Die Think Tanks und die Fetischisten. Ein Gespräch mit Armen Avanessian und Aram Lintzel über Akzelerationismus
Katja Novitskova, "Energy Release", 2014, Ausstellungsansicht Kraupa-Tuskany Zeidler, Berlin
Der Akzelerationismus, von manchen als politischer Flügel des Spekulativen Realismus angesehen, trat in den vergangenen Monaten u.a. durch eine stark besuchte und stark kritisierte Berliner Konferenz in Erscheinung, sowie, in klassisch avantgardistischer Manier, durch die Publikation eines Manifests, in dem er sein Programm darlegte. Aram Lintzel, Publizist, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen und seit vielen Jahren Texte zur Kunst-Autor, nahm sich dieses in seiner taz-Kolumne vor und befand es für realpolitisch eher unbedarft bis feindlich gegenüber den Institutionen des politischen Prozesses. Die Autoren des Manifests Nick Srnicek und Alex Williams antworteten darauf im Verbund mit dem Herausgeber der deutschen Übersetzung, Armen Avanessian. Texte zur Kunst bat Lintzel und Avanessian nun zu einem Streitgespräch.
Philipp Ekardt: Vielen Dank, dass ihr euch zu diesem Gespräch bereit erklärt habt. Unsere Frage wäre, ob man euren Austausch über den Akzelerationismus via die TAZ [1] nochmal vertiefen und differenzieren kann. Es gibt zwei Tendenzen: Aram, du sagst dass das akzelerationistische Manifest [2] explizit noch einmal von der Frage der Realpolitik her zu lesen ist. Und du, Armen, sagst strategisch, ja – das Manifest das war 2013, aber als gute Avantgarde, die wir sind, sind wir heute natürlich schon längst weiter.
Aram Lintzel: Mir wäre es wichtig, zunächst über unsere Sprecherpositionen zu reden. Ich für meinen Teil bin hier weder als Privatier noch als Ex-Wissenschaftler oder als Hobbyphilosoph, sondern ausdrücklich als jemand, der im realpolitischen Raum arbeitet und sich als solcher von dem Manifest adressiert gefühlt hat, vor allem von einigen der mir doch sanft reformerisch anmutenden Forderungen. Umgekehrt ist mir Armens Rolle nicht klar: Bist du sozusagen Theorieimporteur, Botschafter oder Advokat des Akzelerationismus – ohne selbst Akzelerationist zu sein? So wie Malcolm McLaren kein Punk war, aber trotzdem historisch für Punk steht?
Armen Avanessian: Ich denke, wir könnten die unterschiedlichen Interessen im Gespräch auch fruchtbar machen. Ob ich ein Akzelerationist bin, darüber macht es erst Sinn zu diskutieren, nachdem wir über den Akzelerationismus als Phänomen geredet haben: Ob er auf einzelne Autoren oder Theoretiker zu beschränken ist oder ob das eine Tendenz ist, die man schon viel großflächiger verstehen kann und auch genealogisch in historischen Positionen verorten kann. Deswegen zur ersten Frage, die ich davon getrennt sehen würde, warum ich das Buch „#Akzeleration“ herausgegeben habe. In meiner Tätigkeit als Herausgeber interessiert mich eine bestimmte Theorie- und Philosophieströmung, nämlich der Spekulative Realismus, die ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit zum Teil auch kritisch sehe. Er hat sich aus einem kulturellen und akademischen Kontext in Großbritannien heraus entwickelt, der von einer Hegemonie von zwei sehr starken philosophischen Strömungen der 70er bis 00er Jahre geprägt ist, der analytischen Philosophie und dem, was man grob continental philosophy (also poststructuralism, cultural studies etc.) nennen kann. Die – ich will nicht Subversivität sagen – politische und auch analytische Kraft von dekonstruktiven Ansätzen und anderen war und ist für diese neuen Generation von spekulativen Theoretikern und viele andere nicht mehr ersichtlich. Dagegen wurden philosophische Ansätze entwickelt, die in Deutschland als apolitisch rezipiert wurden. Dass sie aber auch eine neue Generation an politischen Positionen angestoßen haben, die sich eben oft im Umkreis des Akzelerationsbegriffs bewegen, wollte ich als Herausgeber darstellen.
Lintzel: Der Grund, warum ich lieber über das realpolitische Programm des Akzelerationismus reden will, ist nicht, dass ich mich da zuständig oder kompetenter fühle als in den philosophischen Debatten, sondern die sehr dezidierten konkreten Forderungen oder Diagnosen in dem Manifest selber und in eurem TAZ-Artikel. Eine der vordersten, mit Dringlichkeit artikulierten Diagnosen des Manifests ist ja, dass der Klimawandel das drängendste Problem der Gegenwart ist. Das hat mich als jemand, der für die Bundestagsfraktion der Grünen arbeitet, natürlich interessiert. Aber außer dieser Diagnose kommt nichts mehr zu dem Thema. Und auch bei den Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung, wenn es um das emanzipatorische Potential von Automatisierung, Grundeinkommen etc. geht, ist es wenig nachvollziehbar, was daran denn nun eigentlich das „Akzelerationistische“ ist. Das Verhältnis von akzelerationistischer Theoriebildung und akzelerationistischer Politik bleibt ungeklärt. Wie folgt das eine aus dem anderen, hängt es überhaupt systematisch zusammen? Jedenfalls ergeben sich die politischen Forderungen nicht schlüssig aus dem theoretischen Apparat, das Grundeinkommen ließe sich genauso als „Entschleunigung“ der Ausbeutung von Arbeitskraft verstehen. Man könnte mit den Forderungen in diverse real existierende Parteien gehen, ohne sonderlich aufzufallen. Da frage ich mich: Warum dieses notorische Ressentiment gegen den realpolitischen Apparat, nach Meinung derjenigen, die das Manifest verfasst haben?
Ekardt: – also Nick Srnicek und Alex Williams.
Lintzel: Sätze wie „Die politische Vorstellungskraft ist gelähmt“, die Linke sei sozusagen komplett zukunftsvergessen und nostalgisch oder authentizistisch, klingen zunächst provozierend – letztlich aber treten sie ein totes Schwein, denn dass es keine „linken Utopien“ usw. gibt, wissen wir schon lange aus dem bürgerlichen Feuilleton. Neben einer leicht genervten Abwehrhaltung, die dann in meiner polemisch überspitzten TAZ-Kolumne im Vordergrund stand, gab es aber zugleich ein Wohlwollen. Ich habe mich darüber gefreut, dass die Institutionenfrage und die Organisationsfrage ausdrücklich gestellt wurden. Die kommen – da stimme ich den Akzelerationisten zu – in einer voluntaristischen Ausrichtung linker Politik zu kurz. Trotzdem bleibt die Frage: Sind es die gehemmten Potentiale des Kapitalismus, die all das, was im Manifest und in eurer TAZ-Replik ausgesprochen wird – radikale Verkürzung von Arbeitszeit, Grundeinkommen, Kampf gegen den Klimawandel – verhindern? Oder sind das andere Kräfte?
Avanessian: Bevor ich jetzt auf die konkreten Punkte eingehe, muss ich gleich mal sagen, dass ich weder klimatheoretisch forsche, noch ein Ökonom bin, noch leider – was ich in Zukunft mehr machen möchte – die Expertisen im Bereich der neuen Technologien habe. Ich glaube, Mark Fisher hat einmal gesagt „wir sind alle Akzelerationisten“. In dem Sinne würde es mich jetzt überhaupt nicht stören, wenn wir – statt immer nur negativ und dagegen zu argumentieren – auf einen gemeinsamen Nenner kommen und sagen „bestimmte Grundforderungen, die da plakativ drin stehen, teilen wir alle“. In meinem neuen Band sind zum Beispiel verstärkt Theoretiker und Theoretikerinnen aus dem Postoperaismo vertreten, die sich auch mit viel weitergehenden und detaillierteren Fragen an der Schnittstelle von politischer Theorie und Wissenschaft beschäftigen. Es gibt eine gemeinsame Agenda, ohne dass sie zur „Kerngruppe“ der Akzelerationisten gehören. Diese These oder Beobachtung, zu der ich auch stehe und in dem Sinne bin ich Akzelerationist, wäre, dass es – mich eingeschlossen, es ist auch eine Selbstkritik – überspitzt formuliert in der Linken eine Art von Analphabetismus in Sachen Technologie und Wissenschaft gibt und dass wir dafür einen hohen Preis zahlen, weil wir quasi unseren Gegnern das know how überlassen.
Lintzel: Was mich irritiert, ist dieses emphatische Zukunftsversprechen. Das akzelerationistische Versprechen, dass der Kapitalismus beherrschbar ist, ist das uralte sozialdemokratische Versprechen. Und gleichzeitig ist es die Suggestion eines aktuellen Diskurses, der in keinem akzelerationistischem Text, den ich kenne, Erwähnung findet, – ich meine natürlich den ganzen Diskurs um „Nachhaltigkeit“. Den kann und muss man sicherlich kritisch sehen, aber die aufreizende Ignoranz, mit der er in den einschlägigen akzelerationistischen Beiträgen bedacht wird, ist schon seltsam.
Ekardt: Das Nachhaltigkeitsdenken basiert natürlich auch auf einem anderen Stichworteinsatz, nämlich dem der Endlichkeit, der Ressourcenendlichkeit. Akzelerationismus ist eher ein Modell, das bei unbegrenzterer Erweiterbarkeit nach vorne ansetzt.
Lintzel: Dass die fossilen Ressourcen begrenzt sind, ist ja keine ideologische Konstruktion, sondern schlichtweg eine Tatsache. Aber Teile des Nachhaltigkeitsdiskurses setzen ebenso auf die Lösung der ökologischen Frage durch Entfesselung des technologischen Fortschritts... Es heißt im Manifest, „Am bedeutendsten ist der Klimawandel. In absehbarer Zeit ist der Fortbestand der Weltbevölkerung in Gefahr“. Und alles, was dagegen passiert, ist regressiv entschleunigend? Die Nachhaltigkeitsdebatte ist eine hochgradig technologische, die von Think Tank-Experten, Nerds, Technologen, NGOs, Politikern etc. geführt wird, von denen ich viele als links verstehen würde. Die sind nicht nostalgisch und technologievergessen. Was stimmt, ist dass in der Diskussion um „nachhaltige“ und früher so genannte „postmaterialistische“ Lebensstile die Frage nach der sozialen Verteilung materieller Ressourcen zu kurz kommt.
Avanessian: Auf die Gefahr hin jetzt zu vereinfachen, aber vielleicht hilft es ja die Frage nach unserem Verhältnis zu Technologien historisch aufzufächern. Was wir in einem jetzt gerade erschienenen englischen Sammelband [3] versuchen ist die Genealogie eines nicht-existierenden oder meist unterdrückten bzw. latent bleibenden Phänomens zu schreiben, und zwar indem man im Rückblick für Marx, aber auch schon für andere utopistische Theoretiker im frühen 20. Jahrhundert, eine akzelerationistische und wissenschafts- und technologieaffine Position aufzeigt. Oder dann im Frankreich der 70er Jahre, bei Lyotard, bei Deleuze: hier gibt es diese Idee, dass die Strategie mit dem Kapitalismus umzugehen, vielleicht gerade diejenige der Beschleunigung ist. Um Nick Land herum in Warwick in den 90ern, das wäre eine dritte historische Etappe, gibt es dann cybertechnologische Ansätze, die nicht notwendig linke sind, wo es aber die Vorstellung gibt, man müsse den zeitgenössischen Technologien nur einfach freien Lauf lassen oder sie sogar weiter pushen. Der Akzelerationismus wurde sehr stark über die dritte Phase, über dieses apokalyptische Weitertreiben rezipiert. Im Manifest drückt sich meiner Meinung nach schon der Unterschied zu Nick Land aus. Die Frage, die sich hier stellt, ist, wie lässt sich Beschleunigung denken als eine Form von positiver Dynamik, mit einem Moment von Navigation. Es geht um dieses emanzipatorische Element, das einer jeden linken Politik wichtig sein muss. Eine apokalyptische Tabula Rasa-Idee kann sich eine politische Linke heute, und ich glaube da sind wir uns einig, nicht leisten. Als theoretische Diskussion ist der Akzelerationismus also eine Alternative zu zwei momentan starken Strömungen: Das eine ist die naive Entschleunigungsdebatte, die für mich ein ganz starkes regressives Moment hat. Sie setzt gleich Moderne ist gleich Kapitalismus ist gleich fortschrittlich, und weil dieser ins Verderben führt, kann die Lösung nur Entschleunigung heißen.
Lintzel: Entschleunigung als die linksliberale Version, Blockade als die linksradikale.
Ekardt: Ihr seid euch also zumindest darüber einig, dass ihr nicht auf der Achse zwischen „Der (kommende) Aufstand“ und Manufactum liegt.
Avanessian: Ja, und der zweite ganz starke Flügel in der linken Theoriebildung zumindest im akademischen Bereich, ist diese verbalradikal linke Badiousche Variante, wo zahlreiche Formen von konkreter Politik als revisionistisch, als sozialdemokratisch usw. verunglimpft werden und dem nichts anderes übrig bleibt als auf leere Ereignisse zu starren – nicht nur im akademischen Alltag zeigt das oft seine völlige Harmlosigkeit ja radikale Angepasstheit. Deswegen ist mir das immer wichtig, zu fragen, wie wir gemeinsam daran arbeiten können. Die Polemik richtet sich nicht gegen die Think Tanks, sondern gegen das, was ich oder auch die Verfasser des Manifests, als Mainstream der politischen Theorie empfinden.
Lintzel: Die Idee, dass es eine positive Dynamik geben könnte und die Beschleunigung kontrollierbar sei, geht im Manifest einher mit einem extremen Planungsoptimismus. Dazu bin ich zu pessimistisch. Wenn ich nicht optimistisch genug bin, brauche ich aber jemanden, der im entscheidenden Moment die Notbremse zieht. Und ich glaube, dass die Akzelerationisten diese Notbremse ebenso eingebaut haben wollen: in Form autoritärer Strukturen, mit denen in den Texten geradezu frivol kokettiert wird. Wenn ich mir das Ergebnis einer akzelerationistischen Revolution hypothetisch vorstelle, dann steht da eine Art kommissarische Diktatur. Kann man das wollen? Das mag jetzt langweilig klingen, aber dann braucht man zumindest demokratische Prozeduren, die etwas, das äußerst rechtfertigungsbedürftig ist, irgendwie legitimieren. Das ist das, was ich nicht unbedingt apolitisch, aber zumindest postpolitisch und unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten problematisch finde: Einen techno-sozialen Apparat, der nur das Beste will und plant.
Avanessian: Obwohl ich dagegen bin, immer nur zu sagen was man schlecht findet an der Position des anderen, statt produktiv weiterzudenken, hätte ich doch die Frage, wie diese Notbremse funktionieren soll und über welche demokratischen Strukturen sie vermittelt wäre oder legitimiert ist. Mir ist auch nicht restlos plausibel, wie du das liest mit der Vertikalität. Ich hab es nicht schmittianisch gelesen, aber wenn das von denen so gemeint ist, was ich nicht glaube, dann wäre ich auch dagegen. Ich finde es aber viel produktiver, sich auf andere Aspekte zu konzentrieren und weiter nachzudenken, etwa dass es im Manifest heißt „uns geht es nicht im Sinn der alten Linken um ein Kapern des Staates“, sondern es gibt eine interessante Formulierung einer techno-sozialen Hegemonie. Das heißt die Frage ist: Wie kann man unter den gegebenen Bedingungen so etwas wie eine linke Hegemonie wieder herstellen und die vorhandenen Produktivkräfte, sorry für das marxistische Vokabular, sozusagen umprogrammieren? An diesem Punkt wären dann die konkreten Fragen zu stellen: Wie lassen sich die sozialen Medien, Neuformen der Geldpolitik oder des virtuellen Geldes auf eine Art und Weise aneignen, dass es dem Menschen zugutekommt und nicht nur dem Mehrwert irgendwelcher kapitalistischer Konglomerationen? Wir haben keine andere Möglichkeit, als auf dem Level unseres wissenschaftlichen und technologischen Stands zu neuen Antworten zu finden.
Lintzel: Du sagst: „Es gibt kein Zurück“. Der Akzelerationismus ist selbst ein rhetorisches Zurück. Die akzelerationistische Generalattacke gegen alle Nostalgiker kommt selbst nicht ohne Nostalgie aus: retrofuturistische Weltraumutopien und all das. Die politischen Forderungen sind teilweise altbekannt, ganz davon abgesehen, dass ich zum Beispiel das Grundeinkommen nicht als links bezeichnen würde. Es ist genauso gut neoliberal kooptierbar – Stichwort „schlanker Staat“. Und was soll das Problem daran sein, an alten Forderungen festzuhalten? Vielleicht ist die Diskussion etwa um den Mindestlohn eine Retrodiskussion; eine klassische Arbeitnehmerforderung aus den Zeiten des klassischen Wohlfahrtsstaates. Trotzdem ist sie wichtig, denn dieses „nostalgische“ Adressieren des Gesetzgebers ist einer neoliberalen Entregelung allemal vorzuziehen.
Avanessian: Für mich ist diese theoretische, politische, philosophische Strömung ein (für immer mehr, vor allem junge Leute nachvollziehbare) Versuch gegen die postmoderne politische Theoriebildung an bestimmte emanzipatorische, utopische, progressive Gehalte der Moderne anzuschließen. Das als nostalgisch zu bezeichnen, finde ich schwierig.
Ekardt: Ich hätte die Zwischenfrage: Warum bezieht sich diese linke Politik immer in einer bestimmten Art und Weise auf Zeitlichkeitsprobleme? Wenn man dieses Manifest liest, geht es immer um die „Zukunft“, man kommt an einen Punkt an dem man denkt, das Label Futurismus war schon vergeben, deswegen muss das jetzt Akzelerationismus heißen. Nolens volens steht der Akzelerationismus in dieser Genealogie, und das ist kein reines Benennungsproblem. Von Benjamin gibt es ein eben genau den sozialdemokratischen Progressismus kritisierendes Fragment im Passagenwerk, das sagt „Revolutionen sind nicht die Lokomotive der Weltgeschichte, sondern die Notbremse“, was interessant ist, weil da die Revolution genau zum Gegensatz eines progressistischen Modell gedacht wird. Warum also diese Rhetorik der Geschwindigkeit, Zeitlichkeit und Beschleunigung? Warum nicht, wie kürzlich der Kunsthistoriker TJ Clark, für eine „left without a future“ eintreten?
Lintzel: „Lost Futures“ heißt das erste Kapitel des neuen Buches von Mark Fisher, den Armen vorhin zitiert hat ...
Avanessian: Für mich ist es offensichtlich, dass zahlreiche akademische und nicht-akademische politischen Diskurse in einer Sackgasse stecken. Auf jeden Versuch, an den Pathos oder die Emphase der Aufklärung oder das Versprechen der Moderne anzuschließen, mit dem Vorwurf zu reagieren, das sei nostalgisch oder das sei rationalistisch und führe ins Verderben, ist, glaube ich, nicht die Lösung für unsere Probleme. Zur konkreten Frage nach der Zeit ein kurzes Zitat von Marx aus dem Merve-Buch: „Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf“. Das Ganze ist ein Zeitproblem. Es ist ja nicht so, dass wir in einer langsamen, irgendwie stockenden Wirklichkeit leben, sondern Geschwindigkeit ist ohnedies das allgemeine Empfinden unserer Gegenwart.
Ekardt: Vielleicht ist es eine kollektive Selbsttäuschung. Neue Technologien beschleunigen einiges, aber retardieren anderes auch vollkommen. Siehe z.B. soziale Netzwerke.
Avanessian: Ich glaube schlicht und einfach, dass die Art und Weise, wie soziale Netzwerke wie Facebook wiederum kapitalisiert werden, dass wir immer mehr nach dem Modell der creative industries arbeiten, dass wir unsere Selbstausbeutung immer weiter führen, die Einkommen real weniger werden, aber die Arbeitsdauer immer mehr, weil es keine Grenze mehr gibt zwischen Arbeit und Privatleben – dass all das Geschwindigkeitseffekte sind. Die Frage ist sozusagen, wem nützen etwa das Wissen und die Fähigkeiten, die wir in den sozialen Netzwerken anwenden oder überhaupt erst in uns hervorbringen? Führen die Algorithmen zu tatsächlichen neuen sozialen Kooperationsformen oder nur zu effizienteren Überwachungs- und Werbemaßnahmen – das sind politische Fragen, die der Akzelerationismus stellt.
Ekardt: Das ist doch kein Zeitproblem, das ist ein Verteilungsproblem, ein Problem der Aneignung von Werten und Wissen.
Avanessian: Das ist eine philosophische Frage, ob man irgendein Problem außerhalb der Anschauungsform von Raum und Zeit überhaupt denken kann.
Ekardt: Das kommt mir jetzt sehr spitzfindig vor...
Avanessian: Im Kontext der Spekulation über Zukunft nachzudenken, impliziert eine rationale Imagination einer anderen Zukunft und zwar innerhalb eines ich würde sagen spekulativen Zeitmodells, von dem aus man zurück blickt auf unsere Gegenwart und nur deswegen andere Modelle für die Gegenwart entwickeln kann. Das ist genau das Gegenteil von einem Zurückgreifen auf Modelle der Vergangenheit. Ich möchte es jetzt mal umdrehen, einfach, weil ich auch etwas lernen will: Was sind denn die aktuell parteipolitischen Mittel? Welchen Rückhalt haben die angewandten demokratischen Mittel in der Bevölkerung? Wie funktionieren die Gewerkschaften? Funktionieren die?
Lintzel: Wenn du meinst, dass die Gewerkschaften nicht funktionieren, ist das kein Argument gegen die Gewerkschaften, sondern eher ein Argument für einen radikalen Reformismus. Ich wollte zunächst noch etwas ergänzen, weil du, Philipp, netterweise den Futurismus erwähnt hast. Mich hat tatsächlich der Gestus des Manifestes, dieser Ekel vor der Langsamkeit und Langeweile und Langatmigkeit von Demokratie, sehr wohl auch an den futuristischen Gestus erinnert, deswegen habe ich auch immer wieder ein Problem damit, wenn umstandslos behauptet wird, dass es sich um eine linke Bewegung handelt. Mir ist das Eingeständnis, dass Demokratie etwas Brüchiges, Langatmiges und niemals Vollendetes und Vollkommenes ist, tausendmal lieber als ein prometheisches, mackerhaftes Machbarkeitsgetue. Das erinnert mich nicht zuletzt an Neo-Leninisten wie Slavoj Žižek, die wie du vorhin das identitätspolitische Klein-Klein der Postmoderne ablehnen, weil eine Politik der kulturellen Unterschiede angeblich zu nichts geführt habe.
Avanessian: So habe ich es nicht gesagt.
Lintzel: Aber wenn man so will ist Inklusion, gegen die sich das Manifest wendet, auch ein identitätspolitischer issue. In wegwerfender Geste wird Inklusion da als Fetisch vom Teetisch gefegt. Verbunden mit dem Flirt mit Autoritäten hat mich das tatsächlich sehr an Žižek erinnert, für den identitätspolitische Debatten nichts anderes sind als ein manisches Herumreden um den heißen Brei.
Avanessian: Wenn es darum geht, heute an die Moderne anzuschließen, muss man einen bestimmten Universalismus, einen bestimmten Rationalismus wieder stark machen gegen diesen defensiven und sich nichts zutrauenden –
Lintzel: Aber der akzelerationistische Universalismus ist amputiert, weil die angestrebte „techno-sozialen Planung“ blind ist für kulturelle Kämpfe, die sich um das „Wie wir leben wollen“ drehen. Man kann doch nicht so tun, als gäbe es Baden-Württemberg nicht, als gäbe es Frankreich nicht und einen bestürzenden backlash was die Emanzipation und Inklusion von Minderheiten angeht. In solchen Auseinandersetzungen ist man allein mit technologischer Akzeleration nicht wirklich interventionsfähig.
Avanessian: Es geht doch nicht darum mit technologischer Akzeleration sozusagen die Auswüchse der Neonazis zu bekämpfen.
Lintzel: Es geht mir nicht um die Neonazis, sondern um Kämpfe um kulturelle Hegemonie und ideologische backlashs von Rechts. Das „Zurück“ wird einem von den neuen Reaktionären aufgezwungen, und da gibt es keinen einfachen „akzelerationistischen“ Sprung hinaus ins Offene. Eine sich als links begreifende Theoriebewegung muss dazu „sprechfähig“ sein, wie es im realpolitischen Raum so schön heißt.
Ekardt: Darf ich versuchen zu vermitteln? Ich habe den Eindruck, dass es letztlich Punkte gibt, wo man sich besser verstehen könnte, zum Beispiel die Frage der Vertikalität. Im Manifest ist das immer gesetzt gegen das Netzwerk, und gar nicht so sehr gegen die Demokratie geschrieben, glaube ich. Z.B. These 14: „Das Gebot des Plan muss mit der improvisierten Ordnung des Netzwerks versöhnt werden“. Wenn man sagt, Netzwerk steht metonymisch für Selbstorganisationsprinzipien, dann ist das doch erstaunlich commonsensical und sagt vielleicht eher, „Leute, ihr könnt euch wirklich nicht immer alle selbst organisieren, es muss auch planende Instanzen geben.“ Dann stellt sich die Frage wie legitimiert man die, wie kontrolliert man die, und da ist man in der Realpolitik, wo man das theoretische oder rhetorische Extra des Ganzen nicht mehr generieren kann, vielleicht auch nicht muss. Andererseits gibt es auch die relativ berechtigte Kritik, wenn ein Manifest schreibt „ich setze auf das Universale“, auf die Situation hinzuweisen, dass wir schon einmal in so einer Lage waren, und das eine ganze Menge Probleme generiert hat. Nämlich diejenigen des Universalismus, der die Differenz einfach einkassiert hat. Das war nicht schön.
Avanessian: Wie schon mehrfach gesagt: ich finde es gibt bessere Strategien als jetzt wie in einem akademischen Seminar nur einen Text zu filetieren. Aber in der Tat sehe ich in der Realpolitik keinen Fortschritt, au contraire, ich sehe ein Desaster. Ich habe das Manifest nicht geschrieben, aber mich interessiert, eine bestimmte politische, theoretische Diskussion wieder anzuleiern, die für mich verstockt war zwischen Badiou und feel good-Linker mit ihrem affektiven Scheinargument „wir tun ja zumindest irgendetwas“.
Lintzel: Wenn du sagst, es geht um Desaster: Es gibt ein Scheitern von Demokratien und eine Unfähigkeit, wenn es darum geht – ich sage das jetzt so hypostasierend wie es im Manifest steht – „das Kapital“ zu bändigen. Demokratische Staaten sind erpressbar geworden. Aber dieser Fehlbarkeit und dem jeder demokratischen Realpolitik unter globalisierten Bedingungen eingeschriebenen Scheitern entfliehen zu wollen, indem man Beherrschbarkeit, Machbarkeit, Planung verheißt, ist mir unheimlich.
Avanessian: Aber wie ließe er sich denn bändigen?
Lintzel: Das weiß ich nicht.
Avanessian: Aber der gegenwärtige Akzelerationismus hat dazu ja einen Vorschlag, dass der gegenwärtige Kapitalismus sich bändigen oder steuern ließe, nur eben über andere rein politische Manifestationsformen, über eine positive Dynamik, ein Umdenken, eine emanzipatorische Umgestaltung des technosozialen Körpers. Warum sollte denn das keine Möglichkeit sein? Deswegen haben akzelerationistische Theorieansätze ja auch so viel Interesse auf sich gezogen. Weil es anscheinend fruchtbar ist, mit einem wirklich progressiven, optimistischen Gestus aufzutreten und – statt ständig nur negativ zu argumentieren – zu sagen „es lässt sich etwas machen“.
Ekardt: Wie denn?
Avanessian: Das würde mich interessieren – ist das eine nostalgische Geste, nur weil es einmal Revolutionäre gab und das ist im Gulag geendet ist? – Kann man dann zu jedem Versprechen an die Zukunft sagen, das führt sozusagen in den Gulag?
Ekardt: Das habe ich nicht gesagt, mein Ansatz wäre eher: Allein auf Fortschritt zu setzen reicht leider nicht. Man müsste von Anfang an versuchen, das Korrektiv mitzudenken. Sprich: Ihr ignoriert einfach die Notwendigkeit von Rationalitätskritik.
Avanessian: Nein, es gibt dazu viele Überlegungen das mitzudenken, demnächst auch eine ganze Workshopreihe zu genau diesen Fragen am HKW [4]. Vielleicht kann man das, was wir – setze ich mal voraus – alle wollen, präziser fassen, wenn man es nicht als Bändigung und Bremsung versteht, sondern als Umgestaltung der Möglichkeiten, die durch Technologie usw. da sind. Ich suche wirklich nach dieser Gemeinsamkeit in unserer heutigen Diskussion – statt dem anderen Fehler zu unterstellen könnte man ja auch mithelfen diese zu bereinigen. Letztlich diskutieren wir hier ja auf der Basis eines minimalen Dissenses und haben ziemlich ähnliche Probleme und politische Ziele, schätze ich mal. Ist in diesem Sinne nicht auch das Interesse an dem Akzelerationismus ein Zeichen dafür, dass es auch eine optimistische Form von linker Politik gibt?
Lintzel: Ja, aber als linke Partei stößt man da früher oder später auf Widersprüche und das Paradox des Plans, welches in dem Manifest einfach ausgeblendet wird. Wie lässt sich kollektive Selbstbestimmung planerisch erreichen? Durch den Plan schränke ich die Freiheit der kommenden Generationen, in deren Namen ich agiere, automatisch ein. Das ist ein demokratietheoretisches Problem, das im Text nicht thematisiert wird.
Avanessian: Aber mit welcher Grundstrategie können wir die Umweltprobleme usw. lösen, wenn wir nicht, und da bin ich Akzelerationist, wenn wir nicht folkloristische Positionen beziehen und uns in regressive Phantasien eines Rückzugs aus der technologischen Gegenwart flüchten wollen?
Lintzel: Wie gesagt, das ist mir zu einfach. Die ganze aktuelle Diskussion um Erneuerbare Energien usw., das ist ja ein technizistischer und alles andere als zivilisationsfeindlicher Diskurs. Und die Nische muss nicht immer ein Baumhaus irgendwo im Wald sein. In den neuen akzelerationistischen Texten, die ich kenne, werden die Nische und das Lokale allzu schlicht gegen einen Universalismus ausgespielt wird. Damit verkennt man die Chancen der Nische. Dabei scheint mir der strategische Vorschlag der Akzelerationisten gar nicht so weit entfernt zu sein von der Idee, sich in sehr spezielle und spezifische Kommunikationsmilieus zurückzuziehen, dort etwas auszuprobieren und dann von dort aus im nächsten Schritt eine Hegemonie durch globale Vernetzung aufzubauen. Die Aussage aus eurem TAZ-Artikel „lokalistische Nischensuche ist kein Weg“ kommt mir da gewissermaßen etwas undialektisch vor.
Avanessian: Vielleicht klingt das jetzt etwas kantianisch, aber von den politischen Optionen, die man für sich selber wählt, muss man doch hoffen können, dass sie generalisierbar sind. Ich bin nicht dafür, die Nischen sozusagen auszuräuchern, nur sind sie keine Lösung. Den Vorwurf wirst du kennen in der ökologischen Bewegung: dass diese Nischenpolitik sehr bürgerlich konnotiert, nicht wirklich massenfähig und nicht ausreichend emanzipatorisch ist. Mich würde wirklich interessieren, wie laufen die Debatten in den Parteien ab: Werden Think Tanks gebremst an einem bestimmten Zeitpunkt, oder haben die die richtigen Ergebnisse, aber werden nicht umgesetzt?
Lintzel: Das Problem ist jedenfalls nicht zu wenig Wissen, sondern etwa lobbyistische Interessenpolitik – in Deutschland etwa der Kohlelobby. Bestimmte von ideologischen oder materiellen Interessen geprägte Blockaden lassen sich nicht dadurch beseitigen, dass ich akzeleriere und noch mehr Wissen generiere. Der Vorwurf des „politischen Stillstands“ ist populistisch und tendenziell demokratiefeindlich.
Ekardt: Braucht man den Akzelerationismus vielleicht als Geste oder als Intervention von außen in den politischen Prozess?
Avanessian: Das klingt sozusagen gut als versöhnliches Schlusswort, aber ich fände es gefährlich, den Akzelerationismus als eine rhetorische Irritation, die immer mal wieder erfrischend interveniert, zu verstehen. Die Frage ist schon grundsätzlicher. Ein anderer konkreter Punkt ist der mit der Arbeitszeit – was sind denn die materiellen Gründe, die die Kohlelobby so stark macht? Sind das Fragen der Arbeitslosigkeit? Da müssten wir das Gesamtpaket weiter diskutieren.
Lintzel: Ah, Arbeit! Jetzt sind wir schon wieder beim nächsten Thema, aber eigentlich zugleich am Schluss. Es gibt ja diesen Satz im Manifest, der lautet „Wir alle wollen weniger arbeiten“. Das steht da als unumstößliche Wahrheit. Aber halt – jetzt müsste ich eigentlich auch etwas Versöhnliches sagen.
Avanessian: „Jetzt müsste ich auch etwas Versöhnliches sagen“ – Das ist doch ein gutes Schlusswort.
[1] Aram Lintzel, „Rein in den Schlamassel“, TAZ, 14.01.2014; und die Replik von Armen Avanessian, Nick Srnicek und Alex Williams, „Zukunft, was war das noch?“, TAZ, 04.02.2014
[2] Nick Srnicek und Alex Williams, „#Accelerate. Manifest für eine akzelerationistische Politik“, in: Armen Avanessian (Hg.), #Akzeleration, Berlin: Merve, 2013.
[3] #Accelerate, hrsg. v. Robin Mackay und Armen Avanessian, Falmouth 2014