PATHOS UND POTENZ Stephan Schmidt-Wulffen über Matthias Herrmann in der Galerie Silvia Steinek, Wien
„If I’m not young and I’m not beautiful, who am I?“, fragte Matthias Herrmann Ende der 1990er Jahre in einem seiner Textpieces. 25 Jahre später gewinnt die Frage an Brisanz. Mit Mitte 30 zeigte der ehemalige Tänzer nicht nur seinen Sixpack, sondern gerne auch jenen Körperteil, der ihn für die gleichgeschlechtliche Liebe besonders qualifizieren sollte. Das narzisstische Spiel vor der Kamera hatte so durchaus politische Konnotationen. Es propagierte, nach den verzweifelten Jahren von Aids, ein lustvolles Übertreten heteronormativer Konventionen. Hier war einer, der das Kapital seines eigenen Körpers im schwulen Wertesystem mit einigem Humor zur Anschauung brachte. Als sich der Künstler dann Stadtszenen, Landschaften und Interieurs zuwandte, ließ sich leicht vermuten, dass das Objekt des Begehrens altersbedingt und ästhetisch in eine Krise geriet. Nach 14 Jahren autoerotischer Enthaltsamkeit – jedenfalls was das fotografische Selbstporträt angeht –, erlaubt Matthias Herrmann sich jetzt noch einmal eine Leibesvisitation und, gleich vorweg genommen: Der 59-Jährige ist körperlich heute immer noch gut beieinander. Man ahnt die Disziplin, mit der hier über Jahre und ohne Perspektive für eine Öffentlichkeit, an der Form gearbeitet worden ist. Das Drama des Alters, Leitmotiv von Herrmanns jüngster Ausstellung „Hiatus“ in der Wiener Galerie Steinek, spiegelt sich tatsächlich eher im Gesicht des Künstlers. Das wirkt so durchgeistigt, dass die schwule Lustökonomie, die Herrmann in seinen frühen Arbeiten propagierte, zumindest infrage gestellt ist. Der Vergleich zwischen Jung und Alt, der hier sensibel durchgespielt wird, rechtfertigt die Annahme, dass sich im Leben des Künstlers ein Bruch abzeichnet, ein „Hiatus“.
Herrmanns neue Fotoserie zeigt Corona-Spuren. Fotografiert zwischen Juni 2020 und September 2021, sind die Bilder zumeist Ergebnisse spielerischen Ausprobierens im Studio. Das Repertoire ist simpel und kleinteilig: alte, unbrauchbar gewordene fotografische Glasplatten, Knospen, Blüten und getrocknete Reptilien, dazu Fotos von eigenen und fremden Werken. Ressource ist also das Lebensumfeld des Künstlers in der Toskana, das sich seit vielen Jahren in seine Arbeit mischt. Wer neben der Ausstellung auch einen Blick in das begleitende Künstlerbuch wirft, der sieht einmal die manipulierende Hand, die den Maßstab liefert: Was in den Fotografien, sowohl im Buch als auch in der Ausstellung, recht monumental wirkt, hat tatsächlich die Größe eines Zeigefingers und lässt sich deshalb wohl wirklich – wie der Künstler behauptet – mit eigenem Sperma kurzzeitig fixieren. Das Kameraobjektiv setzt hier also die Pathosformel, auf die gelegentlich in den Bildern angespielt wird, ins Werk. Die fotografierten Glasplatten jedenfalls werden zu einer Art Predella, auf dem Herrmann ein Theatrum mundi inszeniert. In einem künstlichen Bildraum ragen die getrockneten Blüten über die abstrakt wirkende Glasscheibe, in die häufig wie ein Graffiti ein eregierter Penis geritzt worden ist, wo sich knappe Sprachformeln wie Hot Dad, Mnemosyne, Perfect Moment oder Ignoto finden. Special effects entstehen, wenn ein Gewächs oder gar ein Selbstporträt in Flammen steht. Im erwähnten Buch tauchen auch frühere Aufnahmen – etwa aus den Textpieces – auf und helfen, das Thema des Alterns zu präzisieren. In der Ausstellung selbst verzichtet Herrmann auf Fotografien mit derartigen Selbstzitaten, nutzt aber Nebenräume, um einige der frühen Serien selbst zu zeigen.
Eine wichtige Rolle in den neuen Fotografien übernehmen Malereizitate aus Renaissance und Barock. Hier wirkt offenbar das Projekt Mantua Mantua nach, bei dem Herrmann 2019 im Palazzo Ducale der gleichnamigen Stadt seine Fotografien neben den Gemälden eines Mantegna, Rubens oder Giulio Romano ausgestellt hatte. Die unmittelbare Nachbarschaft zum Heiligen Sebastian, zu Leda und einem begehrlichen Zeus wandelte den Sinn der eigenen frühen Körperinszenierungen. Was in den 1990er Jahren noch genderpolitische Provokation war, bekam hier klassizistische Weihen. Herrmanns Texte im damals entstandenen Buch lassen erkennen, wie tief der Künstler in die Kunstgeschichte des Barock eingedrungen war. Auch in den aktuellen Arbeiten tauchen wieder kunsthistorische Zitate auf und zeigen, dass sich Herrmanns Horizont von der eigenen lustvoll besetzten Rolle als schwuler Künstler geweitet hat zu einer subtilen Erfahrung der Conditio humana. (Dass das durchaus mit viel Selbstironie stattfinden kann, führt er allerdings eher in seinem sehr sehenswerten Instagram-Account vor.)
Herrmann hängt seine Ausstellung in Dyptichen, Tryptichen, Quadryptichen und wiederholt damit seine Montagetechnik, die er auch in den Inszenierungen innerhalb des Bildes anwendet. Zum Beispiel zeigt ein eindrucksvolles Selbstporträt in weißer Calvin-Klein-Unterhose – der „Hauptdarsteller“ der früheren Fotos zeichnet sich deutlich ab – die gewandelte Identität des Künstlers, der jetzt mit schütterem grauem Haar, schmalen Lippen und eingefallenen Wangen konzentriert und kritisch auf die Welt blickt. Wie eine Inkunabel des gesamten Ausstellungsprojekts verabschiedet das Bild die alte Körperlust und setzt es – „col tempo“, wie auf der rechten Brust zu lesen ist – gegen die neu gewonnene Alterssensibilität und Weltkundigkeit. Dieses Motiv begleitet eine zweite Aufnahme, eine jetzt Apollo gewidmete Glasplatte mit einer phallischen brennenden Blüte. Wie eine Reminiszenz an die Ballettjahre des Künstlers mutet im Bild daneben die zierliche kleine Echse an, die gerade hinter der Glasscheibe zu verschwinden scheint. Eine filigrane Blüte wirkt wie der Tusch zum starken Abgang. Das barocke Porträt eines antiken Feldherrn, „eregiert“ wie der Graffiti-Schwanz darunter, beendet diesen Bilddiskurs, der um Formen von Männlichkeit, Sensitivitäten und Macht kreist.
Im Mittelpunkt von Herrmanns Werk stand über lange Zeit der Künstler selbst. Umso bedeutender ist der zweite Ausstellungsraum, in dem Herrmann ein Künstler*innenkollektiv zu Wort kommen lässt, dem er sich verpflichtet fühlt; eine Anatomie der eigenen Autorenschaft sozusagen. Die dort als Tapete geklebten Druckbögen des neuen Künstlerbuches geben die Folie ab, auf der er seine künstlerischen Koordinaten ausbreitet: eine Hommage an Dieter Roth, eine Anspielung auf ein Spermabild Duchamps, oder die Gouache des kanadischen Künstlers Sholem Krishtelka nach einem Foto Herrmanns. Dass diese Bindungen keineswegs nur formal zu verstehen sind, belegt ein Porträt der jüngst verstorbenen Brigitte Kowanz, das Herrmann 1990 als Auftragsfoto geschossen hat und hier wie auf einem Altar präsentiert. Auch diese Ausstellung steht quer zu den genderpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit. Während die Biennale-Künstler*innen Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl nur wenige Meter entfernt bei Phileas in Wien in ihren „Begehrensräumen“ fluide Sexualitäten propagieren, in denen sich Identitäten auflösen, sucht Matthias Herrmann in kluger und dennoch humorvoller Gelassenheit nach einer Persona, die den Prozess von Vergänglichkeit und Alter würdevoll repräsentiert. Das mag aus theoretischer Sicht etwas altbacken daherkommen. Tatsächlich aber beharrt der Ästhet Herrmann auf Gestaltungswerten, die die Gegenwartskunst allzu leichtfertig aufzugeben droht – gemäß eines anderen Mottos aus einem der Textpieces: „It is through art that we can understand ourselves.“
„Matthias Herrmann: Hiatus“, Silvia Steinek Galerie, Wien, 5. Mai bis 16. Juni 2022.
Stephan Schmidt-Wulffen lebt als Kunsttheoretiker in Wien. Seine Texte verbinden Erfahrungen aus kuratorischer Praxis, Kunstmanagement, sowie Hochschulehre und -forschung.
Image credit: © Matthias Herrmann, courtesy of Silvia Steinek Galerie