WERTSCHÖPFUNGSKETTENGLIEDER Michael Hutter über Antoine Watteau im Schloss Charlottenburg, Berlin
Ein ehrgeiziges Ausstellungsprojekt ist zurzeit im Parterre des Neuen Flügels des Berliner Schlosses Charlottenburg zu entdecken. Hier wurden nicht lediglich Werke zusammengetragen, um Kunst visuell erlebbar zu machen; vielmehr sollen die verschiedenartigen Exponate einen Eindruck von der Wertschöpfungskette vermitteln, die die Bilder des französischen Rokokomalers Antoine Watteau zu Waren werden ließen. Schrifttafeln und Objekterklärungen sind in der von Franziska Wildt kuratierten Ausstellung allerdings nur sparsam eingesetzt. Begleitband, Audioguide und einige Animationen helfen, die Artefakte, Drucke und Gemälde in ihrem jeweiligen historischen Zusammenhang zu verstehen und so die einzelnen Stationen von Watteaus Schaffen im Wechselspiel zwischen Kunst und Wirtschaft sinnvoll einzuordnen.
Die Ausstellung – bestückt aus den reichen Berliner Beständen, ergänzt durch wenige Leihgaben – ist in fünf Abteilungen gegliedert, die in schmalen Kabinetten untergebracht sind. Der mittlere, dritte Raum ist dem Zentrum von Watteaus Wertschöpfungskette, dem Recueil Jullienne, gewidmet, wie die vier Bände mit über 600 Stichen nach Zeichnungen und Ölgemälden Watteaus genannt werden. Produziert wurden sie von Jean Jullienne. Der Tuchfabrikant war befreundet mit dem gleichaltrigen, kränklichen, ständig zeichnenden Maler, dessen Schaffensperiode nur ein Jahrzehnt andauerte; er starb 1721 mit nur 36 Jahren. Die ersten zwei Bände, basierend auf einer Auswahl von Zeichnungen, erschienen 1726 und 1728. Zwei weitere Bände mit den Abbildungen von Gemälden folgten 1735. Kommerziell war das Projekt ein Verlustgeschäft. Nicht einmal 100 Exemplare wurden zum Preis von (umgerechnet) 5000 Euro gekauft. Dennoch hatte der inzwischen geadelte Jullienne sein Ziel erreicht: Als conseiller honoraire et amateur wurde er in die königliche Académie de Peinture et Sculpture aufgenommen. Er verkaufte schließlich die Druckplatten an die Witwe seines Verlegers, die mit weiteren Editionen zu reduzierten Preisen doch noch auf ihre Kosten kam. Die Ausstellung zeigt einige aufgeschlagene Exemplare des Recueil, vor allem aber erlaubt eine digitale Anwendung, sämtliche Seiten der ersten zwei Bände virtuell durchzublättern – ein Erlebnis, das allein den Besuch der Ausstellung lohnt.
Die Verbreitung der Kupferstiche mag dazu beigetragen haben, dass die Preise für Watteaus Originale stiegen, zumal die Eigentümer*innen der Werke jeweils vermerkt waren. Ihr wirtschaftlicher Wert bestand aber vor allem darin, dass diese aufwendig hergestellten Stiche selbst beliebte und gesuchte Sammelobjekte waren. Ihre „Liebhaber*innen“, als eigentlich treibende Kraft des Kunstmarkts, werden hier zumindest am Rande erkennbar. Die Pariser Szene im frühen 18. Jahrhundert – mit sehr reichen Sammler*innen, wie dem ehemaligen Steuereinnehmer Pierre Crozat und der hochadligen Comtesse de Verrue, mit spezialisierten Experten wie dem Antike-Forscher Comte de Caylus und dem enzyklopädischen Sammler Pierre-Jean Mariette, mit kunstbegeisterten Unternehmern wie Jean de Jullienne und dem Chefredakteur der führenden Kunstzeitschrift Mercure de France, Antoine de la Roque –, ähnelt in ihrer Struktur dem heutigen global art circuit. Allerdings machten damals nicht die Einzelwerke, sondern grafische Originale und Reproduktionen den Großteil des Umsatzes auf dem Kunstmarkt aus, die die Verfügbarkeit und Zirkulation von Bildern sicherstellten.
Jullienne benötigte eine Vorstufe und eine Folgestufe der Malereien im Prozess der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Die Ressourcen lieferten Watteaus Originalwerke, den Vertrieb lieferten Verleger und Kunsthändler wie Edme-François Gersaint. Dessen Geschäft ist der Eingangsraum der Ausstellung gewidmet, weil Watteau ihm ein drei Meter breites Ladenschild gemalt hatte. Daraus waren in den folgenden Jahren zwei „Kabinettstücke“ herausgeschnitten worden, die Friedrich II. 1746 für seine Sammlung erwarb. Gersaint handelte mit modischen Luxusobjekten – eine Vitrine zeigt damals teure, „exotische“ Muscheln und Chinoiserien. Mit Gemälden bekam er es meist bei Aufträgen zur Auktion von Nachlässen zu tun. Dafür wendete er die kommentierte Katalogisierung von Kunstsammlungen, die Mariette erfunden hatte, auf seine Auktionslose an. Die Kataloge, in der Ausstellung beispielhaft gezeigt, waren eines der Mittel, mit denen er das Wissen und den Geschmack seines Publikums geschickt kultivierte.
Die vor knapp 100 Jahren wieder vereinten Hälften des Ladenschilds werden seit 1962 im Schloss Charlottenburg präsentiert. Zurzeit hängt das Werk im etwas größeren zweiten Raum der Ausstellung, der einen Eindruck von den Komponenten verschafft, die zusammenkommen mussten, damit eines der heute meistgeschätzten europäischen Bildwerke des 18. Jahrhunderts entstehen konnte: Vorbilder von Rubens (vor allem der zusammengerollte Hund, den Watteau zu seiner Signatur machte), Zeichnungen, mit denen er die Bewegungsformen der einzelnen Figuren studiert hatte, und grafische Abbildungen fürstlicher Kunstsammlungen, nach deren Vorbild der eigentlich schlichte Verkaufsraum nobilitiert wurde. In einer knappen Videoanimation – die relevante Phase dauert gerade mal eine Minute – werden die Eingriffe gezeigt, mit denen das Werk beschnitten, erweitert und wieder zusammengesetzt wurde. Für Jullienne war das Ladenschild so wichtig, dass er als Vorlage für seine Radierung eine eigenständige Version des Werks bei Jean-Baptiste Pater, dem prominentesten Schüler Watteaus, in Auftrag gab. Pater machte das sehr breite Original hochformatig, indem er die Wände des imaginären Raums erhöhte und sie mit Zitaten von bekannten Gemäldemotiven dekorierte – auch dieser Druck ist derzeit im Schloss Charlottenburg zu sehen.
In zwei weiteren Räumen werden Effekte der Wertschöpfung in den Kreativindustrien ausgelotet, die sich auf die der Werke Watteaus und ihre grafischen Reproduktionen zurückführen lassen. Im 18. Jahrhundert war die Wirkung auf repräsentative Raumdekoration am umsatzstärksten. Diese Dekoration umfasste sämtliche Gebrauchsgegenstände, Innenwände und -decken. Dafür brauchte es ein Repertoire von stilistisch zusammenhängenden Mustern und Ornamenten. In Watteaus Frühwerk fanden sich originelle Variationen der damals modischen, antik inspirierten Muster. Für eine wohlhabende Kundschaft bot der Handel sogenannte Ornamentstiche an, die entweder gerahmt präsentiert oder als Vorlage für ausgemalte Räume genutzt wurden. Hochadelige Kundschaft leistete sich Maler*innen, die auf Geschmack und Stil der Epoche spezialisiert waren und alles, vom Paravent über die Wände bis zum Ölbild, damit ausstatten konnten. Am Beispiel einiger Arbeiten von Antoine Pesne, dem Hofmaler Friedrichs II., wird solche Nachahmungskunst demonstriert. Selbst die Bildmotive des ausgestellten Geschirrs aus Friedrichs Porzellanmanufaktur gehen auf die erste Welle der Verbreitung von Fragmenten aus Watteaus Werken zurück. Sie reproduzieren Motive aus Druckvorlagen, die in der Ausstellung in all ihrer Verschlissenheit zu sehen sind. 1780, als diese Welle der dekorierten Gebrauchsprodukte Berlin erreicht hatte, wurde in Paris längst der Historienmaler Jacques-Louis David als Star der zeitgenössischen Szene gefeiert.
Die Wiederentdeckung Watteaus für die Kunstgeschichte durch Edmond de Goncourt weckte um 1875 die nötige gesellschaftliche Aufmerksamkeit, um dessen Motive erneut für Kreativbranchen attraktiv zu machen, insbesondere für Design, Werbegrafik und Mode. So wurden etwa Damenroben im Watteau-Stil entworfen. Darauf nimmt eine hier ausgestellte Kleiderkreation von Vivienne Westwood Bezug, bei der die opulenten Konturen und schimmernden Farbwerte der gemalten Roben auch haptisch erfahrbar werden. Noch ein zweites zeitgenössisches Werk setzt einen anspielungsreichen Kontrapunkt: Watteaus Ladenschild hängt gegenüber einem „Ladenschild“ des Schweizer Malers Thomas Huber für seinen Genfer Galeristen, mit ähnlicher Dimension, ebenfalls zwei Hälften in gemeinsamem Rahmen, ebenfalls signiert mit dem Rubens-Hund. Der Begleitband enthält ein Interview mit Hubers grundlegenden Reflexionen zur ständigen Veränderung von Kunstwerken und ihren Wirkungen.
Am westlichen Ende des Neuen Flügels wird die Einschiffung nach Kythera gezeigt, eines von Watteaus komplexesten Werken. Der Abstecher lohnt, weil hier Watteaus virtuose Fähigkeit, Bewegung auf die Leinwand zu bringen, deutlich erlebbar wird. Die Einschiffung ist eines von nur sechs Originalgemälden, die in der Ausstellung gezeigt werden, aber durch die kluge Kontextualisierung beginnen diese Werke auf neue Weise zu leuchten.
Die Ausstellung lädt dazu ein, Watteaus Bilder zeitgenössisch zu lesen – aktuell in ihren flüchtigen, fragmentarischen sowie fiktionalen Formen, aber auch durch ihre Einbettung in ein Geflecht der Leidenschaften und Interessen, die es damals wie heute möglich machten bzw. machen, dass derartige Werke im kollektiven Gedächtnis bleiben und dabei auch noch das Bruttosozialprodukt steigern.
„Antoine Watteau: Kunst – Markt – Gewerbe“, Schloss Charlottenburg, Neuer Flügel, Berlin, 9. Oktober 2021 bis 9. Januar 2022.
Michael Hutter, Professor em. am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), ist habilitiert als Ökonom, forscht als Soziologe und dilettiert als Kunsthistoriker.
Image credit: SPSG; Fotos 1. und 2. von Daniel Lindner, Foto 3. von Jörg P. Anders