Luc Tuymans
Vilnius (2024)
Luc Tuymans veränderte das Verhältnis der figurativen Malerei zum screenbasierten Bild so wie Gerhard Richter die Auseinandersetzung des Mediums mit der analogen Fotografie. Früher war der Fernseher die Quelle von Tuymans’ visuellen Referenzen, heute ist es das iPhone. Für das Bild, das er für seine zweite TEXTE ZUR KUNST-Edition wählte, hat sein Telefon seinen historischen Vorgänger eingefangen: ein analoges Telefon. Die gemalten Glanzlichter scheinen diesen Arbeitsprozess widerzuspiegeln – das Licht, das sich auf dem Bildschirm bricht, von dem das Bild abgemalt wurde –, könnten aber auch auf den Standort des Telefons anspielen: ein Museum, wo es hinter Glas ausgestellt sein könnte. Die gedämpfte Farbpalette von „Vilnius“ ist ebenso charakteristisch für Tuymans wie die Verbindung zu einem historischen Kontext, auf den das Gemälde keinen Hinweis zu geben scheint. Der Künstler sah das Telefon in einem Geschichtsmuseum, das der sowjetischen Besetzung Litauens gewidmet ist, als er eine Schau in der Stadt vorbereitete. Die Geschichte des Museumsgebäudes ist von tödlicher Politik geprägt: Es beherbergte die deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg, bevor es als Hauptquartier der Gestapo und später des KGB diente. Vor einigen Jahren wurde das Museum scharf kritisiert, weil es sich auf den letzten Teil dieser Geschichte konzentrierte und einen sowjetischen Völkermord an den Litauer*innen behauptete, während es über die litauische Beteiligung am Holocaust schwieg, bei dem 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes ermordet wurden. Aus diesem belasteten Kontext nimmt Tuymans das Telefon heraus und macht es unbrauchbar: An die Stelle der Wählscheibe tritt ein tiefgrüner Abgrund, der teilweise von dicken, schwärzenden Pinselstrichen verdeckt wird.