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Rosalind E. Krauss: Wahrheit

Wenn Kunst es mit Illusion zu tun hat, so hat der Modernismus versucht, das Kunstwerk in dem Bezug auf seine materiellen Träger zu gründen, durch den es sein Medium „wahrhaftig“ ausdrücken würde. Von daher Clement Greenbergs Diktum, dass Malerei auf die Flachheit der Leinwand verweisen solle. Wie kann nachdem der Modernismus sich vollends erschöpft hat, „Wahrheit“ aufrechterhalten werden? Und unter welchen Bedingungen? Sophie Calle nimmt diese Frage in ihrer neueren Arbeit „True Stories“ (1988–2003) auf, die den Versuch darstellt, „Wahrheit“ nach dem Ende des Modernismus zu sichern.

Unter welchen Umständen sind Geschichten „wahr“? Sofern sie autobiografisch sind, liegt ihre Wahrheit in ihrer Vortragsweise begründet – wie in der Psychoanalyse, wo Lügen sinnlos ist? Sophie Calles „Storys“ handeln von Träumen, Liebesbriefen, Fantasien, Sex. Sie kreisen um zwei Fotografien der Couch Freuds, die Calle in dessen Konsultationsraum in dem Londoner Haus aufgenommen hat, in dem er bis zu seinem Tode gelebt hat. Eine von Calles konzeptuellen Arbeiten ist eine Fotoserie von emotional aufgeladenen Objekten, die sie in Freuds Haus gebracht und auf seiner Couch platziert hat – darunter ihr Hochzeitskleid, drapiert wie ein ruhender Körper: zweifellos imaginiert als ihr eigener.

Wahrheit ist auch die Vorannahme des Fotojournalismus – jener Modalität, die einem Großteil von Calles Werk zugrunde liegt. Als sie ihre Mutter auffordert, einen Detektiv anzuheuern, damit er ihr folge und einen ausführlichen Bericht ihres Tagesablaufs erstelle, bittet sie gleichzeitig einen Bekannten darum, sich an die Fersen dieses Detektivs zu heften, um ihn bei der Beschattung zu fotografieren. Unterdessen erstellt sie einen eigenen Bericht ihrer Aktivitäten, in dem sie auch ihre Fantasien über den sie verfolgenden Mann aufzeichnet. In „Exquisite Pain“, der umfangreichen Dokumentation einer gescheiterten Liebesbeziehung – mit einem Mann, den sie mit ihrem Vater assoziiert (wo ist Freud?) –, ist die Erzählung mit zahlreichen Aufnahmen des roten Telefons auf ihrem Hotelzimmerbett in Neu-Delhi durchsetzt, wo sie vergeblich auf den Anruf ihres Liebhabers wartet. Das Objekt auf dem Bett überlagert sich mit Calles persönlichen Gegenständen auf Freuds Couch in London, eine halbe Weltreise von Indien entfernt.

Viele der „wahren Geschichten“ sind Entsprechungen zu „Exquisite Pain“, insofern es sich um Berichte von unerfüllten oder gescheiterten Liebesbeziehungen handelt. Dass auch ihr Hochzeitskleid, wie das persönliche Objekt, das sie auf Freuds Couch fotografiert hatte, in diesen Geschichten wieder vorkommt, ist unausweichlich. Sie erzählt von ihren eigenen Inszenierungen von Anlässen, dieses Kleid anzuziehen, und davon, wie sie betrüblicherweise die Hochzeitsnacht in ihrem Bett allein verbracht hat. Dies ereignet sich in „The Dream Wedding“, einer Zeremonie, die am Flughafen Roissy abzuhalten gewesen wäre, kurz bevor der Bräutigam nach China hätte aufbrechen müssen, um dort Militärdienst zu leisten. Eine weitere Scharade von Hochzeitsfeierlichkeiten, „The Fake Wedding“, umfasste nicht nur das Brautkleid, sondern auch eine förmliche Fotografie und einen festlichen Empfang. Calle endet ihren Bericht mit der ironischen Verkündung: „Ich krönte – mit einer falschen Hochzeit – die wahrste Geschichte meines Lebens.“

Wie in jeder Analyse spielt auch in „True Stories“ Calles Vater eine herausragende Rolle. Ihre „erste Liebe“ galt einem Mann, der denselben Bademantel trug wie jener. Ihrer Bitte, sich ihr niemals nackt von vorne zu zeigen, leistet er Folge, doch am Ende der Beziehung lässt er den Bademantel bei ihr zurück: eine andere Art von „Hochzeitskleid“. Die phobische Reaktion auf den Anblick männlicher Genitalien erklärt sie in „A Young Girl’s Dream“, ein Dessert, das sie wegen seines verblüffenden Namens bestellt. Als der Teller gebracht wird, stellt sich heraus, dass es sich um eine von zwei Vanilleeiskugeln flankierte geschälte Banane handelt. Der Kellner, der ihr den Nachtisch serviert, sagt lachend: „Genießen Sie es.“

Ihrer Erklärung nach war es ihr Vater, der sie für die Psychoanalyse interessiert hat, als er darauf bestand, sie solle wegen ihres schlechten Atems einen Arzt aufsuchen. Ist die Anwesenheit des Vaters in ihrer Analyse die Spur dessen, dass sie seine Genitalien hinter der Öffnung des Bademantel erblickt hat?

Diese „Wahrheit“ unter all denen, die sich spontan im Prozess der freien Assoziation ergeben, präsentiert sich uns mit der Ironie, als Fertigprodukt einzutreffen: nichts anderes als ein weiteres Klischee der Psychoanalyse.

Übersetzung: Robert Schlicht

Erstveröffentlicht in: Rosalind E. Krauss, „Wahrheit", Texte zur Kunst #66 „Kurzführer" (Juni 2007), S. 131 - 133.

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