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DEPRESENTATION Mine Pleasure Bouvar über Terre Thaemlitz in der Halle für Kunst Lüneburg

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

Eine konstruktivistische Identitätspolitik geht davon aus, dass Identitäten nicht essentialistisch gegeben sind, sondern aktiv durch politische (Sub-)Kulturen und Bewegungen hergestellt und praktiziert werden. Entsprechende Prozesse – wie die Subjektivierung, Artikulation und Repräsentation – spielen eine Schlüsselrolle im Werk von Terre Thaemlitz, deren jüngste Überblicksschau Mine Pleasure Bouvar hier in den Blick nimmt. Die Besprechung der Ausstellung mit persönlichen Erinnerungen verwebend führt Bouvar Theamlitz‘ dezidiert institutionskritische Praxis mit der eigenen Lebensrealität als trans* Person eng und verweist damit nicht zuletzt auf die Dringlichkeit, die die künstlerische Auseinandersetzung mit komplexen Repräsentations- und Kooptionsmechanismen nach wie vor hat.

Erstmals stieß ich 2015 auf Terre Thaemlitz, unter ihrem Alias DJ Sprinkles. Mein*e damalige*r Mitbewohner*in und ich hörten ihr Album Midtown 120 Blues rauf und runter – damals noch davon überzeugt, junge Männer und später mal als DJs selbst erfolgreich zu sein. Wir waren begeistert, wie sich das Album dem entzog, was als „Deep House“ gerade in den Clubs en vogue war, und suchten fasziniert in den Vocals von „Sister, I Don’t Know What This World Is Coming To“ und „Grand Central, Pt. I (Deep Into The Bowel Of House)“ nach den universellen Botschaften der House Music.

„There must be a hundred records with voice-overs asking, ‚What is house?‘ The answer is always some greeting card bullshit about ‚life, love, happiness‘. House is not universal. House is hyper-specific. The contexts from which the deep house sound emerged are forgotten: sexual and gender crises, transgender sex work, black market hormones, drug and alcohol addiction, loneliness, racism, HIV, ACT UP, Tompkins Square Park, police brutality, queer-bashing, underpayment, unemployment and censorship – all at 120 beats per minute.“ [1]

Mit „Reframed Positions“ luden die Kurator*innen Lawrence English, Elisa R. Linn und Ann-Kathrin Eickhoff die multidisziplinäre Künstlerin, Autorin und Aktivistin Terre Thaemlitz zu einer ortsübergreifenden Retrospektive ein. In der Halle für Kunst Lüneburg bot eine Überblicksausstellung Einblick in Thaemlitz‘ vielfältiges künstlerisches Werk, in Berlin wurde er ergänzt durch ein DJ-Set in der Panorama Bar, die Premiere der Performance Deproduction (2023) bei Callie’s und einen Live-Talk mit Lawrence English in der Volksbühne. In Thaemlitz‘ Arbeiten sind Fragen nach der Konstruktion von Identitäten in Relation zu kapitalistischen Produktionsweisen und den neoliberalen Diskursen, die diese stützen, zentral. Begehren, Geschlecht, Rassifizierung, Zugehörigkeit und andere Kategorisierungen werden im Kontext von Klassengesellschaft und globalen Hierarchien seziert. Dabei reflektiert Thaemlitz auch kritisch die eigene Position als Künstlerin und die Rolle der Räume und Institutionen, in und mit denen sie arbeitet. Im Gespräch mit Lawrence English in der Berliner Volksbühne meinte sie beispielsweise:

„I began referring to all art as ‚critique affirming its object‘, because no matter how precise and harshly critical one’s analysis may be, when it is funded by the same corporate or federal agencies one is criticizing, it all goes to show the benevolence and open-mindedness of the sponsors. […] I can understand the right to federal funding as a utopian democratic concept, but it also strikes me as a position of tremendous compromise.“ [2]

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

Dank eines umfänglichen 22-seitigen Transkripts, das im Onlinearchiv der Halle für Kunst zugänglich ist, bleibt die im Gespräch geäußerte kritische Positionierung auch nach Ablauf der Retrospektive nachvollziehbar. [3] In Lüneburg nimmt die Kuration auf Thaemlitz‘ Institutionskritik Bezug: Die Ausstellungsfläche ist abgedunkelt, ihre Wände sind geschwärzt; sie teilt eine deckenhohe Wand aus dunkelgrauen, an Beton erinnernde Schaumstoff-Kuben, um die ein Rundgang führt. Der Raum drängt sich auf. Alles setzt sich ab vom klassischen Kunstausstellungs-Setting in weißen Räumen, die vorgeben, sich der Aufmerksamkeit der Besucher*innen zu entziehen, um Platz für die Rezeption der Exponate zu machen, die aber oft genug in der Performance bourgeoiser Eleganz verhaftet bleibt.

2018 verglich mich ein „Freund“ mit DJ Sprinkles. Er sagte, wenn ich auflege, müsse er an sie denken – „der [sic] trägt auch manchmal Kleider beim Auflegen“. Sein Unverständnis für trans*weibliche Lebensrealitäten hielt ihn jedenfalls nicht davon ab, auf mein trans* Coming-out mit seinem Outing als Chaser [4] zu reagieren und mir bei einem Auftritt wenig später unangenehm nahe zu kommen – tranny life goals.

Thaemlitz fordert dominante Diskurse um das Thema Queerness heraus. [5] Sie selbst stellt sich entschieden gegen die neoliberalen, essenzialistischen Diskurse, die sexuelle Minderheiten zu repräsentativen Aushängeschildern des westlich-humanistischen Fortschritts machen. Im Gegensatz dazu macht Thaemlitz deutlich, wie umkämpft die Arenen sind, in denen Körper gemäß vergeschlechtlichten Vorstellungen von Produktion und Reproduktion, Familie und Bürgerlichkeit normiert werden. „Reframed Positions“ fokussiert diese Kämpfe. Mit Betreten des Ausstellungsraums in Lüneburg fällt der Blick auf Fuck Art (2020), einen großformatigen Digitaldruck aktivistischer Straßenposter von 1989 im Rapport, auf denen zu lesen ist: „AIDS IS KILLING. HOMOPHOBIA IS KILLING“– ein Zeugnis der Beteiligung Thaemlitz’ an den radikalen Widerständen von ACT UP [6] gegen den bürgerlichen Status quo und den Massenmord an Schwulen, trans*Frauen, armen Menschen, Sexarbeitenden und drogenabhängigen Personen durch staatlich verordnete medizinische Vernachlässigung in der AIDS-Pandemie der 1980er und 1990er Jahre. Das aktivistische Engagement wird im Rundgang der Ausstellung etwa auf der Hälfte erneut in Erinnerung gerufen, durch Happiness is … Choice und Happiness is … Women Loving Women (beide 1989), zwei Motive für T-Shirt-Designs, die Thaemlitz für den March for Women’s Lives anfertigte.

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

In der Ausstellung kommt mir Gayatri Spivaks Ausführung zur mehrfachen Lesbarkeit von Repräsentation in den Sinn, nach der diese Möglichkeiten aufzeigt, wie bestimmte Positionen für politisch, kulturell und sozial mächtige Institutionen sichtbar gemacht werden können bzw. woran dies scheitert. Repräsentation im Sinne politischer Vertretung – „with stronger suggestions of substitution“ [7] , also Unterwerfung unter die Logiken der institutionellen Apparate. Spivak beschreibt, wie Minderheitengruppen, gerade im Kontext globaler Hierarchien, oft abhängig sind von der Vertretung/Repräsentation durch Personen oder Institutionen mit mehr Deutungshoheit und somit Gefahr laufen, dass ihre Anliegen kompromittiert werden oder deren Erfüllung beispielsweise Hand in Hand geht mit letztlich imperialistischen Politiken. [8] Thaemlitz’ Beschäftigung mit Logiken der Repräsentation ist komplex. „Reframed Positions“ gibt dieser Auseinandersetzung in den audiovisuellen Stücken Deproduction (2017) und Soulnessless (2012) großzügig Raum. Deproduction erzählt unzählige Geschichten von Schicksalen im Graubereich reproduktiver Gerechtigkeit, häuslicher Gewalt und vergeschlechtlichter Marginalisierung durch das Versagen eines durch Austeritätsprogramme und Privatisierung geschwächten Sozialwesens. In Soulnessless ist ein ganzes Kapitel philippinischen Immigrant*innen in Japan gewidmet, die durch ihren undokumentierten Status nahezu rechtlos der Überausbeutung ausgesetzt sind. Thaemlitz legt zudem offen, wie sie als Künstlerin in der Verantwortung steht, die Anonymität der Interviewten zu wahren, um sie vor den japanischen Behörden zu schützen. Sie arbeitet sich am doppelten Boden repräsentationaler Politiken ab, erkennt die Notwendigkeit von Repräsentation an, ohne die bestimmte Personen ohne Stimme bleiben würden, und fragt kritisch nach der Rolle der eigenen privilegierten, repräsentativen Position. Die in „Reframed Positions“ gezeigten Arbeiten unterstreichen, wie wichtig die Darstellung von Partikularitäten verschiedener Perspektiven ist angesichts der Gefahr der Überschreibung oder Verflachung durch generalisierende Repräsentation: Die Frage, wem eine Stimme zugestanden wird, wird umgekehrt zu der Frage, wer zuhört. Ausstellungsbesucher*innen müssen bei Laufzeiten zwischen 60 und 90 Minuten ihre eigene Bequemlichkeit konfrontieren, wenn sie sich der Aufgabe des Zuhörens stellen wollen.

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 2023, Ausstellungsansicht

Ich begegnete ihr das erste Mal in einem Café um die Ecke. Sie erzählt mir, wie sie aus der Ukraine fliehen musste. Ich muss daran denken, wie LGBT+ in der ukrainischen Armee als Verteidiger*innen der westlichen Demokratie gefeiert und gleichzeitig diejenigen völlig vergessen werden, die in der cisnormativen Logik der Generalmobilmachung das Land nicht verlassen konnten und Angst vor der Rekrutierung haben mussten. Ich schlucke, überlege, ob sie eine der trans*Frauen ist, denen ich letztes Jahr geholfen habe, das Land zu verlassen.

In „Reframed Positions“ wird Thaemlitz’ treffende Kritik am liberalen Verständnis von Sichtbarkeit und Repräsentation als Mechanismus der Aufrechterhaltung imperial organisierter, globaler Marktverhältnisse deutlich. Gerade deshalb hinterlässt ihre Äußerung zur Transitionsmedizin im Talk mit English einen bitteren Beigeschmack. [9] Die Kurator*innen verpassten hier ihre Verantwortung, zu intervenieren, als die eingeladene Künstlerin unwidersprochen Argumente trans*feindlicher Desinformation zur angeblichen Gefahr pubertätsblockender Medikamente echote. [10] Thaemlitz’ antimedikalistischer Ansatz ist zwar verständlich, bleibt aber dennoch eine ideologische Verkürzung, die die materiellen Verhältnisse von trans* Personen mit dem Bedürfnis nach adäquater Gesundheitsversorgung übersieht. Das schmerzt mit Blick auf die miserable Versorgung trans*geschlechtlicher Menschen vielerorts und auf die Tatsache, dass aktuell regressive Kräfte mit der systematischen Verschlechterung dieser Situation an den antiqueeren Massenmord durch medizinische Vernachlässigung anzuknüpfen versuchen.

„Umgekehrt wäre es naiv und problematisch zu glauben, dieses Loslassen [von westlich geprägten, essenzialistischen Diskursen; Anm. d. A.] könnte uns die ideologischen Scheuklappen nehmen.“ [11]

Bevor ich das Handy an meinem letzten Arbeitstag zurückgebe, erreicht mich eine Nachricht von einer Person, die ich im Rahmen meiner Arbeit als Beraterin* für queere Gesundheit begleitet hatte: „Thank you so much! You will forever be in my heart. Without your work, I’d never had the chance to get medical care and come to the point where I am now.“

„Terre Thaemlitz: Reframed Positions“, Halle für Kunst Lüneburg, 11. Mai bis 16. Juli 2023.

Mine Pleasure Bouvar studierte irgendwas mit Kulturwissenschaften in Hildesheim und lohnarbeitete vier Jahre in der Gesundheitsversorgung von trans*, inter* und nichtbinären Personen. Sie* ist machtkritische, queerkommunistische politische Bildner*in mit Fokus auf trans* Feindlichkeit und trans* Misogynien. Außerdem ist they DJ*, Resident des Hamburger Salons Queertronique auf Kampnagel und graswurzelt sich über verschiedene Soziale Medien und analoge Netzwerke, um das Cistem zu unterwandern.

Image credit: Courtesy of Terre Thaemlitz und Halle für Kunst Lüneburg, Fotos Fred Dott

Anmerkungen

[1]Aus dem Intro-Track von Midtown 120 Blues (DJ Sprinkles, Mule Music, 2009).
[2]Terre Thaemlitz/Lawrence English, „Reframed Positions – Terre Thaemlitz in conversation with Lawrence English“, 13. Mai 2023, S. 1 (letzter Zugriff: 14. August 2023).
[3]Ebd.
[4]Chaser: Kurz für „tranny Chaser“, heterosexuelle cis Männer, die trans*weibliche Personen fetischisieren und ihnen sexualisierte Avancen machen, sie im Gegensatz zu cis Frauen aber nicht als mögliche Partner*innen in Betracht ziehen, sondern nur als sexuelles Abenteuer.
[5]Vgl. Thaemlitz/Englisch, S. 5.
[6]ACT UP, https://actupny.com/ (letzter Zugriff: 14. August 2023).
[7]Gayatri Chakravorty Spivak, „Can the Subaltern Speak?“, in: Can the Subaltern Speak? Gayatri Chakravorty Spivak/Estefania Penafiel Loaiza, Afterall Books, London 2020, S. 18.
[8]Spivak spricht in dem Zusammenhang von „gender and development United Nations style“, ebd. S. 9f.
[9]Thaemlitz/Englisch, S. 6.
[10]Angesichts des trans*feindlichen Kulturkampfes stellt die US-amerikanische National Association of Social Workers Ressourcen zur Verfügung, um gefährliche Mythen, wie die angebliche Gefahr pubertätsblockender Medikation, zu dekonstruieren. Siehe hier (letzter Zugriff: 14. August 2023).
[11]Terre Thaemlitz, „Statement of Purpose. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Inhalte in japanischer elektronischer Musik“, in: Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik, hg. von club transmediale/Meike Jansen, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005. S. 122.