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BEWEGUNGEN IM ZWISCHENRAUM Jana Pfort über Semiha Berksoy im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour”, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2024/25

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour”, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2024/25

Der lang tradierte patriarchale Taschenspielertrick, selbstbewusst agierende Frauen als Monster darzustellen, wird seit den 1970er Jahren von einer hartnäckigen feministischen Kritik begleitet. Wie dringend diese bis heute ist, verdeutlicht Jana Pfort in ihrer Rezension von Semiha Berksoys Retrospektive. Als erfolgreiche Opernsängerin verkörperte sie Rollen wie die der Salome nicht nur selbst auf der Bühne, sondern porträtierte sie auch mit Ölfarbe auf Leinwand. Genau diese beiden Präsentationsmodi – Bühne und Bild – versucht die Ausstellung im Hamburger Bahnhof durch die Gestaltung des Displays zu verbinden und bietet dabei auch einen Blick „hinter die Kulissen“ des Lebens Berksoys. Welche Perspektiven dieser kuratorische Zuschnitt eröffnet, aber auch verstellt, zeigt Pfort auf.

Auf einer Leinwand werden Schwarz-Weiß-Fotografien und ein kurzer Filmausschnitt projiziert. Begleitet von einer Arie in der Qualität alter Radioübertragungen geben die Aufnahmen im abgedunkelten ersten Raum der Ausstellung fragmentarische Einblicke in die Anfänge der Bühnenkarriere Semiha Berksoys (1910–2004), der ersten Opernsängerin der Türkei. Ende der 1920er Jahre studierte sie an verschiedenen Istanbuler Institutionen, ab 1936 und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit einem von der Türkischen Republik finanzierten Stipendium an der Hochschule für Musik in Berlin.

Hinter der Projektion, nur durch einzelne Spots beleuchtet, reihen sich an beiden Seitenwänden des Raums kleinformatige, von Berksoy in schnellen Strichen in Öl und Pastellkreide gemalte Porträts. Mit geschlossenen Augen, das Gesicht bis an den Rand der Bildfläche ausgedehnt, stellt sie den türkischen Regisseur Muhsin Ertuğrul dar, daneben expressiver, mit rot geschminkten Lippen die Opernsängerin Elisabeth Schwarzkopf, daneben Berksoys Tochter Zeliha, deren Gesicht mit seinen stilisierten Konturen einer Maske ähnelt, schließlich ein Selbstporträt. In dieser Abfolge deutet sich bereits die Komplexität des persönlichen und künstlerischen Netzwerks an, in dem sich Berksoy in den 1930er Jahren bewegte: Das Porträt Ertugruls kann als Verweis auf ihre Beziehungen zu kulturellen Akteur*innen der Türkischen Republik gelesen werden. Insbesondere ihre enge Verbindung zu Nâzım Hikmet, dem bedeutenden türkischen Dichter und Dramatiker, wird in der Ausstellung in Texten und Archivquellen herausgestellt. Mit dem Porträt Elisabeth Schwarzkopfs, die gemeinsam mit Berksoy in Berlin studierte (und kurz darauf der NSDAP beitrat), deutet sich der prägende Einfluss dieses Ausbildungsabschnitts für die Bühnenkarriere der Sängerin an, während zugleich die Frage nach ihrer politischen Positionierung aufkommt. Ein in der Ausstellungspublikation zitierter Brief, den Hikmet vor Berksoys Abreise nach Berlin an sie adressierte, gibt einen Hinweis auf die Haltung, die die Künstlerin wie auch Türk*innen in ihrem Umfeld gegenüber dem Nationalsozialismus zeigten: „Auf dass Dir alle Wege offenstehen, nicht in Hitlers, sondern in Beethovens Heimatland; ich wünsche dir Siege, an denen kein Blut klebt, sondern die vor Leben strotzen“, heißt es da. [1] Zeitlebens unterstützte Berksoy den in der Türkischen Republik verfolgten Kommunisten Hikmet und war deshalb in ihrem Geburtsland selbst von Repressionen betroffen.

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour”, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2024/25

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour”, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2024/25

In der Ausstellung bewege ich mich an der Projektion und zwischen Vitrinen mit Archivmaterialien vorbei und trete durch einen Vorhang in den zweiten, deutlich größeren Raum. Mir gegenüber befindet sich das Gemälde Annem Ressam Fatma Saime (Meine Mutter, die Malerin Fatma Saime, 1965). Mittig im Raum auf einer Halterung angebracht, wirkt es, als ob die Figur mich in Empfang nimmt. Die Porträtierte starb, als Berksoy noch ein Kind war, und ist eine wiederkehrende Figur in ihrer Malerei. Hinter dem Bild der Mutter ragen von beiden Seiten ockerfarbene Stellwände in den Raum, die in ihrer versetzten Anordnung räumliche Tiefe erzeugen und so den Eindruck einer Theaterkulisse entstehen lassen. Sie tragen Malereien, die in engem Wechselverhältnis mit Berksoys Verkörperung verschiedener Opernfiguren stehen. Neben gemalten Darstellungen von Tosca, Fidelio und Salome begegnet mir in diesem Raum auch das Gemälde Ariadne auf Naxos (1987). Auf Rippenhöhe, unterhalb der nackten Brüste Ariadnes, verläuft im Gemälde eine schwarze Linie, die sowohl Bild als auch Körper in zwei Hälften teilt. Solch eine Linie durchzieht das Werk Berksoys: Häufig trennt sie den Kopf vom restlichen Körper der Porträtierten oder schwebt über den Figuren. Im Gemälde Annesi Tarafindan Kötülükten Korunan Kız (Das Mädchen, das von seiner Mutter vor dem Bösen beschützt wird, 1970) grenzt sie zwei Bildabschnitte voneinander ab. Neben dem Mädchen richtet sich der stilisierte Körper einer Schlange auf; ihr Kopf neigt sich von oberhalb der Linie der Figur zu, daneben schwebt das Gesicht der Mutter, die laut Titel über ihrem Kind wacht. Die „Schicksalslinie“, wie sie von der Künstlerin selbst bezeichnet wurde, stellt damit eine Beziehung zwischen Gegensätzen wie Leben und Tod, Gut und Böse oder dem Innen und dem Außen her.

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour”, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2024/25

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour”, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 2024/25

Dass sowohl die kunstwissenschaftliche Forschung als auch die Ausstellung Berksoy ein Agieren unabhängig von künstlerischen und theoretischen Vorbildern zuschreiben, hindert mich nicht daran, sie mir in einem fiktiven Dialog mit Theoretikerinnen wie Hélène Cixous oder Luce Irigaray vorzustellen, die seit den frühen 1970er Jahren den weiblichen Körper zum Ausgangspunkt ihrer Schreibpraxis erklärten. Während der Körper und die weibliche Sexualität in der Philosophie der Aufklärung gegenüber dem Geist und der männlich konnotierten Vernunft abgewertet wurden, stellt Cixous mit ihrem Essay „Das Lachen der Medusa“ (1975) den Ausdruck des Körpers als eine Möglichkeit der Verschiebung von Bedeutungszusammenhängen heraus und wählt mit Medusa eine kulturhistorisch verfemte Frauenfigur als Protagonistin. Auch Berksoy zeigt in ihren Gemälden Figuren, denen das Attribut des Monströsen zugeschrieben wird, und transformiert dieses in eine Qualität weiblicher Stärke – so im Gemälde Salome (1962), in der die nackte Figur einen abgetrennten Kopf mit beiden Armen in die Höhe streckt. Das Monströse zeigt sich im Zusammenspiel von Berksoys Motivik und Malweise: Die Figur im Selbstporträt Tirmanen (Ortoportre) (Kletternd/Selbstporträt, 1968) schwebt vor einem leuchtend roten Farbkreis, der sich aus einer Vielzahl unruhiger Pinselstriche zusammensetzt. Augen und Mund sind weit aufgerissen, die Gliedmaßen mit krallenähnlichen Händen und Füßen in einem unnatürlichen Winkel zu den Seiten ausgestreckt. Nach Jacques Derrida ist das Monster etwas, das sich dem sprachlich Erfassbaren entzieht, etwas, wofür es noch keinen Namen gibt. Es löst eine Form des Erschreckens aus und erhält damit ein transformatives Potenzial. [2] In Tirmanen (Ortoportre) materialisiert sich jenes produktive Erschrecken durch die Unmöglichkeit, die Figur in einer binären symbolischen Geschlechterordnung zu verorten.

Einen weiteren Moment der kritischen Selbstbehauptung erkenne ich in Berksoys Darstellungen weiblicher Erotik und Nacktheit – eine Form der Wiederaneignung des eigenen Körpers, die Künstler*innen der feministischen Avantgarde seit den 1960er Jahren auf vielfältige Weise vornahmen. In Berksoys Gemälde Gülen (Otoportre) (Lächelnd/Selbstporträt, 1969) blickt ein fragmentarisch dargestellter weiblicher Akt den Betrachter*innen selbstbewusst entgegen. Sanatin Zaferi (Otoportre) (Der Sieg der Kunst/Selbstporträt, 1972) wiederum zeigt eine nackte Figur, die eine Schlange unterhalb des Kopfs mit den Händen umfasst, aus deren Kopf blutrote Farbströme laufen. In diesen Beispielen spielt Berksoy mit den Darstellungsweisen eines begehrenden weiblichen Körpers, die in der symbolischen Ordnung des Patriarchats als unheimlich klassifiziert und verdrängt wurden.

Semiha Berksoy

Semiha Berksoy

Mit der Ausstellungsgestaltung, die einen Vorhang, Bühnenelemente und eine Tribüne integriert, greifen die Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath Elemente eines Theatersettings auf. Ein Textbeitrag Bardaouils in der ausstellungsbegleitenden Publikation ist in Form eines Librettos verfasst und bietet damit ein Skript für die Erfahrung der Ausstellung an. In poetischer Sprache führt der Text in drei Akten durch die Räume und weist den Betrachter*innen die Funktion von Darsteller*innen zu. Diese Inszenierung der Ausstellung als Theaterkulisse verfolgt laut Einführungstext das Ziel, Berksoy „nicht einfach als Opernsängerin oder als Malerin [zu positionieren], sondern vielmehr als eine Künstlerin, deren Werk die konventionellen Kategorien transzendiert“. [3] Diese angestrebte Auflösung der Grenze zwischen den Disziplinen gelingt den Kuratoren mit der formalen Rahmung, die Berksoys Gemälde fest in der Opernszenerie verankert, was jedoch eine Betrachtung des malerischen Werks außerhalb dieses Bezugssystems erschwert. Die damit betonte Überlagerung künstlerischer Ausdrucksformen, die sich am offensichtlichsten in den gemalten Darstellungen von Opernfiguren zeigt, lässt Berksoys vielfältige, von Opernbezügen unabhängige Symbol- und Formensprache an die Ränder der Aufmerksamkeit treten.

Mit einem Blick hinter die Stellwände zeigt sich jedoch ein weiteres Anliegen der Ausstellung, das Bardaouil als eine „Gegenüberstellung von Berksoys öffentlichen und privaten Formen des Selbst“ [4] beschreibt. Die Künstlerin hatte den Wechsel zwischen verschiedenen Rollen nicht ausschließlich in der Verkörperung verschiedener Opernfiguren perfektioniert, sondern auch in Form ihrer Selbstinszenierung, in der sie den Übergang zwischen Kunstfigur und Privatperson verunklärte. Seit den 1990er Jahren ließ sie sich in ihren Wohnräumen in aufwendigen Kostümen und Bühnen-Make-ups fotografieren und stellte ihr Istanbuler Schlafzimmer aus, in dem sie neben persönlichen Gegenständen und einem Klavier auch eine Auswahl ihrer Gemälde versammelt hatte. Auf den Rückseiten der Bühnenelemente findet sich in mehreren Vitrinen eine Zusammenstellung persönlicher Briefwechsel, Korrespondenzen und Dokumente ihres Ausbildungswegs. Der Logik des Theaters folgend, findet hier ein Blick hinter die Kulissen und damit hinter die Inszenierung der öffentlichen Persona Semiha Berksoys statt, in der persönliche Lebensereignisse wie der Verlust der Mutter, die Sorge um den politisch verfolgten Nâzım Hikmet sowie Karriereerfolge und -rückschläge angedeutet werden. An dieser Stelle erweitert die Ausstellung den Einblick in das künstlerische Referenzsystem, innerhalb dessen sich Berksoy bewegte, und deutet damit den Einfluss an, den künstlerische und persönliche Vorbilder, Erfahrungen von Verlust und Trauer sowie gesellschaftliche Erwartungen auf das Werk der Künstlerin nahmen.

„Semiha Berksoy: Singing in Full Colour“, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 6. Dezember 2024 bis 11. Mai 2025.

Jana Pfort ist Kunstwissenschaftlerin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Hamburg.

Image credit: 1.– 3 © Courtesy der Nachlass Semiha Berksoy & GALERIST, Istanbul / Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin, Fotos Jacopo LaForgia; 4. Courtesy der Nachlass Semiha Berksoy und GALERIST

Notes

[1]Semiha Berksoy, Nâzım Hikmet ve „Tosca“ sı. Semiha Berksoy: mektuplaşmalar, Bd. 1091, Istanbul 2019, S. 137.
[2]Vgl. Jacques Derrida, „Übergänge – Vom Trauma zum Versprechen“, in: Auslassungspunkte. Gespräche, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 1998, S. 377–398.
[3]Sam Bardaouil, „Semiha Berksoy: eine Retrospektive im Hamburger Bahnhof“, in: Semiha Berksoy. Singing in Full Color, hrsg. von Sam Bardaouil/Till Fellrath, Mailand 2024), S. 12–16, hier: S. 16.
[4]Ebd.