TWO-FACTORED PRIVACY Hanna Fiegenbaum über Alfred d’Ursel bei dépendance, Brüssel
In den meisten Fällen steigen wir fast unwillkürlich mit der Frage in die Bildbetrachtung ein, was es denn hier zu sehen gebe. Und warum sollte es auch anders sein; ein Bild schließt immerhin etwas in den Grenzen seiner Fläche ein. Die Handlung der Selektion, und sei sie auch noch so arbiträr, ruft geradezu danach, dem Warum und Was und Wie des Ausgewählten nachzugehen. Bilder werden gern in ihrer Funktion, etwas sichtbar zu machen, diskutiert. Es sei denn, Entstehungs- und Gebrauchsgeschichte des Bildes, seine Kontextualisierung oder spezifische Themen geben Anlass, den Bildausschluss ausführlicher zu befragen. Zuletzt stößt auch das Bild selbst solche Fragen nach dem, was in ihm alles nicht gesehen werden kann, an. Etwa, wenn es selbst – implizit oder explizit – seinen eigenen Ausschluss thematisiert. Wenn Dinge im Bild verdeckt werden, verzerrt, ausgelöscht, verdunkelt, überstrichen, durchgestrichen, unkenntlich gemacht werden, oder gar nicht erst in die Szene des Sichtbaren gelangen. Wenn es also zum Bild und seinen Eigenschaften oder zu den es konstituierenden Handlungen gehört, dass hier etwas versteckt wird oder dass Erkenntnis erschwert oder gar verunmöglicht wird. Dies fordert geradezu dazu auf, über das Verstecken und Verdecken und das im Bild nicht Sichtbare zu sprechen. Dann fühlt der Diskurs um das Bild sich aufgerufen, etwas zum im Bild Versteckten sagen zu müssen. Bilder können ihre Diskurse durch ihre Bildtechniken und Bildpotenziale durchaus anleiten, ähnlich wie die Sprachhandlungen der Poesie und Prosa auch.
Die mittelgroßen Malereien von Alfred d’Ursel, einem belgischen Künstler, die im Rahmen seiner Solo-Ausstellung „La Queue Cassée“ in der Galerie Dépendance in Brüssel zu sehen sind, führen nicht nur durch ihre Darstellungsweise und Technik eine Handlung des Verdeckens vor. Sie führen die Betrachter*innen nicht nur zunächst hinters Licht, sondern lassen sie auch im Moment des Entdeckens im Dunkeln stehen. Privatheit wird hier, im Geist der Zeit, zweifach faktorisiert.
Mit viel Abstand betrachtet, wirken d’Ursels Malereien gleichsam wie ein schwarzer Vorhang aus Öl, von dem wir nur den unteren Rand sehen und wie er den dunkelgrauen Boden berührt. Die dunkle Farbe hängt wie ein samtig-nebliges Tuch über dem Holz des Bilduntergrunds. Bewegen wir uns um das Bild herum, begutachten wir das Bild im Licht von Nahem, nimmt der Bildinhalt figürliche Gestalt an. Von dem dunklen Vorhang heben sich durch geringe Abstufungen der schwarzen Farbe zwei Äffchen ab. Die beiden Affen bewegen sich vor verdunkeltem Hintergrund in verschiedenen Stellungen durch die Malereien d’Ursels, fast wie durch ein Daumenkino. Zunächst sitzen sich die beiden gegenüber, dann posieren sie einmal wie ein längst eingespieltes Paar, auf ihre Arme gestützt, dann wieder wie Models im Badeanzug beim Fotoshooting, später erscheinen sie erbost im Streit, und zuletzt steckt ein Affe dem anderen seinen Finger in den Mund, möglicherweise, um ihn zum Schweigen zu bringen. Während der theatralen Situationen bleiben die Beiden immer im Bildvordergrund auf derselben Höhe. Nimmt man Abstand vom Bild und die geringen Farbdifferenzen im Schwarz aus der Distanz wahr, verschmelzen diese allerdings zu einem einzigen dunklen Untergrund, sodass die Äffchen wieder hinter ihrem Vorhang verschwinden. Abhängig von der Position der Betrachter*innen und dem unterschiedlichen Lichteinfall bewegen sich die Tiere vor oder hinter jenen imaginären Vorhang. Dieser Effekt sowie die Posen der Äffchen unterstreichen das Theatrale der Bildsituation, denn auch im Theater betreten, mit Ausnahme der Proben, die Darsteller*innen dann die Bühne, wenn ein Publikum anwesend ist.
Es ist viel Bewegung zwischen den beiden Affen-Figuren; sie wirken mal ernsthaft involviert, dann wieder fast lächerlich. Obschon deren dialogische Handlungen auf einem lebendigen Spektrum von kontrovers zu konziliatorisch zu rangieren scheinen, entstammen die Posen und Gesten der Tiere doch nur teilweise den Codizes menschlicher nonverbaler Kommunikation. Posieren die Tiere im Bild auf ihre Ellbogen gestützt liegend wie alte Herren am Strand, dann wirken die Affendarstellungen wie menschliche Karikaturen. Wenn jedoch auf einem Gemälde ein Affe dem anderen nachstellt, können Betrachter*innen dies auch als Balzgerangel zwischen Primaten einordnen. Die Interaktionen sind ohnehin nur in Form von einzelnen Szenen oder Ausschnitten gegeben, sodass Rückschlüsse auf deren Kontext vage bleiben müssen. Hinzu kommt, dass die wie auch immer posierenden Figuren in als geschlechtslos präsentierten Affenkörpern agieren. Ihre Sozialität sowie deren Entzifferung wird also schon dadurch entrückt und den Betrachter*innen erschwert, dass sie ihnen zweifellos ein anderes sozial-kognitives Make-up unterstellen muss als sich selbst. Hier ähnelt die Situation der Betrachter*innen der vor einem Affengehege im Zoo; vor d’Ursels Malereien rücken sie in die Position von Verhaltensforscher*innen, die sowohl Gemeinsamkeiten als auch Differenzen im Verhalten der dargestellten Figuren studieren. Die Situation „erbt“ damit zudem etwas von der Gewalt des Exponierens, die dem ausgestellten Studienobjekt angetan wird. Die Aktivität und die sichtliche Komfortabilität der Tiere im Bild wirken diesem Eindruck jedoch entgegen, ihre Haltung erscheint teils indifferent und teils im aktiven Einverständnis mit der Situation, als gefiele ihnen die Rolle der Bild-Models durchaus gut. Abhängig vom Bild können die Betrachter*innen den Tieren also mal mehr und mal weniger Bildbewusstsein unterstellen. Aus dieser Mehrdeutigkeit ergibt sich eine changierende Identität der Äffchen zwischen Tier und menschlicher Karikatur.
Ein Dialog-Zitat aus dem Theaterstück Les Bonnes (Die Zofen) Jean Genets aus dem Jahr 1947 begleitet als gedruckter Text die Ausstellung und ist im Galerieraum ausgelegt. Das Stück Genets führt die Situation zweier Schwestern auf, die als Dienstmädchen in einem bürgerlichen Haushalt beschäftigt sind. Durch Intrigen haben sie den Hausherrn bereits ins Gefängnis gebracht, und nun planen sie die Vergiftung der Dame des Hauses. Als der Plan misslingt, vergiftet eine Zofe stellvertretend sich selbst. Zwischen gleichgeschlechtlicher Liebe, Erotik, Lügen und Hass gegenüber ihrer Herrin und sich selbst pendelnd, durchwandern die Protagonistinnen im Stück die Emotionen einer erzwungenen und ausweglosen Privatheit und Intimität. Nicht nur die Theatralität des Stücks nehmen d’Ursels Malereien in ihrer Motivik der beiden Affen vor dem Vorhang auf. Auch das Thema der vertrauten Privatheit sowie der Wanderung durch ein Spektrum von Emotionen findet sich in deren Interaktionen. Die Bilder verschlüsseln die dargestellte Intimität durch die malerische Technik sowie die Gestalt der Affen aber zusätzlich. Für die Betrachter*innen führen die Malereien d’Ursels über einen verdunkelten Pfad in den Mikrokosmos der Äffchen. Lassen sie sich auf deren wie auch immer düster verwegene virtuelle Realität ein, ist das ähnlich wie in Genets Stück als Besucher*in die Treppe zu den Zofen hinaufzusteigen: Die Schwestern und ihr neuer Plan warten bestimmt, aber so ganz versteht man sie und die Logik ihrer Intrigen nicht.
Verwirrend an d’Ursels Bildern ist also, dass auch das, was wir dann sehen, wenn wir hinter ihren Vorhang schauen, uns im Dunkeln lässt. Selbst das, was sich als figürliches Geschehen enthüllt, verhüllt noch viel. Zwei schwarze Affen verhalten sich zueinander, teils scheinen sie wie in einen Streit verwickelt, teils ins Gespräch vertieft, dann aber wissen wir gar nicht, ob sie überhaupt sprechen können. Wir sehen sie zunächst in symmetrischem Einverständnis, dann voneinander verwirrt. Sie umhüllt eine Intimität, deren Dimensionen uns zu Teilen verborgen bleiben. Um erkennen zu können, müssen wir kennen: Auch diese zweite Dimension bildlicher Sichtbarkeit, den Alphabetismus der Betrachter*innen in Bezug auf die im Bild gesprochene Sprache, thematisieren die Bilder d’Ursels. Maximale Privatheit herrscht da, wo wir auch das, was hinter dem Vorhang passiert, in seiner Bedeutung erst gar nicht entziffern können.
„Alfred d'Ursel: La Queue Cassée“, dépendance, Brüssel, 5 November bis 17. December 2022.
Hanna Fiegenbaum ist Autorin und erforscht die Governance von Maßnahmen zum Biodiversitätsschutz. Momentan ist sie Co-Leiterin eines Community-basierten Renaturierungsprojektes.
Image credit: Courtesy of the artist and dépendance, Brussels, Foto: Alice Pallot