INSTITUIEREN FÜR EINE POSTMIGRANTISCHE GESELLSCHAFT Nina Möntmann über die Neuausrichtung des Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Berlin ist zurzeit einer der Schmelztiegel in der nördlichen Hemisphäre, was neue und wegweisende Initiativen im Kunstfeld mit einem Fokus auf nichtwestliche, diasporische und postmigrantische Positionen betrifft. Häufig arbeiten diese Initiativen mit einer erweiterten Perspektive auf ökologische, dekoloniale, feministische oder queere Themen und Fragestellungen sowie einer experimentellen, partizipativen und forschungsbasierten Ausrichtung. Auch wenn sie in sehr unterschiedlicher Weise operieren, so bilden diese neuen Orte gemeinsam betrachtet eine Verlagerung im Kunstfeld hin zu einer personellen Diversität und inhaltlichen Orientierung an außereuropäischen Diskursen und globalen Verflechtungen. Beispiele sind Spore Initiative, der Buch- und Veranstaltungsraum Hopscotch oder das Projekt Dekoloniale, um nur einige wenige zu nennen, und nun eben das neu aufgestellte HKW, auf das sich große internationale Aufmerksamkeit richtet.
Ein wichtiges Fundament für diese Entwicklung in Berlin hat der seit diesem Jahr neue Direktor des HKW selbst schon 2009 mit der Eröffnung des Raums Savvy Contemporary bereitet. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat dort mit seinem Team einen konvivialen Ort geschaffen, an dem sich mit Ausstellungen, Performances, Filmvorführungen, einem partizipativen Archiv, Lesegruppen sowie Künstler*innenresidenzen und internationalen Kooperationen ein vielstimmiger dekolonisierender Diskurs entwickeln konnte. Es ist bezeichnend, dass im HKW-Team neben Ndikung, der neben der Leitung von Savvy zahlreiche Biennalen kuratiert hat, auch die meisten anderen Kurator*innen breite Erfahrungen mit der Direktion kleiner Kunsträume und periodischer Ausstellungen haben. So leitete beispielsweise Cosmin Costinaş den Raum Para Site in Hong Kong und kuratierte unter anderem die Triennale in Kathmandu, 2022, und co-kuratierte die DAK’ART Biennale in Dakar, 2018. Marie-Hélène Pereira war zuvor Programmdirektorin der RAW Material Company in Dakar; und die stellvertretende Leiterin des HKW, Henriette Gallus, war als Presse- und Kommunikationschefin bei der Documenta 13 und 14 sowie als stellvertretende Intendantin beim steierischen herbst in Graz tätig.
Diese signifikante Zusammensetzung des kuratorischen Teams hat schon vor der Neueröffnung im Juni diesen Jahres ahnen lassen, dass die spezifischen Möglichkeiten und Bedingungen, der „unstable institutions“, wie Carlos Basualdo in einem viel beachteten Text von 2009 die zu jener Zeit boomenden globalen Biennalen bezeichnete, am HKW fortgeführt werden sollen. Die Eigenschaften, die Basualdo für periodische Ausstellungen ausgemacht hat, „tentative, incomplete, and always subject to negotiations and readaptations“ [1] , treffen ebenso auf kleinere Kunstinstitutionen zu. Während diese Organisationen und Initiativen mit flexiblen Infrastrukturen agieren, stagnieren die größeren Museen, die man anknüpfend an Basualdo als „stable institutions“ bezeichnen kann, häufig in einem Cluster von Abhängigkeitsverhältnissen und Erwartungshaltungen und werden von ihrer „Starchitecture“ stark eingeschränkt. Jedenfalls habe ich die teilweise überbordend enthusiastischen Stimmen von Museumsdirektor*innen und Kurator*innen bei der Eröffnung der „documenta fifteen“ auch darauf zurückgeführt, dass sie dort eine gesellschaftliche Relevanz der Kunst innerhalb eines konvivialen sozialen Gefüges erlebt haben, der sie selbst auch in ihren Institutionen Raum geben wollen, dabei aber an den starren Hierarchien und Infrastrukturen sowie den ausbremsenden bürokratischen Abläufen der Museen und den interessengeleiteten Erwartungshaltungen der Geldgeber*innen scheitern.
Nun lässt sich das HKW nicht eindeutig als eine geläufige Institutionsform einordnen, gleichwohl es Aufgaben und Möglichkeiten verschiedener Institutionen vereint. Mit einer Geschichte als diskursiver multidisziplinärer Ort, ohne eigene Sammlung und mit einem mehrheitlich aus Bundeskulturmitteln und Stiftungen bestehenden Finanzierungskonzept ist das Verhältnis von Freiräumen und Abhängigkeiten anders verteilt als bei den meisten öffentlichen oder privaten Museen, die auf Profit angewiesen sind, eine Marke bewerben sollen oder einen hohen visitors count abliefern müssen. Zudem bestand für die neue Leitung die Möglichkeit, Carte blanche auszuspielen anstelle der in den meisten Museen üblichen Übernahme starrer Infrastrukturen und alter Verträge sowie der Fortführung einer durch verschiedene Interessen geformten institutionellen Linie.
Ndikung hat mit einem klugen Einstieg begonnen, der das Bewahren erfahrener Kooperationen im Team mit tiefgreifenden strukturellen Veränderungen verbindet. So hat er beispielsweise im technischen und kunstvermittelnden Team auf Kontinuität gesetzt und gleichzeitig die notwendige Abschaffung der weitgehend autonom agierenden drei Abteilungen bildende Kunst und Film, Musik und Performing Arts sowie Literatur, Gesellschaft, Wissenschaft vorgenommen. Das stark erweiterte kuratorische Team, dessen biografische und professionelle Erfahrungen verschiedenste Teile des Globus vertreten, arbeitet transdisziplinär, wobei das Kuratorische nicht als auktoriale Herausforderung aufgefasst wird.
Die große Wiedereröffnung lässt sich als programmatisch für die neue Ausrichtung des HKW verstehen. Schon die Umbenennung der einzelnen Säle, Büros, Treppen und Foyers mit Namen von Frauen, die in intersektionaler Ausgrenzung von der Geschichte übergangen wurden, hat enorme Eindringlichkeit. Die Infrastruktur wird hier zum Bestandteil kuratorischen Handelns. Miriam Makeba Auditorium, Sylvia Wynter Foyer oder Gloria Anzaldúa Treppe, die Namen dieser Frauen werden ständig ausgesprochen, in Programmheften abgedruckt und gehen selbstverständlich in den Alltag der Institution und das Bewusstsein ihrer Besucher*innen über. Auf der HKW-Website findet sich der schöne Satz: „Wir hoffen, dazu beitragen zu können, Geschichte(n) anders zu schreiben sowie Leben und Werk dieser Frauen zu würdigen, indem wir sie der Infrastruktur dieses historischen Gebäudes einschreiben.“ [2] Treffender kann man kaum agieren und implizieren, wie es um die Infrastrukturen in den meisten Kunst- und Kulturinstitutionen bestellt ist: patriarchalisch, hierarchisch, ein westlich-kanonisches Wissen konservierend. Der dezentrierende Ansatz des HKW wird genau an dieser sensiblen Stelle der Infrastruktur wohl von Dauer sein, denn welche Signale würde eine Rücknahme der Umbenennungen unter einer zukünftigen neuen Leitung aussenden?!
Der Titel der Wiedereröffnung vom 2. bis 4. Juni 2023, „Acts of Opening Again: A Choreography of Conviviality“, liest sich ebenfalls programmatisch für den Neubeginn: Choreografieren statt Kuratieren, Conviviality statt Rezeption, und dies in diversen parallelen Akten multipler Autor*innenschaft anstelle einer großen Ausstellungseröffnung. Die Resonanz war beachtlich. Bei einer Führung des Direktors Ndikung durch das erste Projekt „O Quilombismo“ boten die ungefähr zweihundert Teilnehmer*innen einen Querschnitt der demografischen Diversität Berlins. Wenn Ndikung davon sprach, dass die vier Millionen Einwohner*innen Berlins, die aus 172 verschiedenen Ländern in die Stadt gelangt seien, [3] das neue HKW formen sollten, so fand das in dieser Begegnung Anklang.
Dieser, nach einem lang erwarteten Eröffnungswochenende bei traumhaftem Wetter und mit internationalen Gästen sich vielleicht noch relativ leicht einstellende Erfolg wird in der darauffolgenden Phase der institutionellen Etablierung herausgefordert werden, in der sich zeigen wird, wie die Aktivitäten des HKW längerfristig angenommen werden. An diesem Punkt stellt sich die zentrale Frage, was die Institution der Zivilgesellschaft (auf Dauer) anbieten kann.
Zunächst ist zu fragen: Welche Idee von Gesellschaft wird zugrunde gelegt? Wenn die Gesellschaft als eine postmigrantische ausgemacht wird, was unter anderem Ndikungs erwähnte Äußerung zur Rolle der Diversität Berlins in seinem Programm nahelegt, dient der im Eröffnungstitel erwähnte Begriff der Conviviality als sinnvoller Einstieg. Naika Foroutan geht davon aus, dass „postmigrantische Gesellschaften von Aushandlungen, Ambivalenzen, Antagonismen und Allianzen gekennzeichnet“ sind, und spricht sich für eine „konviviale Integration in postmigrantischen Gesellschaften“ aus. [4] Der Soziologe Erol Yildiz fasst die postmigrantische Perspektive zudem als gegenhegemoniale Strategie auf, die „andere Bilder, Repräsentationspraktiken und Vorstellungen von Subjektivität, kurz gesagt, ein anderes Geschichts- und Gesellschaftsverständnis generiert“. [5] Beide Aspekte sind für die Instituierungsprozesse des neuen HKW relevant.
So nimmt sich das Haus auch konfliktbehafteter aktueller Diskurse der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland bzw. konkret in Berlin an. Verschiedene Formate, die mir in vielerlei Hinsicht besonders relevant erscheinen, befassen sich mit dem Thema Erinnerung: Wie diese in einer postmigrantischen Gesellschaft definiert, praktiziert und geteilt werden kann, ob und auf welche Weise sie Gemeinschaft stiften kann oder Ausgrenzungen provoziert, dies wird, vorsichtig formuliert, aktuell äußerst umstritten diskutiert. Anstelle eines offenen konfliktreichen Austauschs werden immer wieder Veranstaltungen abgesagt und mit voreingenommen erlassenen Sanktionen ein möglicherweise produktives Ausagieren von Konflikten nicht zugelassen. Das HKW versucht dagegen in dem ihm gegebenen Rahmen solche heterogenen Erinnerungsräume herzustellen. Besonders relevant erscheint mir in diesem Zusammenhang der Veranstaltungstag „Almost Blind. Chile 1973/2023“ sowie Max Czolleks Gesprächsreihe „Versöhnungstheater“.
Czollek stellt hier, so wie er es bereits in seinem gleichnamigen Buch getan hat, die Aufrichtigkeit der Holocaust-Erinnerung in Deutschland infrage. Ob das von ihm so bezeichnete „Versöhnungstheater“ an den eigentlichen Bedürfnissen derjenigen, deren Opfer betrauert werden, vorbeigeht, diese Frage trifft im Kern auf das Dilemma deutscher Erinnerungskultur und darf als Blaupause für die Veranstaltungsreihe gesehen werden. So hat sein Gespräch mit der Historikerin und Direktorin des NS-Gedenkzentrums in München, Mirjam Zadoff, das heiße Eisen der multidirektionalen Erinnerung aufgegriffen. Zadoff zeigt, wie sie es bereits in ihrem neuen Buch Gewalt und Gedächtnis vorgelegt hat, die historischen Verflechtungen von Gewalterfahrungen auf, die, wenn sie als solche anerkannt werden, eine gemeinsame global gedachte Erinnerungskultur stiften. Im Unterschied zu dem sogenannten Historikerstreit 2.0, der einen polemisierenden Effekt auf die Erinnerungsdebatte in Deutschland hatte, konnte Zadoff in der Diskussion mit Czollek eher implizit darlegen, dass eine globale Erinnerungskultur weniger mit Konkurrenz als mit Anerkennung, Austausch und integrativen Ritualen zu tun hat.
Die Notwendigkeit von Gedenken an historische Ereignisse im Hinblick auf ihr Fortwirken und ihre Aktualisierung in der (globalen) Gegenwart war auch Thema des „multidisziplinären Tags des Gedenkens“ an den Coup d’État, der am 11. September 1973 in Chile stattfand. „Almost Blind. Chile 1973/2023“ hat mit Vorträgen, Lesungen, Screenings und Gesprächen an jenes Ereignis erinnert, an dem vor 50 Jahren der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende gestürzt und durch den einer Militärdiktatur vorstehenden General Augusto Pinochet ersetzt wurde. Unter der Wirtschaftsberatung der Chicago Boys – chilenische Wirtschaftswissenschaftler, die sich während ihres Studiums in Chicago die Konzepte des freien Markts von Milton Friedman und Friedrich August von Hayek angeeignet hatten – wurde Chile daraufhin zum globalen Versuchslabor des Neoliberalismus und in der Folge heute zum Land der weltweit ungerechtesten Wohlstandsverteilung. Das chilenische Solidaritäts-Netzwerk erinnert an den Militärputsch mit einer jährlichen Versammlung am Brandenburger Tor. Das HKW hat, wie Bonaventure Ndikung betont, zunächst diese Versammlungen besucht und daran teilgenommen, bevor das Netzwerk eingeladen wurde, in diesem Jahr gemeinsam mit der in Santiago de Chile geborenen Kuratorin Paz Guevara Veranstaltungen im HKW zu organisieren. [6] Eben auch auf Spanisch und nicht nur auf Englisch und Deutsch wurden die ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Coup d’État thematisiert, wobei die Ablehnung des Verfassungsreferendums 2022 nach der großen Revolte von 2019 von einer nichtfunktionierenden Erinnerungskultur in Chile zeugt. An diesem konkreten Beispiel wird auch die Notwendigkeit einer globalen Erinnerungskultur deutlich, für die Mirjam Zadoff eintritt.
Die erste Ausstellung „O Quilombismo“ habe ich als ein erweitertes, polyphones Narrativ der neuen programmatischen Ausrichtung des HKW wahrgenommen, in dem sich Erinnerungskultur mit Befreiungsansätzen verschränkt. Ihre Geschichten waren mit den anderen Veranstaltungen, Diskussionen und Begegnungen verwoben; sowohl inhaltlich, affektiv als auch räumlich, da sie inner- und außerhalb, das ganze Gebäude umfassend, stattfanden. „O Quilombismo“ konnte in seiner überbordenden materiellen Präsenz als Entladung der Emotionen einer kollektiven Befreiung erfahren werden. Eine Befreiung, die an die vielstimmigen Erinnerungen und die Gewalterfahrungen, die in den einzelnen Kunstwerken thematisiert wurden, anknüpft und aus ihnen erwächst.
Schon in den ersten Monaten führte das neue HKW vor, dass die eingangs erwähnte Gegenüberstellung von „stable“ und „unstable institutions“ in einer Kulturinstitution für eine postmigrantische Gesellschaft zur Disposition steht. Denn der Einführung flexibler Infrastrukturen in eine bürokratische Institution, der transdisziplinären Arbeit eines aus einem globalen Kontext zusammengestellten Teams und dem Umgang mit kollektiver Geschichte als allgegenwärtiger Erinnerung wohnt das Potenzial inne, die Institution zu dezentrieren. In Bezug auf die Zukunft anthropologischer Museen bin ich versucht, mir diese als antirassistische Kulturzentren vorzustellen. Die meisten von ihnen sind sicher noch sehr weit von dieser Idee entfernt, während sich das HKW genau auf dem Weg dorthin maßgeblich positioniert.
Weitere Texte zum Thema haben Luce DeLire und Kathy-Ann Tan beigetragen.
Nina Möntmann ist Professorin für Kunsttheorie an der Universität zu Köln. Sie ist PI am Global South Studies Center der UzK und Kuratorin. Ihre letzte Publikation ist Decentring the Museum. Contemporary Art Institutions and Colonial Legacies (London 2023).
Image credit: 1. Courtesy Apalazzo Gallery, White Cube Gallery, and Red Clay Studio Tamale, Foto Nin Solis/HKW, Berlin; 2. Courtesy of the artist; Foto Nin Solis/HKW, Berlin; 3. Foto Mathias Völzke/HKW, Berlin
Anmerkungen
[1] | Carlos Basualdo, „The Unstable Institution“, in: Marieke van Hal/Victor Misiano/Igor Zabel (Hg.), Manifesta Journal, 2: Biennials (Winter 2003–Herbst 2004), S. 138–149. |
[2] | https://www.hkw.de/the-house/the-building/resignifying-hkw. |
[3] | Ein an vielen Stellen von Ndikung geäußerter Satz, den er auch in einem Zoom-Gespräch mit der Autorin am 27.9.2023 erwähnte. |
[4] | Naika Foroutan, „Konviviale Integration in Postmigrantischen Gesellschaften“, in: Frank Adloff/Volker M. Heins (Hg.), Konvivialismus. Eine Debatte, Bielefeld 2015, S. 205–215, hier: S. 207. |
[5] | Erol Yildiz, „Postmigrantische Perspektiven: Aufbruch in eine neue Geschichtlichkeit“, in: Ders./Marc Hill (Hg.), Nach der Migration: Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld 2014, S. 19–36, hier: S. 23. |
[6] | Bonaventure Ndikung im Zoom-Gespräch mit der Autorin am 27.9.2023. |