DIE HERALDIK DER KORALLE Raphaela Vogel über Merlin Carpenter bei JUBG, Köln

„Merlin Carpenter: Polite“, JUBG, Köln, 2025
Angenommen, die gewaltigen Kokslines von Merlin Carpenter verhielten sich zu durchschnittlichen Kokslines wie ein durchschnittlich großer Penis zur Größe des Penis des Todes, dann könnte man zumindest beruhigt sein, dass der Penis des Todes nicht unendlich groß ist. Aber man würde sich wohl bestätigt sehen, dass der Tod auch ein verdammter Angeber ist. „DEATH HAS THE BIGGEST DICK OF ALL“, wie es uns die Dichterin Ariana Reines lehrt.
Merlin Carpenters Ausstellung „Polite“ in der Kölner Galerie JUBG ist blutrot, und das nicht von blutigen Nasen. Sie hat wohl kaum direkt mit dem Tod und sicher nicht mit meiner eigenen Arbeit zu tun. Doch wenn sich jemand ganz anders ausdrückt und man das selbst auch versteht, dann kann aus einer gewissen Vergleichbarkeit dennoch ein Gebrauchswert entstehen. Ich schreibe dies also, weil ich eine Verbundenheit mit Carpenters Herangehensweise fühle, obwohl diese nicht daher rührt, ähnliche Arbeiten zu machen und in verwandten Genres zu operieren.
Nun wollte ich auch nicht in die Falle tappen, mich als letzte Studistin (Jahrgang 88) in die lange Schlange der vor der Prä-Rollatorenclique (Jahrgänge 60 bis 75) Wartenden einzureihen (Carpenter ist schon in 51 unterschiedlichen TZK-Texten erwähnt und gefeiert worden): Während diese Generation an der Degeneration meiner arbeitete, wurde auch sie – wurdet also ihr, als Mitglieder dieser Clique – mit schuld daran, dass aus mir was werden konnte, indem ihr auf Michael Snow, Michael Asher oder Morgan Fisher gezeigt habt.
Mich beeinflusst aber die akademisch politisierte Kunstszene generell immer weniger, solange sie nicht in Verbindung steht mit einer aktiven politischen Haltung. Ich war als Jugendliche stark in politischen Gruppen engagiert, das führt zu einer ganz anderen Form von Ideologiekritik. Ich habe in besetzten Häusern gelebt und war bei der Antifa aktiv. Eine vergleichbare Auseinandersetzung vermisse ich in der politischen Kunstwelt. Andererseits würde mir die aktive Politikszene, wie ich sie kenne, keinen Raum geben, künstlerisch zu arbeiten.
Es gab in Carpenters Ausstellung unter anderem um 90 Grad gekippte Bildmotive, zum Beispiel ein Still aus dem Kriegsfilm Schlacht im Korallenmeer (1959). Vielleicht lässt sich daran illustrieren, von welcher Verwandtschaft ich rede. Ich habe das auch schon gemacht, allerdings mit Skulpturen. Bei mir entspricht dieses Kippen einer Semi-Entthronung, der Vorstellung einer Drehung im Uhrzeigersinn. Anders als bei zweidimensionalen Darstellungen korreliert die Zeitlichkeit, das Um-die-Skulptur-Herumgehen, mit der zeitlichen Erfahrung der Betrachter*innen, meiner biografischen Zeitlichkeit und der des Zeitmediums Musik – es geht also um die pointierte Herausarbeitung einer Eigenschaft, die eh in der Skulptur steckt, aber nicht in einer gehorsam-modernistischen Art, sondern über eine Art Witz. In Carpenters Installation wird durch das 90-Grad-Kippen die Zeitlichkeit filmischer Effekte wie Kameraschwenks aufgerufen. Darüber hinaus kommen Mittel wie Serialisierung (durch die vielen Diptycha) und Inversion zum Einsatz.

„Merlin Carpenter: Polite“, JUBG, Köln, 2025
Ich betrete bei JUBG einen roten Boden und schneide als Betrachterin den monochromen Film mit meinen Bewegungen selbst: Wenn der Kuleschow-Effekt der Filmmontage besagt, dass ein Bild eines Suppentellers, gefolgt von dem eines leeren Gesichtsausdrucks, die Semantik „Hunger“ erzeugt, dann könnte es auch sein, dass das invertierte BER-Logo, das hier auf ein reguläres trifft, einfach das abstrakte Prinzip Antagonismus bedeutet und uns der angetäuschte Witz über das Partygesprächsthema Flughafen nicht zu interessieren braucht.
Entsprechend vereint die Metaphorik der hier üppig eingesetzten Farbe Rot zwei Gegensätze, nämlich Liebe und Aggression. Durch die formale Kopplung bei gleichzeitiger Entkoppelung der beiden BER-Bilder im Raum rückt das zweidimensionale Medium Malerei stärker in den Kontext der zeitbasierten Medien. Als ob Michel Snow seinen Film La Région Centrale (1971) mit ganz wenigen Bildern pro Minute mit Carpenter als Kamera gedreht hätte. Carpenters ökonomischer Einsatz künstlerischer Mittel ist in diesem Sinne wirklich beeindruckend, und der Besuch bei JUBG sei Künstler*innen empfohlen, die gerade bedeutende Ausstellungsflächen vollstopfen.
Punkt und Line zu Fläche. Durch den Rückgriff auf den Staub des klassischen Bildhauerei-Materials Marmor sowie die Dimensionsvergrößerung wird klar, dass das Anrichten von Kokain weniger als Raumzeichnung, sondern eher als grundlegendes skulpturales Verfahren betrachtet werden kann: Ein dreidimensionaler Brocken wird mit einer Fläche auf eine andere Fläche gepresst, somit zerdrückt und dann neu geformt. Die neue Form allerdings – und das verbindet hier Raum, Malerei und Skulptur – lässt sich nicht exakt ausführen. Durch die Dimensionsvergrößerung, die das Marmormehl ja nicht maßstabgetreu mitmacht, entstehen ausgefranste Linien. Das Logo von Rough Trade dagegen – präsentiert wie der erste Schallplattenfirmenschriftzug auf Leinwand, seit Lucy McKenzie das Krautrocklogo von „Brain“ abgemalt hat – ist nicht ausgefranst, weil schlecht gemalt, sondern weil es in seiner ursprünglichen Ungenauigkeit genau wiedergegeben ist. Das ausgefranste Original bezieht sich DIY-romantisch auf schlechte Druck- oder Stempelqualität. Wegen dieser unterschiedlichen Momente spezieller Beschaffenheiten, wie „fein falsch“ oder „fein verpixelt“ oder „zu fein gemahlen und daher fransig“ oder „angetäuscht romantisch“, frage ich mich, ob denn genauso Form in den Denkraum greift, nämlich wie in einer durchgeackerten Landschaft, im Sinne von: „Hier sind wir durchgegangen. Mit unseren Werkzeugen. Hier stellten wir etwas Hartes an“, wie der DDR-Lyriker Volker Braun schreibt.

„Merlin Carpenter: Polite“, JUBG, Köln, 2025
Bei(m) Rough Trade, beim Kampf ums Korallenriff (das Korallenriff mit seinen Korallen erstreckt sich flirrend und fransig in den ihn umgegebenen Wasserraum), stellten wir etwas Hartes an (mit unseren Werkzeugen): Das Anthropozän ist ungezähmt. Wenn Carpenter, als Mensch, als solch einer, mit seinen Werkzeugen etwas Hartes anstellt, ist das nicht nur im Sinne Wassily Kandinskys, für den sich Punkt, Line und Fläche zu etwas Ganzem verbinden. Vom Punkt als kleinster Einheit ausgehend entsteht die Line, wenn man weiße Pulverpartikel verbindet, und eine Fläche, wenn Linien sich unter dem Druck der Kreditkarte ausdehnen und verbinden. Die Fläche kann also als Erweiterung der Line gelten, die durch das Zusammenfügen von Lines entsteht. Kandinsky erwähnt auch, dass diese Elemente in der Kunst oft genutzt werden, um Formen und Strukturen zu schaffen, wobei Linien manchmal unperfekt oder ausgefranst seien, was einen bestimmten ästhetischen Effekt erzeuge. In seiner Analyse geometrischer Grundformen setzte er auf explizit deren emotionalen Effekt.
Ähnlich abstrakt grundsätzlich wie Kandinsky habe ich in meiner Ausstellung „Found Subject“ (2023) versucht, Rezeption, Reaktion und Empathie anhand von geometrischen Begriffen zu ordnen. Aus der Auseinandersetzung mit der Verfolgungsgeschichte der jüdischen Familie Hopp, die sich jahrelang erfolgreich vor den Nazis verstecken konnte, entwickelte ich eine „Geometrie des Geschehens“. In diesem Modell gibt es die Opfer, die unmittelbar Verfolgten (die Zentrale), dann Unterstützer*innen, die das eigene Leben riskieren (die Sekante), sodann bloß Mitfühlende (die Tangente) und schließlich unbeteiligt Zuschauende (die Passante). Das Beleihen des einfachsten Vokabulars der Geometrie um gesellschaftliche Dynamiken zu allegorisieren, funktioniert nur, wenn ein richtig blöder Witz über die Allegorie an sich in der Nähe ist – sei es der Titel meiner Ausstellung, Carpenters Kalauer oder andere Hilflosigkeiten der Kunst.
„Wir waten durch ein Meer von Blut / Durch einen Sumpf von Tränen / Wie müßt’ versagen uns der Mut / Würd’ uns nicht eins versöhnen“, schreibt 1943 der Autor Erich Hopp in dem Haus mit Blutsteinholzestrich, wo er sich vor den Nazis versteckte. Blutpigmente wurden oft zur Herstellung günstiger Bodenfarben verwendet. Carpenter nahm kein Blut für seine Ausstellung, sondern das giftige Kadmiumpigment. Wo befinden wir uns nun in diesem Modell, wenn wir Merlins Rotes Meer betreten, in der Allegorisierung eines anderen Genozids?
„Merlin Carpenter: Polite“, JUBG, Köln, März bis Mai 2025.
Raphaela Vogel ist gebildete Künstlerin.
Image credit: © Courtesy the artist & JUBG, photos Mareike Tocha