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TIERRA SANTA Enis Maci über ein Stück Heiliges Land, das ein Freizeitpark in Buenos Aires ist

Tierra Santa, Buenos Aires, 2024

Tierra Santa, Buenos Aires, 2024

Im dritten Beitrag zu „Texte zur City“ nimmt unsere Berlin Kolumnistin uns mit in den Süden, wohin man sich hier im fortgeschrittenen Winter gern sehnt. Doch genau diesen Ort hätten wohl wenige als Fernreiseziel favorisiert: Der christliche Themenpark Tierra Santa in Buenos Aires bildet biblische Szenen disneyesk nach. Jerusalem, von der Neuen Welt aus gesehen. Die Essayistin und Dramatikerin Enis Maci berichtet von einer grotesken Szenerie, die Bände spricht und einen kondensgestreiften Deutungshorizont ohne Hoheitsanspruch eröffnet.

… the theatre there was so huge that I do not remember at all seeing a stage – Gertrude Stein

Am Drehkreuz steht ein Legionär. Licht verfängt auf seiner nassen Stirn. Womöglich wär er lieber anderswo. Trotzdem – er prüft die Eintrittskarten. Über seinem Schmerbauch, kunstledern, das Sixpack. Denkt er an seine Tochter, wenn er eine hat, an sie, die wadentief im Wasser steht? Ihr sommerblondes Haar. Ihr Jauchzen: Der Wal stößt Regenbögen aus! Und starrt ihn, einäugig, vom Geldschein an. Fünf Buckelwale und acht Kolibris. Gestern warens weniger. Heut früh hat er ihn angepasst, den Preis, mit Filzstift. Geistliche und Beamte zahlen nicht. Er prüft also die Karten.
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Zwischen zwei Flicken dann die Naht: Teer, der glänzt wie Haut. Der Ort ist nackt. Artefakte. Abfall in Amphoren. Bleiche Fanta-Flaschen. Honig echot, nein: Wasser, in Benzinkanistern. Sein mineralischer Geschmack.
Gethsemane, wos ausnahmsweise schattig grünt. Die illegale Raucherecke. Oma toupiert, mit Fächer – Werbegeschenk eines Versicherungsvertreters. Die Enkelin zerrt an den Shorts, vergeblich. Der Arsch bleibt unbedeckt. Blicke, die strafen. Ungefärbtes Blond. Natur? Durchs Gelände windet sich ein Schlauch. Es weint daraus wie aus Schlangenaugen. Die Raucherinnen sehn sich um. Zu ihren Füßen unreife Oliven. Leute in Leinenkleidern mimen die Bevölkerung. Sie fegen. Sie tragen Öl ins Haus. Oder Rosinen. Ist das ein Flirt da vorn? Blicke, die verdauen. Appetit. Meterweise Leinen, aufgetürmt, um Kopf, um Hals, um Schultern – wenn sie denn Hälse, Schultern haben. Sie ähneln sich so sehr. Schwer, sich in ihnen zu erkennen.
Ein Mitglied der Bevölkerung wischt Staub vom leeren Thron. Er ist zu heiß zum Sitzen. Wenn er denn käme, der Hitzeresistente, der da säße, dann sähe er die Rückseite des Hügels Golgatha. Der Zugang, klar, barrierearm. Auf halber Höhe dann ein Legionär – ein anderer, ein starrer –, und er schlingt Hühnerschenkel. Dabei kann man in diesem Land nie nur den Schenkel kaufen. Er hängt am Muskel, an einem Fitzel nur. Genug, um sich das ganze Tier zu denken.
Vom Golfplatz her dräut Flutlicht, obwohl die Sonne scheint. Drahtmaschen neigen sich im Wind. Klick klick – die Rasensprenkler sprechen. Sie kündigen die nächste Regung an. Kein Wissenschaftler transkribiert, kein Raumschiff schickt die Laute in die Schwärze. Man muss dabei gewesen sein.

Tierra Santa, Buenos Aires, 2024

Tierra Santa, Buenos Aires, 2024

Dass dies ein Land der Folter ist, zeigt sich am Pinselstrich. Der Künstler kennt die Kabelhiebe. Die Farben, die das Hämatom annimmt.
Simeon ist Schwarz und heilig außerdem. Die Ehebrecherin ist Indigen. Nur sausen Jets statt Steine. Unter der Schneise liegt das Lokal Jericho. Die Stadt fiel nie. Kein Grund, sie neu zu bauen. Fleisch. Zimt. Wer ohne Sünde ist. Viele Besucher sind zum Spaß hier. Sie fallen nicht aufs Knie. Nur Erwachsene. Trotzdem kichert es, als die Animateurin auftritt. Das Mikrofon an ihrer Wange: hautfarben, nur nicht ihre. Die Glühwürmchen aus Spucke, als sie spricht. Ein Mann bestellt ein zweites Bier. Stella, importiert. Die Animateurin zeigt die Größe Roms mit ihren Armen an. Denkt sie an Italien? Ans Dorf, das ihre Ahnen einst verließen, das in den Hang gebaute, steile? Der Kinder wegen sollte sie, den Pass, sie weiß es – nur will sie gar nicht weg. Aber die beiden sollen können – wenn sie wollen. Wie könnte sie den Kindern das nicht gönnen – ihren Willen?
Vor der Terrasse ankert Noahs Arche. Eine Besucherin verbrennt sich an der Reling. Sie kreischt. Ihr Mann drückt ab. Es ist ein Uhr.
Kein Empfang im Park. Der Ladebalken kriecht – blau, wie auf urinnassem Papier. Ein Strich bloß, einsam irgendwie. Enttäuschung erst, und dann Erleichterung. Die Nachricht geht nicht raus. Oder später.
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Am Souvenirstand Inventur. Probleme mit der Tastatur: Der Buchstabe, der klemmt, wenn man ihn braucht. Wo er stehen müsste: Leere. Rückgriff auf andere. Beugung der Schrift. Und dann – wer hat damit gerechnet? – kehrt er zurück, in Scharen. Vvvvvv – überschreibt das, was schon da ist. Kotzt sich raus. Vvvvvvv. Vogel-V: der zum Aufstieg gespannte Leib, der sich hochzieht an sich.
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Kleine Schatten. Unter Plastikpalmen echte. Was das Plastik unecht macht, obwohl es ja auch echt ist: Es verrottet nicht. Statt blasser Früchte tragen diese Bäume Kameras. Pupillen. Schwarzer Glanz, der bricht.
Die Menschen, die sich bücken und sich recken, die ihr Service-Lächeln lächeln – ob sie fleischern sind oder aus Pappmaché, entscheidet sich durch den, der schaut, selbst, wenn es schon entschieden ist.
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Vom Spaßbad aus ist der Erlöser deutlich sichtbar. Im Park aber sieht man bloß seine Füße. Den schmutzigen Saum seines Kleids. Es ist unmöglich, an ihn zu glauben.
Eine Besucherin besteigt den Hinrichtungshügel. Sie hält die Hand waagrecht vor ihr Gesicht. Schützt sie sich? Entdeckt sie einen Kontinent? Sie sieht: fünf blaue Becken, die kommunizieren. Zwei Rutschen und einen Grillimbiss. Aufgeblähte Softeiswolken. Sonst nichts.

Tierra Santa, Buenos Aires, 2024

Tierra Santa, Buenos Aires, 2024

Die Verehrten schwitzen hinter Plexiglas. Ein Kind, in der Hand das Bild seiner zukünftigen Hinrichtung.
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„Am Ende des 16. Jahrhunderts ging ein bekehrter Indianer in den Busch und traf dort auf eine Gruppe Wilder, denen er entkam, indem er sich hinter einem Baumstamm versteckte. Er bat die Jungfrau, sie möge sein Leben retten. Als die Gefahr vorüber war, schnitzte er ein Bild in den Stamm, der ihm Schutz geboten hatte.“
So stehts geschrieben. Auf Fotos Würdenträger, in genau den Gemäuern, in denen sie jetzt hängen. Gips. Historische Figuren, deren Existenz niemand verbürgt. Tiere, deren Erscheinen etwas bedeutet. Dioramen.
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Den Park verlassen ist nicht leicht. Oder doch. Ein Passant kriecht in eine Tonne. Gelbe Grünstreifen, Staub. Taxis halten nicht. Blicke aus klimatisierten Autos. Und schließlich – die Brücke, die ein Käfig ist. Vollverdrahtet. Jugendliche Altpapierhändler schieben sich unter Entschuldigungen vorbei.
Die Zeit versickert nicht mehr. Sie breitet sich als Pfütze am Käfigboden aus. Hier ist ja gar kein Abfluss! Wohin mit ihr? Bald stehen alle Hühner knietief drin. Was heißt hier bald? Na, sie vergeht ja noch. Nur wohin, das ist jetzt nicht mehr klar. Die Händler lächeln müde. Sie tragen Plastikschlappen.
Und dann – erscheint am Himmelszelt ein Satz, in Chemtrailschönschrift: Lassen Sie sich von niemandem sagen, Ihre Ambition sei unmoralisch.
Wer schuldet diesen Jungen Rechenschaft? Wissen sie von den Gerichtsgebäuden? Was wissen sie von ihnen? Das Recht als Kinderspiel – spielt man Scharade, muss man ein Wort erraten. Es darf umschrieben werden, nicht aber ausgesprochen.

Enis Maci ist Autorin des Essaybands Eiscafé Europa (Suhrkamp, 2018) und einiger Theaterstücke, darunter WUNDER (Suhrkamp, 2021). Im Mai 2024 erscheint ihr neues Buch KARL MAY.

Fotos Enis Maci

Anmerkung

Auf Wunsch der Autorin weichen wir hier ausnahmsweise von unseren Standards zur inklusiven Sprache ab, da es sich um einen künstlerisch-literarischen Beitrag handelt.