Komisches haben: Fragmente eines Bühnenbilds, auf denen vergangene Aufführungen eingeschrieben sind und jetzt noch einmal in Szene gesetzt werden.
Selbstreflexion des Mediums Malerei? Bestimmt, aber im Gesamten der Serie auch eine Installation, deren Elemente nicht wissen, wohin sie sollen; die einzelnen Bilder wie positive Passstücke, die kein negatives Gegenstück finden. Baumgartners Entscheidung, das vermeintlich genau ins Feld Passende nicht produzieren zu wollen, sei es die Malerei für eine Ausstellung, sei es eine pädagogische Aktion, liefert folglich Ergebnisse, die nie rein positiv, als „reine“ Kunst oder als „reine“ (Kunst)Pädagogik identifiziert werden können, sondern immer auch ihren fehlenden Teil anzeigen, auf die blinden Flecken der jeweiligen Felder von Kunst und Pädagogik hinweisen. Die gängige zeitgenössische Methode, die Felder möglichst klar zu differenzieren, sie daraufhin wieder in Beziehung zu setzen und den gewonnenen interdisziplinären Theorieprofit in eine künstlerische“ oder „pädagogische“ Anwendung umzuleiten, wird in Baumgartners Praxis konsequent problematisiert. Tendiert jene Methode doch dazu, einen Produktions-/Rezeptions-Habitus zu verstärken, der zwar sprachlich genau und ausdifferenziert sein kann, aber eben auch disziplinarisch professionalisiert und nur die eigene Sprache zu akzeptieren bereit ist, oft dem jeweiligen Feld entsprechenden idealistischen, normativen Zielen folgt und in Bezug auf das andere Feld somit immer implizit hierarchisierend wirkt. Statt auf das analytische Problem mit (Er)Lösungsversprechungen zu antworten, produziert Baumgartner lieber weiter zugleich zu viel Kunst UND zu viel Pädagogik. Überforderung als eine Antimethode, die es schafft, die historische und aktuelle Bedingtheit der Autonomie- und Heteronomiebehauptungen von Kunst und Pädagogik ins Licht zu zerren und dadurch immer mit auszustellen.
Zur Verdeutlichung hilft hier vielleicht noch mal das Bild der Simultanbühne, auf der unterschiedliche Handlungen nicht deshalb als parallel zu betrachten sind, weil sie gleichzeitig stattfinden, sondern weil sie einen vergleichbaren Stellenwert in der gesamten Aufführung einnehmen. Somit ist die Frage, was ist hier das Kunstwerk und was ist hier die pädagogische Aktion, schlicht deshalb die falsche Frage, weil die Antwort nie passen wird. Dem Primat der direkten Aktion folgend, geht es Baumgartner nicht um schlaue Antworten auf natürlich niemals dumme Fragen aus dem Publikum, sondern um die unmittelbare Wirkung der Handlungen auf die Beteiligten. Der Effekt, der sich bei den Veranstaltungen einstellt, bei den Bildern, bei den Aufführungen und Vorträgen, auf dem Catwalk, beim 100 % Rabatt, in zusammenfantasierten Geschichten im Pavillon ist eine produktive Verunsicherung der so schön eingeübten Rollenspielchen - fein justiert gestern Abend beim Vernissagenunterricht oder locker performed heute Vormittag beim Abhängen in der Schule - hier klappt es nicht mehr reibungslos. Nicht für Kinder, nicht für Jugendliche und nicht für Erwachsene. Es passt nie ganz richtig und bleibt dadurch ein schönes Problem.
Maximiliane Baumgartners „Der Fahrende Raum“, seit 2015 immer über den Sommer in München-Freimann.
Stephan Janitzky, ist Künstler und arbeitet in München in einem Buchladen. Zusammen mit Sebastian Stein gibt er die halbjährliche Zeitschrift „MUSS STERBEN“ heraus.
„Maximiliane Baumgartner: Gusto oder zwischen Roten Städten“, Galerie Kirchgasse, Steckborn (CH), 9. Juni bis 14. Juli 2018.
Titelbild: Maximiliane Baumgartner, „Trigger Copy Hummel“, 2018 Credit: Maximiliane Baumgartner, Galerie Kirchgasse, Foto: Alex Kern
Notes
[1] | „DER FAHRENDE RAUM“, Maximiliane Baumgartner/Mirja Reuter & Co., Kultur und Spielraum e.V. (Hg), 2016. |