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DAS URTEIL DER PARIS BAR Von Philip Ursprung

Martin Kippenberger, „Paris Bar“, 1991/92

Martin Kippenberger, „Paris Bar“, 1991/92

Die Idee von Künstler*innen als glorifizierten Solo-Selbstständigen, die allein im Atelier ihren Ideen Form geben, hält sich – obwohl die seit der Renaissance übliche Arbeitsteilung im künstlerischen Werkstattbetrieb durchaus ihre Fortsetzung in zeitgenössischen Künstler*innenstudios findet. Die Arbeit, die Mitarbeitende hier leisten, bleiben durch diese Vorstellung oft unsichtbar. Im Fall von Götz Valien, der in den frühen 1990er Jahren zwei Auftragsarbeiten für Martin Kippenberger malte, stand der Name der ausführenden Hand zwar auf dem Bild, doch sein Urheberrecht erstritt sich der Künstler erst in diesem Sommer. Wie dieses Urteil historisch einzuordnen ist und welches Potenzial es birgt, legt der Kunst- und Architekturhistoriker Philip Ursprung in seinem Kommentar dar.

Im August 2023 hat das Landgericht München den Rechtsstreit zwischen dem Berliner Künstler Götz Valien und dem Estate Martin Kippenberger entschieden. Valien hatte Anfang der 1990er Jahre als Maler einer Berliner Kinoplakatfirma nach der Vorlage einer Schwarz-Weiß-Fotografie von Martin Kippenberger zwei großformatige Gemälde geschaffen. Das eine zeigt die menschenleere Paris Bar mit Kunstwerken an der Wand, das andere dieselbe Bar mit dem ersten Gemälde als Bild im Bild. Valien signierte beide jeweils an zwei Stellen. Sein Name wurde allerdings nie neben demjenigen von Kippenberger als Urheber des Gemäldes genannt. Der Estate ist nun verpflichtet, Valien als Miturheber der Gemälde Paris Bar (Version 1) (1992) und Paris Bar (Version 2) (1993) anzugeben. Umgekehrt darf Valien das Gemälde Paris Bar (Version 3), eine geringfügig veränderte Version von Paris Bar (Version 1), die Valien zwischen 1993 und 2010 malte und die er 2012 in der Kunsthalle Brennabor in Brandenburg an der Havel und 2022 in der Ausstellung „Götz Valien: Lieber Maler“ im Berliner Haus am Lützowplatz unter seinem Namen zeigte, nicht als sein eigenes Werk bezeichnen. Der Entscheid des Landgerichts betrifft die Frage der Urheberschaft, nicht aber die Frage allfälliger finanzieller Ansprüche des Klägers.

Die meisten deutschsprachigen Medien berichteten unmittelbar nach dem Urteil. Woher rührt das breite Interesse an diesem Fall? Eher nebensächlich ist die Künstlerperson Kippenbergers, der heute, bald 30 Jahre nach seinem Tod im Jahre 1997, zwar eine kanonische Position in der jüngsten Kunstgeschichte einnimmt, aber einer breiteren Öffentlichkeit wenig bekannt ist. Das Interesse rankt sich auch nicht nur um das Geld. Zwar erwähnten fast alle Medien, dass Valien für seinen Auftrag seinerzeit bescheidene 1.000 DM erhalten habe und dass das von ihm gefertigte, lange in der Berliner Paris Bar platzierte Paris Bar (Version 1) 2009 für ca. 2,7 Millionen Euro versteigert wurde. Aber astronomische Preissteigerungen für zeitgenössische Kunst sind längst selbstverständlich. Ausschlaggebend für das Interesse an dem Urteil ist vielmehr die Frage der Urheberschaft. Bereits nach der Auktion von 2009 hoben die Medien nicht so sehr den erzielten Preis als vielmehr die Tatsache, dass das Werk „nicht eigenhändig“ war, hervor. „Millionen für ‚falschen‘ Kippenberger sind legitim“, titelte damals die Welt. [1] Und Nora Reinhardt kritisierte im Spiegel, dass das Auktionshaus Christie’s nicht nur das Datum (1991 statt 1992) und die Technik (Öl statt Plakatfarbe) falsch angegeben hatte, sondern auch nicht herausfinden konnte oder, angesichts von Valiens Signaturen, nicht wollte, wer es gemalt hatte. „Darauf kommt es doch nun wirklich nicht an“, wurde der International Director zitiert. [2]

„Natürlich kommt es darauf an!“, möchte man heute entgegnen. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass in der bildenden Kunst noch immer hartnäckig an der Idee der alleinigen Urheber*innenschaft festgehalten wird. Während die Interaktion mit dem Kunstpublikum und die Reflexion der Ausstellungsinstitutionen seit Jahrzehnten im Zentrum des Interesses stehen, bleibt die Arbeit in den Künstler*innen-Ateliers im Dunkeln. In den Naturwissenschaften ist es selbstverständlich, dass alle an einem Paper beteiligten Forschenden als Ko-Autor*innen genannt werden. Wer als Professor*in bzw. als first author die Mitwirkenden nicht nennt, muss mit universitären Disziplinarmaßnahmen rechnen. In Filmen ist seit den 1940er Jahren die Nennung aller Beteiligten in den opening oder den closing credits geregelt. [3] In der Architektur wird als Urheber*in in der Regel der Firmenname des Architekturbüros angegeben; und dazu werden die Projektpartner*innen benannt. Auf den Websites von Architekturbüros finden sich die Namen der aktuellen und früheren Mitarbeitenden. Ganz anders in der bildenden Kunst. Auf Ausstellungsetiketten und in Katalogen steht stets nur ein Name. Und auch die Websites der international tätigen Künstler*innen erwähnen – mit der Ausnahme des Studios Olafur Eliasson in Berlin, wo das gesamte aktuelle Team aufgelistet ist – fast nie die Mitarbeitenden.

Erprobung der Arbeit „Rainbow assembly” im Studio Olafur Eliasson, 2016

Erprobung der Arbeit „Rainbow assembly” im Studio Olafur Eliasson, 2016

Für die Diskussion der zeitgenössischen Kunst ist Valiens Klage erhellend, weil sie die Distinktion innerhalb der Kunstwelt deutlich macht. Heute erfolgreiche Künstler wie Michael Krebber oder Merlin Carpenter, die um 1990 bei Kippenberger assistierten, haben, zumindest rückwirkend, keinen Grund zur Klage. Ihre Tätigkeit im Atelier wurde zwar auch nicht genannt, aber sie durften unter eigenen Namen mit Kippenberger ausstellen bzw. waren an seinen Aktionen mehr oder weniger auf Augenhöhe beteiligt. Für jemanden wie Valien, der auf Honorarbasis zwei Gemälde anfertigte, war die Situation eine andere. Ausgebildet an der Universität für angewandte Kunst Wien und ab den späten 1980er Jahren tätig im, von ihm selbst so bezeichneten, Stil des „virtuellen Realismus“, stand seine Position konträr zu Kippenbergers schulbildendem „Bad Painting“. [4] Natürlich kann die Leistung von Valien nicht außerhalb des kunsthistorischen Kontextes gesehen werden: Ohne das Œuvre von Kippenberger, ohne dessen explizite Entscheidung, während einer bestimmten Zeitdauer Gemälde von anderen ausführen zu lassen, ohne dessen Rolle in der Berliner Kunstszene der frühen 1990er Jahre und der Paris Bar als deren Schauplatz sowie ohne seine Ausstellung von Kunstwerken aus seinem Umfeld in der Bar würde es die drei Versionen von Paris Bar gar nicht geben. Es ist deshalb klar, dass Valien, wie auch das Münchner Gericht bestätigte, nicht die Urheberschaft für Paris Bar (Version 3) (2010) beanspruchen kann. Ob, wenn Kippenberger 1992 entschieden hätte, Valien als Ko-Autor zu nennen, dies Valiens künstlerische Laufbahn positiv beeinflusst hätte, muss Spekulation bleiben.

Das Münchner Urteil erinnert an einen Prozess, der zu den Gründungsmythen der modernistischen Kunst gehört, den Rechtsstreit von James McNeill Whistler gegen John Ruskin in London 1878. Whistler hatte Ruskin wegen Beleidigung verklagt, nachdem dieser in einem Aufsatz polemisch kritisiert hatte, dass Whistler 200 Guineen verlangt habe, um dem Publikum einen Eimer Farbe ins Gesicht zu schleudern. Von einem Verteidiger gefragt, warum er so viel Geld verlange, wenn die Anfertigung eines Gemäldes nach seinen eigenen Angaben nur zwei Tage dauere, antwortete er, dass er den Betrag für das Wissen fordere, das er sich in lebenslanger Arbeit erworben habe. [5] Der Prozess, bzw. die Antwort von Whistler, ist emblematisch für eine grundlegende Konvention der modernistischen Kunst; die Auffassung, dass das Wissen höher als das Handwerk zu bewerten ist, unabhängig davon, ob dieses Handwerk von Künstler*innen selbst oder jemand anderem ausgeführt wird. Der Prozess markiert einen Meilenstein in der Etablierung der Abstraktion als eines zentralen Wertkriteriums. Ruskin als notorischer Kritiker der Modernisierung und der Auswirkungen des Industriekapitalismus auf die Kultur verlor damals den Prozess. Whistler steht seither symbolisch für den Triumph des Modernismus, Ruskin für eine reaktionäre Kunstauffassung.

James McNeill Whistler, „Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete“, 1875

James McNeill Whistler, „Nocturne in Schwarz und Gold: Die fallende Rakete“, 1875

Auch wenn es zu weit führt, Kippenberger mit Whistler und Valien mit Ruskin zu vergleichen: Im Prinzip geht es damals wie heute bei dem Streit auch um die Frage der Prekarisierung von handwerklicher Arbeit im Kapitalismus. Das Münchner Urteil macht einen blinden Fleck der zeitgenössischen Kunst sichtbar: ihre autoritäre Produktionsstruktur und die ungeregelten Arbeitsbedingungen in den Ateliers erfolgreicher Künstler*innen. Unter dem Aspekt der rückwirkenden Gerechtigkeit, die derzeit die Kulturdiskussion befeuert, rückt auch die Rolle der Mitwirkenden neu ins Licht. Die finanziellen Risiken während der Covid-19-Pandemie wogen für viele freischaffende Künstler*innen schwer. Dass Hito Steyerl 2021 das Bundesverdienstkreuz als Kritik gegenüber dem Umgang der Politik mit Kultur und Bildung während der Pandemie ablehnte war ein mutiger Schritt. Er machte zugleich deutlich, dass die Mitarbeitenden in den Künstler*innen-Ateliers, im Unterschied zu den Mitarbeitenden in Film und Theater, keine Lobby haben. Ein Streik, wie aktuell bei den US-amerikanischen Drehbuchautor*innen, ist im Bereich der Künstler*innen-Ateliers schwer vorstellbar.

Die Mitarbeitenden der Ateliers nehmen gezwungenermaßen Ausbeutung und Selbstausbeutung stärker als andere, arbeitsteilig und reglementiert organisierte Berufe in Kauf, weil die Produktionsbedingungen der bildenden Kunst von der Gesellschaft nach wie vor als Sonderfall, quasi am Rande oder außerhalb der Ökonomie, aufgefasst werden. (Whistler gewann zwar 1878 den Prozess gegen Ruskin, erhielt aber vom Gericht lediglich einen Viertel-Penny als Schadenersatz zugesprochen.) Es ist nicht zu erwarten, dass eine Klagewelle über die Kunstwelt hereinbricht. Die Risiken von Prozessen sind groß. Aber wenn die Diskussion um das Münchner Urteil dazu beiträgt, die Bedingungen der Mitarbeitenden klarer zu sehen und zu verbessern, haben alle in diesem Prozess gewonnen.

Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Zuletzt erschien Joseph Beuys: Kunst Kapital Revolution (C. H. Beck, München, 2021) und Gordon Matta-Clark. An Archival Sourcebook, hg. mit Gwendolyn Owens (Berkeley, University of California Press, 2022). 2023 verantwortet er gemeinsam mit Karin Sander die Ausstellung „Neighbours“ im Schweizer Pavillon der 18. Architekturbiennale Venedig.

Image credit: 1. Courtesy Estate of Martin Kippenberger / Galerie Gisela Capitain, Köln; 2. © 2016 Olafur Eliasson, courtesy Studio Olafur Eliasson, Foto María del Pilar García Ayensa, ; 3. Public Domain

Anmerkungen

[1]Gerhard Charles Rump, „Millionen für ‚falschen‘ Kippenberger sind legitim“, in: Die Welt, 27.10.2009.
[2]Nora Reinhardt, „Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild“, in: Der Spiegel, 44, 2009, 25.10.2009.
[3]Ich danke Max Glauner für diesen Hinweis.
[4]Götz Valien, Lieber Maler, Broschüre zur Ausstellung „Lieber Maler“, Haus am Lützowplatz, Berlin, 2022, S. 10.
[5]„[Attorney General Sir John] Holker: ‚The labor of two days is that for which you ask two hundred guineas?‘ [James McNeill] Whistler: ‚No, I ask it for the for knowledge I have gained in the work of a lifetime.‘ (Applause)“, in: Linda Merill, A Pot of Paint, Washington, D. C., Smithsonian Institution Press, 1992, S. 148.