RENÉ POLLESCH (1962–2024) Von Alexander Karschnia
René Pollesch habe den Alltag „theoriefähig“ gemacht, heißt es jetzt oft, eine alte Formulierung von ihm aufgreifend. Das ist richtig, richtiger jedoch wäre es zu sagen, er habe die Bühne „theoriefähig“ gemacht. Dass das deutsche Theater eine enge Affinität zum Geistesleben habe, zumal zu philosophischer Spekulation, lässt es sich zwar gerne nachsagen, aber das ist streng genommen (eine sehr deutsche) Ideologie. Pollesch ging es nie um Ideologie, eher um „Ideologiezertrümmerung“ im Sinne von Bertolt Brecht. Ja, genauso habe ich ihn wahrgenommen: als Brecht des 21. Jahrhunderts, gekommen, um die Verflüssigung der Verhältnisse zur Sprache zu bringen – wörtlich: Gerade weil die Verschlingung zwischen materieller und symbolischer Produktion einen Grad erreicht hat, an dem es so gut wie unmöglich geworden ist, jenen Abstand zu gewinnen, den man braucht, um die Sache in den Blick zu kriegen, hat Pollesch es geschafft, eine Sprache für die Bühne zu entwickeln, in der sich dieses innige Miteinander-Verschlungensein ausspricht. Heute ist es geläufig, Polleschs Stücke als „Diskurstheater“ einzuordnen, doch sollte man nicht vergessen, dass so etwas vor ihm nicht existierte. Daher gilt festzuhalten: Polleschs „Diskurstheater“ ist das epische Theater des 21. Jahrhunderts. Während Brecht das Theater vom Drama zu emanzipieren half, von Illusion und „Einfühlung“, hat Pollesch geholfen, die Reste der Repräsentation abzuräumen. Sein Lieblingssatz zur Definition von „Diskurs“ war Gertrude Steins „people come and go, party-talk stays always the same“. Viele von uns haben überhaupt erst begriffen, was Diskurs heißt, als sie in einem Pollesch-Stück saßen. Der Begriff kam aus den Theorieseminaren; Kommiliton*innen hatten ein selbst organisiertes Festival so benannt (Frank Hentschker), als sich die erste Gießener Generation aufmachte, die (Theater-)Welt zu erobern. Die Pollesch-Story ist die eines proletarischen Kinds aus der Provinz, das dank einer sozialdemokratischen Bildungsreform an der Universität landet: ausgerechnet im ersten Jahrgang des damals frisch gegründeten Studienganges „Angewandte Theaterwissenschaft“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Lehrer waren Andrzej Wirth, der sowohl Brechts Berliner Ensemble als auch die US-amerikanische Performance-Avantgarde miterlebt hatte, und Hans-Thies Lehmann, der 1999 den Begriff des „postdramatischen Theaters“ geprägt hat. Die Idee des „Angewandten“ ermöglichte es dem jungen Studierenden, sich im Proberaum einzuschließen und die Theorie-Texte gleich auf ihre Sprechbarkeit hin auszuprobieren. In der Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre gehörte der sogenannte Poststrukturalismus, der vor allem im Merve-Verlag publiziert wurde, noch zu einem verfemten Denken. Hinzu kam das, was Lehmann später einmal den „TV-Effekt“ nennen sollte: Vor dem Aufstieg der Affektindustrien des Internets war das Leitmedium Fernsehen noch „cool“ im Sinne von Marshall McLuhan. Es ermöglichte exakt jene abgeklärt distanzierte Haltung, die Brecht sich vom Publikum wünschte. Brecht starb vor dem Aufstieg von TV, er hatte genug damit zu tun, seinen Spieler*innen die verdorbenen Töne des alten „heißen“ Mediums Radio auszutreiben. Polleschs Aufstieg als Regie-Autor-Star hingegen verlief parallel zur Verbreitung des Internets. Der Alltag, den er „theorietauglich“ zu machen verhalf war jener, der mehr und mehr perforiert wurde von Mail, Messages usw. Wenn es stimmt, dass Pollesch der Brecht des 21. Jahrhunderts war, dann kann man vielleicht sagen, dass er uns half, darin cool zu bleiben. Und Spaß zu haben. Lustvoll „SCHEISSE!“ in die Nacht zu schreien, wenn man aus dem Prater stolperte. Und selbst Adorno plötzlich wie ein Slam-Poet auf Speed zu lesen. Und genau dadurch (besser) zu verstehen! Dafür schulden wir ihm Dank. Sein früher Tod reißt genauso eine Kluft wie Brechts plötzlicher im Jahr 1956. Siebzig Jahre lang wurde er musealisiert und einbalsamiert. Zum Glück wird dieses Schicksal Pollesch erspart bleiben: Zu Lebzeiten hat er das Nachspielen seiner Stücke verboten, in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren wird sich das sowieso niemand trauen. Für uns heißt das jedoch, dass wir auf seine Texte, seine Sprache mehr und mehr verzichten lernen müssen, wenn seine noch laufenden Stücke nach und nach abgesetzt werden. Hoffentlich zieht sich dieser Prozess noch ein paar Jahre hin. Bis dahin heißt es: Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! (Du hast zuerst geblinzelt!)
Und doch: Gerade weil Polleschs Theater auf der Höhe der Zeit war, muss auch darüber gesprochen werden, welchen Preis es gekostet hat. Vielleicht könnte man im Anschluss an Adorno von einer „Mimesis ans Verflüssigte“ sprechen. Die Verflüssigung der Texte, die ein bislang unerreichtes Niveau an Entliterarisierung erreichten, war nur möglich durch eine manisch zu nennende Überproduktion, ein ständiges Um- und Neuschreiben während der Proben, umzusetzen nur in enger Kooperation des Autor-Regisseurs mit den Spieler*innen. Sie bildete den Kern jener „Praxis“, von der immer die Rede war. Die Sprechweise, die dabei entwickelt wurde, hat Pollesch längst nicht mehr als „Diskurs“, sondern schlicht als „Denken“ bezeichnet: „Jedes Denken ist diskursiv“, wie schon Hannah Arendt schrieb – eine Art innerer Dialog, „zwei in einem“, der erst aufhört, sobald ein anderer hinzutritt. Bei Pollesch war genau das nicht der Fall: Statt des Dialogs von Dramatis personae hat er den „inneren Dialog“ des Denkens auf die Bühne gebracht und auf die Spieler*innen verteilt, sodass man den Eindruck gewinnen konnte, hier würde gemeinsam gedacht. Vielleicht ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass das Pollesch-Publikum dadurch Zeug*in einer ersten öffentlichen Manifestation dessen geworden ist, was Karl Marx als general intellect bezeichnet hat. Gerade dadurch war sein Theater aber von einer extremen Flüchtigkeit, die einerseits verblüffend uplifting auf die Zuschauer*innen wirkte, bis hin zum sofort süchtig machenden Schwindelgefühl, das es andererseits wiederum so schwer machte, dieses Theater fortzuführen. Pollesch ist das Paradox gelungen, sich als Autor zugleich abzuschaffen und unersetzlich zu machen. „Oh, the ephemerality of theater“, rief die Living Theater-Legende Judith Malina plötzlich aus, als sie einmal über Bertolt Brecht und den Theatermacher Erwin Piscator sprach. Ihrer Meinung nach hatte Brecht als Autor einen unfairen Vorteil gegenüber ihrem Lehrer Piscator, der die Volksbühne zu einer ersten Blüte geführt hatte. Pollesch hat das Kunstwerk vollbracht, beide zu beerben. Damit hat er das postdramatische Theater, das in einem langen, erbitterten Widerstreit mit der Literatur entstanden ist, von den Fesseln befreit und mit Lichtgeschwindigkeit die Gutenberg-Galaxis verlassen. Zurück bleibt ein Dark Star.
Alexander Karschnia ist Theatermacher und Autor, Gründungsmitglied von andcompany&Co., und war in der ersten Spielzeit der Pollesch-Intendanz Dramaturg an der Volksbühne Berlin.
Image credit: Bahar Kaygusuz