Kannibalistisches Kunstkino. Sulgi Lie über die Filme von Susan Sontag
In einer Szene aus „Duet for Cannibals“, Susan Sontags 1969 in Schweden gedrehten Filmerstling, lädt der links-dekadente deutsche Professor Arthur Bauer (Lars Ekborg) das von ihm und seiner ebenso exaltierten italienischen Gattin Francesca (Adriana Asti) manipulierte schwedische Pärchen Gösta und Agneta zu einem Dinner der besonderen Art ein: Nachdem der Professor entgegen jeden bürgerlichen Tischmanieren das Essen in rabiatem Tempo heruntergeschlungen hat, zieht er sich in die Toilette zurück, um das soeben Verspeiste lauthals wieder zu erbrechen. Zurück am Tisch, versichert seine Frau dem verdutzten Paar, dass diese seltsame Esspraktik zu seinen ganz normalen Gewohnheiten gehöre. Leider kann dieser kleine gustatorische Zwischenfall als unfreiwillige Allegorie für die beiden Spielfilme von Susan Sontag gelten, die diese während der historischen Hochphase des europäischen Autorenfilms ausgerechnet in der Heimat Ingmar Bergmanns gedreht hat. Denn das auch der Übermaß an Kunst-Konsum zu ästhetischen Stoffwechselproblemen führen kann, verdeutlichen diese Filme gerade im retrospektiven Rückblick nur allzu exemplarisch.
Auch zehn Jahre nach ihrem Tod scheint das Interesse an ihrem Werk ungebrochen, dass Sontag aber neben Essays und Romane auch Filme gedreht hat, ist nach wie vor ein unterbelichtetes Phänomen. Die Retrospektive des Berliner Kinos Arsenal im Januar und Februar bot daher eine willkommene Gelegenheit, sich ihr kompaktes filmisches Oeuvre zu erschließen. Dass aber Susan Sontag, die Filmemacherin, nicht unabhängig von Susan Sontag, der Filmkritikerin, zu denken ist, machen diese Filme auf eine nicht unproblematische Art und Weise deutlich: Die cinephile Bewunderung, die Sontag in ihren Texten dem modernistischen Kino entgegengebracht hat, schlägt in eine Über-Imitation um, die zu ernst gemeint ist, um als ironische Camp-Camouflage durchzugehen.
Gerade „Duet for Cannibals“ mutet zu weiten Teilen wie ein verunglücktes Kompendium des europäischen Kunstkinos der späten 60er und frühen 70er Jahre an, in dem vor allem Bergman und Antonioni von Sontag zu einer unverdaulichen Bricolage zusammengerührt werden. Symptomatisch interessant daran ist aber, wie der Film in seinem Übermaß an (vulgär-) psychoanalytischen Deutungsangeboten Sontags eigenem ästhetischem Diktum „Gegen Interpretation“ geradezu offensiv widerspricht. Ihre bekannte Aversion gegen den hermeneutischen Wahn der Psychoanalyse und des Marxismus wird filmisch von einem psycho-sexuellen Szenario konterkariert, das von freudo-marxistischen Zeichen nur so wuchert. Die freudlos-grauen Schwarzweiß-Bilder des Films rufen die verquälten protestantischen Szenarien Bergmans auf schematischste Art und Weise in der Kollision zweier Szenen einer Ehe ab: Hier das spießige schwedische Normalopärchen ohne sexuellen Pep, dort das paneuropäische Intellektuellenpaar mit allerlei politischen und libidinösen Abgründen. Als der ahnungslose Gösta beim Professor einen Job als Archivar annimmt, wird das harmlose Schweden-Paar von dem monströsen deutsch-italienischen Duo verschlungen und gar zu ein paar kinky Sexspielchen verführt. Das ist gar nicht mal so weit weg von dem, was sich heute in den Kleinbürger/innen-Fantasien von „50 Shades of Grey“ abspielt, die perverse Jouissance immer auf Seiten der Upper Class. Zu dieser Bergman-Folie gesellen sich auf der Ebene der Mise-en-Scène schwere Brocken Bresson und Antonioni, wenn Sontag in fast jeder Einstellung angestrengt die Figuren durch innere Bildrahmungen (Türen, Fenster) kadriert oder auch mal dezentriert dekadriert. Auch Adriana Astis Neurose scheint schnurstracks aus „Il deserto rosso“ zu entspringen, wenn sie hier als Wiedergängerin von Monica Vitti hysterisch agieren darf.
Es bleibt schleierhaft, was Sontag mit diesen wenig dezent gesetzten Zitaten erreichen wollte: Zu viel Copy and Paste, um als genuin modernistisch durchzugehen; aber auch zu wenig Pastiche, um postmodernistisch avant la lettre zu sein. Was ein Film wie „Duet for Cannibals“ aber entgegen der Intention der Regisseurin exponiert, sind die gerade aus heutiger Perspektive hochgradig verbraucht und aufgesetzt wirkenden filmischen Pathosformeln der bürgerlichen Neurose (vor allem bei Bergman, weniger bei Antonioni). Unfreiwillig wird aus dem Tribut eine schlechte Parodie.
Von Antonioni übernommen sind auch die prononcierten Soundeffekte, die um repetitive musikalische Einsprengsel klassischer Musik ergänzt werden. Die akustischen „Tristan und Isolde“-Cuts sind wiederum Visconti entwendet, der seine Faschismus-analytische Deutschland-Trilogie („La caduta degli dei“, „Morte a Venezia“ und „Ludwig“) als wagnerianische Götterdämmerung inszenierte. Gerade im Vergleich mit italienischen Regisseuren wie Visconti, aber auch Bertolucci (Adriana Asti spielte die Hauptrolle in „Prima della rivoluzione“ aus dem Jahre 1964), kristallisiert sich heraus, was für eine filmische Faschismustheorie Susan Sontag hat: nämlich gar keine. In der Figur des deutschen Professors werden widersprüchliche historische Signifikanten aus Marxismus, Faschismus und Décadence post-historisch zusammengewürfelt, so dass im Ergebnis irgendwie auch egal ist, ob Arthur Brauer nun aktivistischer Marxist oder ein überreizter Faschist ist: Faszinierender Faschismus halt. Oder faszinierender Marxismus: In der lächerlichsten Szene des Films zitiert der Professor aus Guy Debords damals gerade erschienenem Kultbuch „Die Gesellschaft des Spektakels“ ein paar besonders sexy klingende Phrasen, während er sich vor dem Spiegel ein groteskes Toupet anlegt. Wie schon gesagt, ist das leider zu ernst gemeint, um als Camp in Sontags Sinne durchzugehen und so erstickt „Duet for Cannibals“ unter dem Kunst- und Theorienarzissmus einer Regisseurin, die sich cinephil und diskursiv übernommen hat. Um eine häretische Hypothese zu wagen: Zeigt sich dieser Mangel an analytischer Distanz nicht auch in ihren Essays über Film und Literatur, in der die schwärmerische Bewunderung manchmal zu ungebrochen dominiert?
Unter cine-mimetischen Metabolismusbeschwerden leidet jedenfalls auch „Brother Carl“ (1971), auch wenn sich Sontag hier auf die reine Bergman-Paraphrase beschränkt, sieht man vielleicht von einer kleinen Pasolini-Reminiszenz ab, die in der Figur des kreatürlich-christologischen Bruder Karls schlummert. In einer gottverlassenen Welt schlägt Theologie halt oft in Wahnsinn um, die Neurose des ersten Films hat sich im zweiten Film in eine veritable Psychose gesteigert. Eine kluge zeitgenössische Rezension gibt folgende Synopsis des Films: „Brother Carl has to do with a young Swedish woman named Karen who is suffering from an acute case of bourgeois angst and so decides to separate for a time from her lawyer husband and retarded child. She goes with a friend Lena to the island home of Lena's ex-husband Martin who spends his time caring for a once brilliant dancer named Carl now deeply scarred by his former devotion to his art.“ Während Sontag sich bei der Konzeption des Films vermutlich eine Überdosis von Bergmans „Persona“ verabreicht hat, hat sich der arme Karl wohl ein wenig zuviel Antonin Artaud zugemutet. In einem langen Essay aus „Im Zeichen des Saturn“ hat Sontag Artauds sexualphobische Fantasien als radikale Geste der Gnosis gedeutet, der im purifizierten Körper des Asketen die Erleuchtung sucht. Das Martyrium Artauds kehrt nun in der deliranten Jungfräulichkeit Karls wieder, der in stummer Sprachverweigerung verzottelt in einer einsamen Hütte haust. Theater der Grausamkeit, Kino der Grausamkeit: In „Brother Carl“ wird viel rumgeschrien, Gesichter verzerren sich in Agonie, der bürgerliche Affekthaushalt wird von Edvard Munch’schen Angstabgründen heimgesucht, mit anderen Worten: es ist zum Haare raufen. Michael Levenson bringt das Dilemma von Sontags Bergman-Mimikry auf den Punkt: „It is not that Ms. Sontag is a thief, it's simply that she's a critic. She has seen so many films and thought so long and hard about them, that her own look like a composite of all those things she's praised in others.“ In ihren beiden schwedischen Filmen fällt Susan Sontag ihrem eigenen gefräßigen Kunstkinokonsum zum Opfer.
„Promised Lands“, 1973 gegen Ende des Jom-Kippur-Kriegs gedreht, gilt als Sontags gelungenster Film. Tatsächlich ist dieser „essayistische Dokumentarfilm“, wie man heutzutage vielleicht sagen würde, weniger von der zwanghaften Einverleibung filmischer Vorbilder geprägt. In dezidiert fragmentarischen audiovisuellen Skizzen collagiert der Film Impressionen der israelischen Gesellschaft im Ausnahmezustand: Verité-Aufnahmen treffen auf zwei längere Interviews konträrer politischer Akteure, Sound-Montagen in Godard-Manier treffen auf hebräische Klagegesänge. Zu den intensivsten Momenten des Films zählen zwei miteinander korrespondierende Szenen: Zum einen das lange Insistieren der Kamera auf den verkohlten Leichen israelischer Panzersoldaten (undenkbar im heutigen televisuellen Regime des „sauberen“ Krieges), zum anderen das drogeninduzierte Combat-Reenactment kriegstraumatisierter Patienten im Rahmen einer experimentellen Psychiatrie. Allerdings resultiert die eindrückliche Wirkung dieser beiden Sequenzen eben nicht in der moralischen Adressierung des Zuschauers, das Leiden der Anderen im Modus fotografischer Empathie zu teilen, wie der Filmkritiker Dennis Lim fälschlich behauptet. Im Gegenteil nimmt Sontags filmischer Blick einen absolut unberührten Standpunkt ein, der die bizarr deformierten Leichen wie Giacometti-Statuen anmuten lässt, und die PTSD-Qual der Soldaten wie das exorzistische Spektakel eines Horrorfilms. Das „Promised Land“ Sontags späteren Thesen zur fotografischen Ethik in „Das Leiden anderer betrachten“ direkt zu widersprechen scheint, macht die poetische Produktivität eines Films aus, in der sich die Filmemacherin und Essayistin voneinander entzweien und sicht nicht narzisstisch verschlingen.
Bedauerlicherweise hat Sontag diesen kalten Ästhetizismus in ihrem letzten Film, dem venezianischen Reisetagebuch „Unguided Tour“ (1983), wieder zugunsten eines kunstgewerblichen Kannibalismus preisgegeben, in dem mit bedeutungsschwangerer Melancholie über den Untergang Venedigs geraunt wird, dass es Visconti und vor allem Guy Debord arge Bauchschmerzen bereitet hätte. Hatte Debord in seinem letzten Film „In Girum“ (1978) seine post-revolutionäre Agonie noch mit Haut and Haaren als venezianische Todesallegorie somatisiert, bleibt bei Sontag nur touristische Postkarten-Sentimentalität übrig. Dass Sontag danach mit dem Filmemachen aufgehört hat, ist leider kein Grund zur Trauer.
"Susan Sontag Revisited", Filmreihe, Arsenal - Institut für Film und Videokunst, Berlin, 20. Januar bis 5. Februar (mit begleitendem Symposium im ICI Berlin, 29.-30.1.2015).