ANRUFUNG IN ABWESENHEIT Anna Sinofzik über Adrian Piper im Portikus, Frankfurt/M.

Adrian Piper, „I’m the Tree“, 2024
Vier Stahlseile halten eine entwurzelte Linde horizontal im Raum. Als centerpiece von I’m the Tree (2024), einer der insgesamt zwei Installationen in Adrian Pipers Schau „Who, Me?“ im Portikus, lässt der blattlose Baum sich auf einer Empore umschreiten, die eigens dafür in den Raum eingezogen wurde. Ihre Brüstung bilden cleane, halbhohe Wände, die das organische Objekt als neutrale Rahmung kontrastieren und an klassische „weiße Zellen“ erinnern. Entgegen deren Prämisse, Kunst zu isolieren, tritt Pipers Baum jedoch in Korrespondenz mit einer Umgebung, die seine natürliche sein könnte: Durch ein Fenster der Ausstellungshalle sieht man das Mainufer, bei entsprechender Perspektive hinterfangen fragmentarische Flussansichten den Baum.
Der Boden unter ihm ist verspiegelt. Neben der Linde selbst reflektiert er die Raumdecke aus Glasbausteinen, durch sie hinweg Wolken, die über den Fenstern im Giebel vorbeiziehen – und manchmal (wenn sie sich über die Brüstung beugt) das Gesicht der Betrachterin, deren Rolle der Begleittext betont: In Rekurs auf Pipers jahrzehntelange Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen des Selbstbewusstseins stellen die Kuratorinnen Liberty Adrien und Carina Bukuts die „Reflexion zwischen Selbsterkenntnis und äußeren Bedingungen“ seitens der Besucher*innen als Kernanliegen der Ausstellung heraus.

Adrian Piper, „I’m the Tree“, 2024
Die mir zugeschriebene Verantwortung als aktive Betrachterin annehmend, stelle ich dem Versuch, weitere Verbindungslinien zwischen dieser Schau und Pipers Philosophie zu ziehen, eine lose Reihe an Assoziationen voran: Seiner ursprünglichen Umgebung entrissen, scheint der Baum aus I’m the Tree zunächst von akuten Klimakatastrophen und dem eigenen Ausgesetztsein zu erzählen; zugleich verleiht der vermeintliche Schwebezustand ihm eine Leichtigkeit, die über reale Probleme hinausweist. Bedenkt man Pipers intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Identität lässt er sich als Verweis auf Stammbäume lesen, auf Fragen nach Ver- und Entwurzelung und Pipers selbstgewähltes Berliner Exil. (In ihrer Wahlheimat Deutschland ist die Linde neben der Eiche der in Namen und Wappen meistvorkommende Baum.) Dass Piper Yoga als dritte Säule ihrer Praxis betrachtet, legt die Implikationen der Tree-Pose nahe: Kraft, Erdung, Stabilität. Waagerecht und entwurzelt scheint dieser Baum denen zwar diametral entgegenzustehen – doch auch zu stabil fixiert, um das Gegenteil auszudrücken. Landläufig gelten Bäume als Sinnbild für das Leben, in der Erzählung des Nibelungenlieds allerdings für den Tod. Im Kontext der Ausgabe, für die ich diesen Text schreibe, erinnert das abgestorbene, sich also selbst konterkarierende Lebenssymbol an die konfliktären Kräfte in Sigmund Freuds dualistischer Triebtheorie.
Wie diese Auflistung zeigt, gleiten die Bedeutungen, die sich dem Baum abgewinnen lassen, schnell ins Arbiträre ab – für das er in Ferdinand de Saussures Zeichenmodell selbst Symbol ist (arbre). Als ästhetisch erfahrenes Objekt verdoppelt Pipers Linde sich aber vielmehr in Ding und Zeichen und geht eine reflexiv geöffnete Beziehung zur Betrachterin ein. Setzt die den Baum aber nicht nur „ins Werk“, [1] sondern auch in Bezug zu Pipers Philosophie, wird er in seiner ambivalenten Bedeutung zum Paradebeispiel dessen, was sie „konzeptuelle Anomalie“ nennt: Als Phänomen, das nicht bequem in unsere Begriffsschemata passt und damit zur produktiven Störung rationaler Vorgänge werden kann, ist die Anomalie für Piper nicht nur ein wesentlicher Wirkfaktor ihrer Kunst, sie gehört auch zu den Grundbegriffen des zweiten Bandes von Rationality and the Structure of Self, ihrem philosophischen Hauptwerk. Mit Immanuel Kant macht Piper darin die geistige Instanz des Subjekts stark, über deren Beschaffenheit sie stets in engem Bezug zu ihrer künstlerischen Arbeit nachgedacht hat. [2]
Vor dem Hintergrund des New Yorker Umfelds, das Piper als junge Künstlerin in den 1960ern prägte, wird ihr im Ausstellungstext betonter Anspruch, die eigene Selbstbefragung mit der anderer in Beziehung zu setzen, als Objektivierungsstrategie im Sinne der Konzeptkunst verständlich. Während ihr zeitweiliger Arbeitgeber Sol LeWitt das Subjektive künstlerischer Arbeit mit logisch-plausiblen Konzepten, die konkrete Erfahrungskontexte ausklammerten, zu eliminieren suchte, ging es Piper früh darum, gerade auf Basis subjektiver Erfahrung zu möglichst objektiven Erkenntnissen über das Selbst zu gelangen. Zunächst arbeitete sie vor allem mit Ordnungs- und Klassifizierungsmethoden – Diagrammen, Rastern und Bildsequenzen – um mentale Zustände wie Daten zu erfassen. Im Rahmen der Arbeit Food for the Spirit (1971) hielt sie ihre durch eine selbst auferlegte Fastenkur intensivierte Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) mit Notizen und einer Brownie-Kamera fest. Indem sie sich selbst zum Kunst- und Forschungsobjekt machte und im Rahmen von Performances vermehrt zwischen Strategien der Selbst- und Fremdbeobachtung hin- und herpendelte, objektivierte sie ihre Modi der Selbstbefragung. [3] Mit der Catalysis-Reihe (1970/71) oder Mythic Being (1973–1975) wandte sie LeWitts Forderung, irrationale Gedanken „streng und logisch“ zu verfolgen, [4] auf das Thema Identität an, dokumentierte Reaktionen auf das „Andere“ ebenso wie ihre eigene Erfahrung, als solches wahrgenommen zu werden. [5]
Der Begleittext der Ausstellung interpretiert deren Titel „Who, Me?“ als Verweis auf die Reflexion der eigenen „Rolle und Verantwortung“, die Piper von Besucher*innen einfordert. [6] Ich möchte vorschlagen, ihn zudem als kritische Rückfrage auf das berühmt-berüchtigte „He, Sie da!“ zu lesen, mit dem Louis Althusser seine Ideologietheorie illustrierte. Während das Individuum für ihn im Akt der Anrufung als Subjekt konstituiert wird und die eigene Unterwerfung akzeptiert, stärkt Piper mit Kant die Autonomie des Subjekts – und damit die Möglichkeit, sich Anrufungen (oder auch inneren Motivationen) selbstgesetzgebend entgegenzustellen: auf das institutionelle „He, Sie da!“ also die Rückfrage „Wer, ich?“, gegebenenfalls gar ein bestimmtes „Nicht mit mir!“ zu erwidern. Wie Pipers frühe Performances zeigen und Stuart Hall in Auseinandersetzung mit Althusser betont, gibt es „keine Erfahrung außerhalb der Kategorien von Repräsentation oder Ideologie“. [7]
Darauf scheint mir die zweite Arbeit im Portikus anzuspielen, die im Untergeschoss installiert ist. Umgeben von verspiegelten Wänden, findet sich dort eine Formation aus leeren Stuhlreihen, Projektion und Lesepult mit Lampe, die als Setting für einen bevorstehenden Vortrag durchgehen könnte. So evoziert I’m the Screen (2024) das Bildungssystem, das nach Althusser Teil der ideologischen Staatsapparate ist und für Piper in Form des US-amerikanischen „ideological-educational complex“ [8] Gegenstand jener Auseinandersetzungen, die 2005 zu ihrer Auswanderung führten. In ihren Memoiren Escape to Berlin (2018) beschreibt sie Diskriminierungserfahrungen sowie Verstöße gegen Arbeits- und Sozialleistungsrechte, die – kurz bevor ihr Rentenanspruch rechtsgültig geworden wäre – zur Beendigung ihrer Professur führten. Besonders eklatant wirkt die leere Leinwand im Portikus, wenn man I’m the Screen Pipers Installation Cornered (1988) gegenüberstellt: Auch hier ist ein Arrangement aus seminarraumtypischen Stühlen mit einem Screen kombiniert, allerdings handelt es sich um den eines Röhrenmonitors, welcher in der Raumecke teilweise von einem Tisch verbarrikadiert ist. Auf dem Bildschirm ist Piper im Twin-Set zu sehen, man hört sie Besucher*innen dazu auffordern, den eigenen Familienstammbaum zu erkunden:
„Do you look into your family tree to find out if you are Black? It’s a genetic and social fact that according to the entrenched conventions of racial classification in this country you are probably Black. So, if I choose to identify myself as Black whereas you do not, that’s not just a special, personal fact about me. It’s a fact about us. It’s our problem to solve. So, how do you propose we solve it? What are you going to do?“ [9]

Adrian Piper, „I’m the Screen“, 2024
Viel expliziter als in „Who, Me?“ appelliert die Künstlerin hier an die Besucher*innen – interpelliert sogar, um den Begriff, den Althusser Jacques Lacans Modell der Herausbildung des Ich entlehnte, im ursprünglichen Wortsinn (jemanden befragen, Einspruch erheben) zu gebrauchen. In I’m the Screen wird Pipers Abwesenheit zu einer Art eigener Willenserklärung. Besonders in den USA ist Pipers Selbstidentifikation als Schwarz angesichts der Tatsache, dass sie vom sogenannten White-Passing-Privileg profitiert, nicht unumstritten. Zwar sehen auch Kritiker*innen den Wert ihrer Arbeit, die Kategorie Race herauszufordern, [10] werfen ihr jedoch vor, die Bedeutung historischer Strukturen herunterzuspielen. [11] Derartige Kritik lässt an ein Defizit in Althussers Ideologietheorie denken, welche die Anrufung durch einen Polizisten als Repräsentanten der ideologischen Staatsapparate (ISA) veranschaulicht, der auf offener Straße ein Individuum interpelliert, ohne jene strukturellen Differenzen mitzudenken, die der Anrufung vorausgehen und auf sie wirken. Es ist kaum verwunderlich, dass auch Pipers kantianischer Ansatz mit dekolonialen Perspektiven mitunter clasht. Wer ihr Ignoranz im Umgang mit Identitätskategorien vorwirft, läuft jedoch Gefahr, einen wesentlichen Aspekt ihres Werks zu verkennen: Wenn sie sich in Arbeiten wie Cornered selbst als konzeptuelle Anomalie präsentiert, ist die künstlerische Verhandlung ihrer eigenen Identität Teil einer tieferen Auseinandersetzung mit der „Rationalität und Struktur des Selbst“. [12]
Im Kontext von Pipers philosophischem Projekt ist dieser Anspruch klar erkennbar, und auch in den Installationen im Portikus blitzt er wiederholt auf. Zum Beispiel im Motiv des Spiegels, das in Pipers Praxis häufig in Beziehung zu Kant steht. [13] In I’m the Screen werden die Besucher*innen vor allem unablässig mit dem eigenen Abbild konfrontiert und mit Gedanken ans Spiegelstadium als Urszene des Selbstbewusstseins. Die Auseinandersetzung mit Identitätsmerkmalen in Arbeiten wie Cornered ist einem Verweis aufs Transzendentale gewichen: Während in Cornered Piper auf dem Screen zu sehen war, überträgt der Beamer hier nun lediglich ein Rechteck aus farblosem Licht. [14]
Es fällt auf, dass Pipers Arbeiten seit Jahren wieder minimalistischer werden und dass sie selbst weniger präsent darin ist, als dies früher der Fall war – ob nun physisch in Performances und Selbstporträts oder in Form schriftlicher Selbstdokumentation. Es mag naheliegen, diese Entwicklung als Regression zu werten. Indem I’m the Tree und I’m the Screen die Abwesenheit der Künstlerin qua Titel verneinen, korrespondieren sie jedoch nicht nur mit ihrem früh formulierten Anspruch, sich selbst zum Kunstobjekt zu machen. Sie scheinen auch auf die erkenntnistheoretische „Erklärungslücke“ anzuspielen, mit der sich Kritiker*innen rein naturalistischer Konzepte des Selbst beständig herumschlagen. Eine Position, auf die sich Piper gern bezieht, [15] ist die von Thomas Nagel, dessen Frage „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“ [16] die Installationen im Portikus im Sinn einer Interspecies bzw. posthumanistischen Ethik noch mal in ein ganz neues Licht setzen könnte. Wer kann wissen, wie es sich anfühlt, Baum oder Leinwand zu sein? „Who, Me?“
„Adrian Piper: Who, Me?“, Portikus, Frankfurt/M., 23. November 2024 bis 9. Februar 2025.
Anna Sinofzik ist Autorin und Senior Editor bei TEXTE ZUR KUNST.
Image credit: © Adrian Piper Research Archive Foundation, fotos Wolfgang Günzel
Amerkungen
[1] | Hier beziehe ich mich auf Juliane Rebentischs Idee der „Verdoppelung in Ding und Zeichen“ als wesentliches Strukturmoment ästhetischer Erfahrung und die damit einhergehende „reflexive Öffnung“ des in der Moderne meist hierarchisch gedachten Subjekt-Objekt-Verhältnisses: „Ästhetische Erfahrung sitzt nicht […] allein im Subjekt, sondern vollzieht sich in einem Prozeß zwischen Subjekt und Objekt, der beide verwandelt: Das Objekt, indem es durch diesen Prozeß allererst ins Werk gesetzt: als Kunstwerk frei wird; das Subjekt, indem es in diesem Prozeß eine selbstreflexive Gestalt annimmt […]“, in: Dies.: „Autonomie? Autonomie! Ästhetische Erfahrung heute“, in: Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006. |
[2] | Adrian Piper, Rationality and the Structure of Self, Volume II: A Kantian Conception, Berlin 2013. |
[3] | Vgl. Nizan Shaked in: „Adrian Piper: The Long View“, Symposium, Hammer Museum, 2018. |
[4] | „Irrational thoughts should be followed absolutely and logically.“ Vgl. Sol LeWitt, „Sentences on Conceptual Art“, 1968. |
[5] | Interview mit Robert Del Principe, „Rationality and the Structure of the Self“, 2007–2010, Berlin, APRA Foundation. |
[6] | „Der Titel der Ausstellung ist eine Anspielung auf den bekannten Ausdruck Wer? Ich?, der oft verwendet wird, um Unschuld zu heucheln oder Anschuldigungen abzuwehren. Entsprechend kann er als Aufforderung an die Betrachter*innen verstanden werden, ihre eigene Rolle und Verantwortung in Hinblick auf Themen zu reflektieren, von denen sie sich vielleicht zu distanzieren versuchen.“ |
[7] | Stuart Hall, „Bedeutung, Repräsentation, Ideologie – Althusser und die poststrukturalistischen Debatten“, in Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, S. 75. |
[8] | Den Begriff nutzt Jörg Heiser in „The Great Escape: Adrian Piper’s Memoir on Why She Went into Exile“, in: e-flux Journal, 103, 2019. |
[9] | Hier bezieht sich Piper auf die sogenannte one-drop rule, die als Rechtsgrundsatz der racial classification lange in den USA verbreitet war. |
[10] | Vgl. Darby English in Thomas Chatterton Williams, „Adrian Piper’s Show at MoMA is the Largest Ever for a Living Artist. Why Hasn’t She Seen It?“, in: The New York Times, 27. Juni 2018. |
[11] | Naomi Zach, Hammer Panel, in: „Deconstructing the Truism of Race as a Social Construct“, Hammer Channel video, 3. November 2018. |
[12] | Vgl. Diarmuid Costello in: Ebd. |
[13] | In Food for the Spirit, dem Projekt, das den Beginn ihrer Auseinandersetzung mit dem Philosophen markiert, fotografierte sie regelmäßig das eigene Spiegelbild. Eine aktuellere Arbeit, Das Ding-an-sich bin ich (2018), deren Titel einen geflügelten Begriff der Erkenntnistheorie aufgreift und die formalästhetisch an LeWitts Variations on Different Types of Cubes (1967) erinnert, kombiniert verspiegelte Würfel mit einer Kakophonie aus Stimmen und Sprachen. |
[14] | Dass sie und ihre Kunst auch Objekte von Projektionen sind, deutet der Werktitel beiläufig an. |
[15] | Interview mit Robert Del Principe: „Rationality and the Structure of the Self“, s. Anmerkung 5. |
[16] | Thomas Nagel „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“, in: Letzte Fragen, Bodenheim bei Mainz 1996, S. 229–249. |