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OBJEKTBEZIEHUNGEN IN SEPIATÖNEN Isabelle Graw über Birgit Megerle in der Galerie Neu, Berlin

„Birgit Megerle: Bond“, Galerie Neu, Berlin, 2023, Installationsansicht

„Birgit Megerle: Bond“, Galerie Neu, Berlin, 2023, Installationsansicht

Das über die schriftstellerische Arbeit der Kunstkritiker*innen generierte symbolische Kapital übersetzt sich unter den gegenwärtigen Bedingungen des Kunstmarktes immer seltener in wirtschaftlichen Erfolg der gerühmten Künstler*innen. Ein Grund hierfür mag, wie es Isabelle Graw in ihrer Rezension von Birgit Megerle jüngster Ausstellung in der Galerie Neu darlegt, darin liegen, dass eine neue Käufer*innenschaft von spekulativ Sammelnden in erster Linie auf schnelle Wertsteigerung zielt, die sich von den Wertzuschreibungen der Kunstkritik, die sich in Reviews wie dieser artikuliert, weitestgehend gelöst hat. Dennoch stellt Graw in ihrer Besprechung von Megerles das symbolisch Bedeutsame der detaillierten Gemälde von Megerle in den Mittelpunkt, die um Selbstbestimmung und Subjektkonstitution kreisen und dabei Melanie Kleins Überlegungen zu Objektbeziehungen zu visualisieren scheinen.

Jetzt nehme ich schon zum dritten Mal Anlauf, um eine möglichst exemplarische Rezension für unsere „Reviews“-Ausgabe zu schreiben, die idealiter auch meine Herangehensweise reflektiert. [1] Als Gegenstand habe ich Birgit Megerles Ausstellung „Bond“ in der Galerie Neu in Berlin gewählt, die mich schon hinsichtlich ihrer Ausstellungsarchitektur überzeugt hat. Mithilfe von drei versetzt zueinanderstehenden, pastos in Beige und Grau bemalten temporären Wänden hat Megerle eine Installation geschaffen, die ihr malerisches Programm perfekt transportiert. Denn auch für die gezeigten Porträts hat sie auf eine gedämpfte Palette in Rosé- und Grüntönen zurückgegriffen, wodurch die dargestellten Figuren zugleich auf- und zurückzutreten scheinen, ähnlich wie in einigen Porträts der Malerin Sylvia Sleigh. Hinzu kommt, dass in Megerles Gemälden auf der Motivebene einige Einsichten der Psychoanalytikerin Melanie Klein anklingen, was mich als Anhängerin von Kleins Metapsychologie natürlich besonders begeistert. Es gilt nun allerdings herauszufinden, inwieweit ich Kleins Ideen nur in Megerles Porträts hineinprojiziere, oder ob Letztere tatsächlich ein wenig „kleinianisch“ sind. Doch ebenso treibt mich um, dass „Bond“ nach meiner Beobachtung hauptsächlich von Künstler*innen, Kritiker*innen und Kurator*innen geschätzt wurde, ohne dass es im kommerziellen Sektor mit gleichem Enthusiasmus aufgenommen wurde. Die nun folgende Rezension habe ich in der wahrscheinlich naiven Hoffnung verfasst, dass sich das ökonomische Geschehen doch noch nicht vollständig von den Werturteilen der Kritik abgekoppelt hat. Zwar ziele ich in erster Linie darauf, meinem Gegenstand – also Megerles Gemälden – angemessen Rechnung zu tragen; im Zuge dessen möchte ich aber auch dem schwindenden Einfluss des Symbolwerts in bestimmten Segmenten des Kunstmarktes etwas entgegensetzen.

Aber der Reihe nach: Nehmen wir Megerles Porträt Interrelations als Beispiel für meine These, dass Melanie Kleins Überlegungen zu „Objektbeziehungen“ hier anklingen. Auf diesem Bild ist eine dunkelhaarige Frau im altrosafarbenen Kleid zu sehen, die ein omnipotent anmutendes blondes Kleinkind auf dem Schoß hält. Dieses Kind drängt sich massiv in den Vordergrund und scheint sich energisch von seiner Mutter wegzubewegen. Statt die Mutter-Kind-Beziehung in der Tradition Raphaels als etwas nur Inniges und Symbiotisches darzustellen, legt Megerle den Akzent auf die bei Melanie Klein stets hervorgehobenen Ambivalenzen und Aggressionen in der Beziehung zwischen dem Kleinkind und dem*der Caretaker*in. Das Kind verschmilzt hier nicht mit seiner Mutter, sondern löst sich schon aufgrund seiner monströs anmutenden Übergröße von ihr. In Megerles Porträts wird durchgehend demonstriert, dass sich Subjekte nur im Rahmen von komplexen Beziehungen oder, mit Klein gesprochen, im Rahmen von auch negative Gefühle umfassenden „Objektbeziehungen“ konstituieren. Sei es, dass die Figur Alain Delons den „kleinen Bruder“ in Anlehnung an eine Szene aus Viscontis Rocco und seine Brüder so schützend wie paternalistisch an sich drückt (Care IV); sei es, dass eine junge Frau im Trenchcoat (Caprice) die Gegenwart nicht nur wohlmeinender Personen durch ihr wissendes Lächeln bezeugt: Immer sind Megerles Subjekte auf komplexe und konflikthafte Weise miteinander verbunden oder aufeinander bezogen. Ein Subjekt zu sein setzt bei Megerle die ambivalente Bezogenheit auf andere voraus – ganz so wie bei Klein.

Birgit Megerle, „Interrelation“, 2023

Birgit Megerle, „Interrelation“, 2023

Dazu passt, dass Megerle den Outfits der von ihr Porträtierten mindestens ebenso viel malerische Aufmerksamkeit schenkt wie ihren Beziehungsdynamiken. Schon an sorgfältig gemalten Falten, Stoffen und Texturen – etwa im hellblauen Kittel des omnipotent anmutenden Kindes in Interrelation – wird deutlich, dass die Kleidung bei Megerle eine zentrale Rolle spielt. Angefangen beim gerippten Pullover Alain Delons in Care IV bis hin zum glänzenden Trenchcoat der jungen Frau samt Pullover mit Lochstrickmuster in Caprice: Kleidung ist bei Megerle eine abstrakte malerische Zone. Doch anders als bei den klassischen modeaffinen Maler*innen des 19. Jahrhunderts, wie Édouard Manet oder Berthe Morisot, steht bei ihr nicht die Demonstration malerischer Virtuosität im Vordergrund. Die Kleidung ist vielmehr als Index ihrer Zeit zu lesen (Delon trägt einen typischen 1960er-Jahre-Pulli). Auch die Sepiatöne erinnern an den fotografischen Ursprung dieser Porträts. Zugleich haben Delons Pullover und der Trenchcoat in Caprice aber auch ein modisches Update durchlaufen. Sie lassen keinen Zweifel an ihrem Gegenwartsbezug. Geschichte und Präsenz fließen ineinander.

Wie anfangs bereits erwähnt, hat Megerle drei in hellen Beige- und Grautönen bemalte Wände im Raum gestellt positioniert, was ihr zu mehr Hängefläche verhilft. Diese Wände standen in der Ausstellung versetzt zueinander, sodass der Betrachterin beim Betreten des Raums die freie Sicht auf die Gemälde verstellt war. Ich bahnte mir also den Weg zu den Bildern durch diese zum Teil leeren Flächen, die mich an grundierte Leinwände erinnerten. Diese Wände scheinen mir symbolhaft für Megerles figurative Bildsprache zu stehen, die ihren Gegenpol – die leere abstrakte Bildfläche – stets mitliefert. Jedes Porträt weist zum Beispiel einen Hintergrund auf, der als abstrakte Zone oder als Landschaft gelesen werden kann. So wird in Midi – einem verkappten Selbstporträt – der Hintergrund durch das Motiv eines kubistisch anmutenden dichten Blätterwaldes gebildet. Auch die leinwandartigen temporären Wände greifen den malerischen Topos des „Bildes im Bild“ auf, der sich in Megerles zentralem Gemälde Signs (2023) findet. Es handelt sich dabei um ein Protestbild in Pastelltönen, das zum Teil maskierte Demonstrant*innen zeigt, die gegen die kürzliche Aufhebung des Urteils „Roe v. Wade“ durch den United States Supreme Court und für das Recht auf Abtreibung protestieren. Schilder mit Botschaften wie „MY BODY MY CHOICE“ oder „POWER EQUALITY JUSTICE“ werden von diesen gespenstisch anmutenden Figuren hoch gehalten, darunter findet sich aber auch ein leeres Plakat ohne Text. Dieses stumme Schild – ein abstraktes „Bild im Bild“– setzt sich meines Erachtens in den bemalten Wänden fort. Es wirkt so, als würden leere Flächen den Lärm der Textbotschaften in Signs (und die laute figurative Bildsprache im Allgemeinen) analog zu den zurückgenommenen Farben etwas dämpfen.

Birgit Megerle, „Signs“, 2023

Birgit Megerle, „Signs“, 2023

Indem Signs Slogans wie „Power Equality Justice“ in den Galerieraum überführt, werden darüber hinaus die Probleme der Kunstwelt greifbar: Denn in diesem Milieu gibt es bekanntlich weder Gleichheit noch Gerechtigkeit. Signs artikuliert den Protest aber in sanften Pastelltönen (Hellrosa, Hellgrün), was signalisiert, dass dieser Protest zu den Bedingungen der Malerei erfolgt. Dass schräg gegenüber von Signs das bereits erwähnte Mutter-Kind-Bild Interrelations platziert wurde, ist dabei kein Zufall. Durch diese räumliche Nähe wird deutlich gemacht, dass es durchaus möglich ist, sich für die Psychodynamiken der Mutter/Caretaker*innen-Kind-Beziehungen zu interessieren und zugleich das Recht auf Abtreibung zu verteidigen. Was widersprüchlich anmutet, gehört hier sichtbar zusammen.

Auch Megerles bereits erwähntes verkapptes Selbstporträt Midi ist in gedämpften Farben gehalten. Zu sehen ist eine Figur in einer hellrosa Strickjacke, die einen violett-pastellfarbenen Hut trägt und die Betrachterin aus dem Augenwinkel ansieht. Die eigentümlich „trockene“ Anmutung dieser schrägen Perspektive erinnert in ästhetischer Hinsicht an die Porträts von Philipp Otto Runge. So sehr diese Figur auch ein wenig wie Megerle selbst auszusehen scheint, lässt sie sich zugleich als Anspielung auf frühere Arbeiten von ihr lesen, etwa auf das Porträt der Schauspielerin Françoise Dorléac, die in einer Szene aus Jacques Demys Film Les Demoiselles de Rochefort (1967) mit einem noch überdimensionierteren Hut am Klavier sitzend gemalt wurde. Indem sich Megerles Quasi-Selbstporträt mit früheren Porträts von ihr kurzschließt, scheint sich das Leonardo zugeschriebene Bonmot zu bestätigen, dass sich jede*r Maler*in im Grunde selbst male. Doch anders als bei dem Dorleác-Porträt weist Megerles Doppelgängerin jenes wissende sanfte Lächeln auf, das sich schon in Caprice findet. So als würden die Figuren über ihr Gegenüber und sich selbst zugleich nachdenken. Das Motiv der melancholischen Doppelgängerin demonstriert darüber hinaus einmal mehr, dass unser Selbst aus anderen besteht und uns der Umstand, dass wir auf andere angewiesen sind, Freude bereitet, uns aber auch Leiden beschert – siehe dazu Judith Butlers The Force of Nonviolence (2020).

Unter Insider*innen hat Megerles Ausstellung großen Anklang gefunden. Schon an der Begeisterung zahlreicher Museumsleute ließ sich ihr institutioneller Erfolg ablesen. Auch Freund*innen und Bekannte lobten Megerles Porträts als die bisher gelungensten. Ich frage mich, warum sich deren berechtigter Enthusiasmus nicht unmittelbar im Kaufverhalten von Blue Chip-Sammler*innen niederschlägt, wie das noch in den 1990er Jahren häufig der Fall war. Der Unterschied zu den 1990ern scheint mir dabei nicht nur darin zu bestehen, dass der Typus der Connaisseur*Connaisseuse-Sammler*in vom Typus der spekulativ Sammelnden abgelöst wurde, die in erster Linie auf schnelle Wertsteigerung zielen und sich für die symbolische Dimension kaum interessieren. Darüber hinaus scheint das Begehren zahlreicher Käufer*innen inzwischen ganz eigenen Gesetzen zu gehorchen, die mit den Wertzuschreibungen der Kritik nicht mehr kommunizieren. Ich glaube dennoch fest daran, dass sich der malerische und theoretisch-psychoanalytische Einsatz von diesen intelligenten Porträts Megerles langfristig auszahlen wird. Wäre ich nicht dieser Überzeugung, dann würde ich mich wahrscheinlich anderen Gegenständen zuwenden. Denn so ganz ohne Markteinfluss möchte ich als Kunstkritikerin nun auch nicht sein. Mit dieser Rezension wollte ich denn auch andere Werte als die in Teilen der kommerziellen Sphäre derzeit vorherrschenden stark machen. Wann sich das symbolisch Bedeutsame jedoch in Markterfolg transformiert, ist nie mit Sicherheit vorherzusagen. Und durchgehender Markterfolg zu Lebzeiten ist ja auch ein durchaus zweischneidiges Schwert. Man denke nur an all die extrem markterfolgreichen Künstler*innen, die sich plötzlich im Recht fühlen und Arbeiten produzieren, die in erster Linie von ihrem Glauben an ihre große Bedeutung zeugen. Andererseits kann man natürlich auch großen Markterfolg haben und selbstkritisch bleiben, auch dafür gibt es viele Beispiele: Künstler*innen, die um des arbiträren Charakters ihres Erfolgs wissen, der letztlich immer auch Glückssache ist. Wie dem auch sei: Als Kritikerin bleibe ich strukturell gesehen eingebunden in das Marktgeschehen, auch wenn mein Einfluss in einigen Segmenten – etwa in der Auktionssphäre – gen Null tendiert. Derzeit scheint sich jedoch der Wind wieder zu drehen, da sich einige spekulative Sammler*innen aufgrund der hohen Zinsen aus dem Kunstmarkt zurückgezogen haben. Sie lassen ihr Geld lieber auf dem Konto für sich arbeiten. Mit dieser Entwicklung könnte die große Stunde der Kritik geschlagen haben und auch Rezensionen wie diese könnten wieder an Einfluss gewinnen.

„Birgit Megerle: Bond“, Galerie Neu, Berlin, 10. März bis 15. April 2023.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: © Courtesy of the artist und Galerie Neu, Berlin; Fotos Stefan Korte

Anmerkungen

[1]This is a revision of the review originally published on September 20, 2023.