LEBEN IN LEBENSFEINDLICHEN RÄUMEN Julia Heldt über Ja’Tovia Gary im Zollamt MMK, Frankfurt/M.
Blickt man an einem Tag im Juni auf dem Weg nach Frankfurt aus dem Zugfenster, rahmt dieses üppige Felder, grüne Wiesen und Weinberge. Im abgedunkelten Ausstellungsraum des Zollamt MMK angekommen, findet sich diese Üppigkeit auch in Ja’Tovia Garys Installation The Giverny Suite (2019) wieder. Im ersten Monat ihrer Residency in Giverny, dem Ort, an dem sich Claude Monets Gärten befinden, hat Gary in langen Spaziergängen in und um die Gärten herum Blütenblätter gesammelt, diese auf durchsichtigen Filmstreifen fixiert und zu einem der vielfältigen Elemente in ihrer nun in Frankfurt zu sehenden multimedialen Collage gemacht. [1]
Garys gleichnamige erste Einzelausstellung in Europa, „The Giverny Suite“, besteht aus eben dieser Dreikanal-Installation sowie einem Jugendstilsofa, zwei Orisha-Altären und einer Gruppe weißer Bilderrahmen und ist nun im Rahmen der vierten internationalen Triennale der Künstlerischen Fotografie und verwandter Medien in Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet unter dem Titel „Ideologien“ zu sehen. Dem Festivalthema entsprechend zeichnet auch Garys Arbeit neben filmspezifischen Fragestellungen eine Kritik an historisch bedingten exkludierenden Narrativen und Ideologien aus. Im Sinne einer solchen Durchkreuzung historischer Ausschlussmechanismen können etwa die Blütenblätter auf den Filmstreifen als Störelemente in einem vielschichtigen Gewebe aus gefundenen und von Gary eigens produzierten Filmaufnahmen verstanden werden. Zudem impliziert der stroboskopartige Wechsel der Bilder, die sich wiederholen und einander überlagern, eine gewisse Unruhe: Bild- und Tonebene lösen sich zuweilen voneinander und suggerieren eine zeit- und raumübergreifende Verwandtschaft zwischen unterschiedlichen historischen Kontexten. Dieser experimentelle Umgang mit Film, der dessen poetische Künstlichkeit gegenüber seinen dokumentarischen Eigenschaften betont, dient Gary nicht zuletzt auch dazu, die Prekarität weiblicher Schwarzer Körper filmisch zu inszenieren.
The Giverny Suite basiert auf einer früheren Arbeit Garys von 2017, Giverny I (Negresse Impériale), in der sie über sechs Minuten lang in den Gärten Monets zu sehen ist. Diesen zur Hochzeit des französischen Kolonialismus entstandenen und unter Künstler*innen überaus beliebten Ort macht sie sich zu eigen, indem sie dessen Wege abschreitet und Umwege wählt, so als würden die Gärten ihr gehören. Andererseits stellt sie sich darin, trotz ihrer privilegierten Position als erfolgreiche Künstlerin in einer prestigeträchtigen Residency in Frankreich, bewusst als visuellen Fremdkörper dar, bezeichnet sich selbst im Interview sogar als „Négresse“ [2] . Derlei selbstbestimmte visuelle Repräsentation lässt den Anspruch erkennen, den Film in dekolonial-feministischer Hinsicht zu politisieren. So entwickelt sie in The Giverny Suite Formen der Sichtbarkeit Schwarzer weiblicher Subjekte in Räumen, die nicht für diese gemacht wurden, ja, von denen sie aktiv ausgeschlossen wurden und die sie trotzdem ihre Heimat nennen.
Auf Giverny I aufbauend, entwickelte Gary 2019 die Arbeit The Giverny Document (Single Channel), die den Mittelteil der Dreikanal-Installation in Frankfurt bildet. In dem 40-minütigen Film erweitert Gary die Darstellung von sich selbst als Schwarzer Frau in den Gärten von Giverny mit Aufnahmen anderer Schwarzer Frauen in anderen historischen und kulturellen Zusammenhängen. So wird den Filmaufnahmen der „Négresse“, die durch die Gärten Givernys spaziert, etwa das Video von Diamond Reynolds gegenübergestellt, das ihre existenzielle Verzweiflung und Bedrohung im Moment der Tötung Philando Castiles in Minneapolis im Juli 2016 als Facebook-Live-Video festhält. Reynolds’ Gesicht ist nur kurz im Bild Garys zu sehen; zunehmend verschmelzen Garten und Tatort miteinander, Wiese und Polizist*innen. Reynolds’ Körper im Moment ihrer Verletzung bleibt unsichtbar, allein ihre Stimme hören wir. Das erneute Trauma, das sich durch visuelle Reproduktion wiederholen kann, wird von Gary hier bewusst vermieden. Reynolds’ Bangen um Castiles Leben schneidet Gary mit einem erschütternden Schrei zusammen, den sie in den Gärten Givernys ausstößt, wo sie sich zum Zeitpunkt des Mordes an Castile aufhielt. Diese vom Sichtbaren losgelösten Tonaufnahmen gehen jedoch nicht weniger in Mark und Bein und erzeugen ein Mitgefühl jenseits des Betrachtens von konkretem Leid.
In dem die Ausstellung im MMK begleitenden Essay geht die Kunsthistorikern Yasmina Price näher auf die Solidarität stiftende zeit- und kontextübergreifende Gemeinschaft der dargestellten Schwarzen Frauen ein, die Garys Collage impliziert. [3] Der Isolation von Gary in Giverny, als einziger Schwarzer Person in der Residency, und der Isolation Reynolds’ im Moment des vollkommenen Ausgeliefertseins an die Polizist*innen werden in The Giverny Suite die ebenso isolierte Nina Simone auf der Bühne während ihres Konzertes auf dem Montreux Jazz Festival 1976 sowie Aufnahmen Josephine Bakers aus dem Film Zouzou von 1934 gegenübergestellt. Tatsächlich sind schon in diesen jeweiligen Momenten der Isolation Gesten der Selbstermächtigung erkennbar: Bei Gary, die sich Monets Gärten filmisch aneignet, bei Reynolds, die den gewaltsamen Konflikt mit der Polizei überlebt und zugleich das Unrecht gegenüber Castile dokumentiert, aber auch im Fall von Simone, die bei ihrer Interpretation des von Morris Albert geschriebenen Songs „Feelings“ ihren Gesang immer wieder unterbricht. Die hier von Albert beschworene Abwehrhaltung gegenüber Gefühlen im Allgemeinen und gegenüber seiner ehemaligen Geliebten im Konkreten akzeptiert Simone schlichtweg nicht: „I do not believe the conditions that produced the situation that demanded a song like that.“ In stakkatohaftem Ton beschreibt sie das Subjekt des Liedes selbst als „robot“, der seine Gefühle verloren habe. Und zuletzt wird hier auch Josephine Baker als Ikone der Selbstermächtigung verständlich, da sie nicht nur das rassistische US-Amerika verließ, sondern auch ihre eigene Form der Selbstdarstellung entwickelte, die sie schließlich berühmt machte. Dass die Aufnahmen dieser Frauen von Gary zudem abwechselnd zu Aufnahmen des Vorsitzenden der Black Panther Party, Fred Hampton, und zu unter Barack Obamas Präsidentschaft durchgeführten Drohnenangriffen in Syrien und Afghanistan gezeigt werden, erweitert die Komplexität des Alltags von Schwarzen Frauen in einem von Rassismus geprägten Staat wie den USA, dem eine alternative Idee von Gemeinschaft hier mit den Mitteln der Poesie entgegengesetzt wird.
Der rassistischen Gewalt in den USA konnten damals weder Baker noch Gary entkommen; die Herrschaft gegenüber Frauen und Schwarzen wird in Garys Bricolage als raum- und zeitübergreifend verbildlicht. In Marc Allégrets Film Zouzou stellt Baker eine Frau der französischen Arbeiterklasse dar, Zouzou, die unglücklich in ihren weißen Stiefbruder verliebt ist. Weniger ihre Hautfarbe sei Ursache ihres Unglücks als vielmehr die sie umgebenden Umstände des Ausgestellt-Werdens auf der Bühne im imperialistisch geprägten Frankreich, wie Matthew Pratt Guterl in „Josephine Baker’s Colonial Pastiche“ schreibt: „Zouzou is, if never marked by racism, still set apart from Paris – she does not get her man, and she sings notalgically, in the end, of Haiti from her perch in a giant birdcage.“ [4] Es ist ebendiese Szene von Baker im wortwörtlichen goldenen Käfig, die Gary in The Giverny Suite übernimmt. Bakers Eingesperrt- und Ausgestellt-Sein entspricht laut Guterl der Entfremdung, der Zouzou sich ausgeliefert sieht.
Die Interdependenz von Ortsspezifik und Schwarzer weiblicher Identität ergänzt Gary zudem um Interviews, die sie mit Schwarzen Frauen und Mädchen in den Straßen Harlems geführt hat. In den urbanen Raum versetzt, im Winter in dicke Jacken eingepackt, wird der Schwarze weibliche Körper zum Gegenstand der Diskussion: Ob sie sich in ihren Körpern sicher fühlen, fragt Gary Schwarze Passantinnen. In dem das Cinema Verité begründenden Film Chronique d'un été von Jean Rouch und Edgar Morin von 1961 übertrug Rouch seine vorausgegangene Praxis des ethnografischen Films und der Feldforschung, die er zuvor in afrikanischen Staaten durchgeführt hatte, auf das Paris am Ende des französischen Kolonialismus. [5] Die Frage an die Passant*innen von Rouch und Morin, ob sie glücklich seien, greift Gary in ihrem Film auf und rückt das Selbstverständnis Schwarzer Frauen in den Fokus, die von ihren diversen diasporischen und kolonial geprägten Bewegungen in die und innerhalb der USA erzählen.
Den von Gary in The Giverny Suite gezeigten Figuren der Négresse, der Hohepriesterin Simone und der kämpfenden Reynolds wird ein komplexes Gewebe aus zeit- und kontextspezifischen Erfahrungen und Emotionen hinzugefügt, etwa in den individuellen Sicherheitsgefühlen, die in den Interviews in Harlem zutage treten, aber auch in der Fragilität des weiblichen Schwarzen Subjekts in den Gärten Monets, das wie Zouzou einem Voyeurismus ausgeliefert ist und wie Simone in seiner Isolation verbleibt. In Dialog miteinander tretend, bilden diese Lebensrealitäten einen transkulturellen „filmischen Quilt“ [6] , der keine noch so subjektiven oder historischen Narrative überdeckt, sondern im Gegenteil deren Vielheit aufzeigt.
Julia Heldt ist Kunsthistorikerin und lebt in Berlin.
„Ja’Tovia Gary: The Giverny Suite“, Zollamt MMK, Frankfurt/M., 3. Juni bis 8. August 2021.
Image credit: 1. & 3. Ja’Tovia Gary, courtesy of Paula Cooper Gallery, New York; 2. Ja’Tovia Gary, courtesy of Paula Cooper Gallery, New York, Foto: Axel Schneider
Anmerkungen
[1] | Vgl. Gespräch zwischen Ja’Tovia Gary und Erin Christovale; https://www.youtube.com/watch?v=ot4dir7yFuo. |
[2] | Ebd. |
[3] | Yasmina Price, „Nicht nur überleben, sondern genussvoll leben: Die raumübergreifende Intimität und Kollektivität Schwarzer Frauen“, in: MMK Booklet: Ja’Tovia Gary. The Giverny Suite, Frankfurt/M. 2021, n. p. |
[4] | Matthew Pratt Guterl, „Josephine Baker’s Colonial Pastiche“, in: Black Camera, 1, 2, 2010, S. 25–37, hier: S. 31. |
[5] | Steven Ungar, „In the thick of things: Rouch and Morin’s Chronique d’un étéreconsidered“, in: French Cultural Studies, 14, 1, 2003, S. 5–22, hier: S. 6ff. |
[6] | Ja’Tovia Gary im Gespräch mit Erin Christovale. |