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Francesca Raimondi

GEGEN-SUBLIMIERUNG Zu „Aphasia“ von Jelena Jureša (mit Audre Lorde und María Lugones)

Jelena Jureša, “Aphasia (Act Three),” 2019

Jelena Jureša, “Aphasia (Act Three),” 2019

Mit Sigmund Freud versteht Francesca Raimondi Sublimierung als eine Umlenkung von Triebenergien. Eine solche scheint für sie in der Figur Srđan Golubović auf, einem der Protagonisten in Jelena Jurešas Arbeit „Aphasia“. Das ehemalige Mitglied der serbischen Miliz Arkans Tiger tritt inzwischen unter demselben Decknamen, unter dem er Kriegsverbrechen beging, als DJ auf. Jurešas Video verweist jedoch nicht nur auf diese Gewaltgeschichte und die Indifferenz, die ihr in der Clubszene entgegengebracht wurde, sondern setzt ihr mit zwei weiteren Protagonistinnen Wut ­entgegen. Jene Emotion, die zwar wie Hass auf negativen Affekten beruht, sich aber, wie Audre Lorde und María ­Lugones gezeigt haben, auch im Sinne einer feministische ­Transformationskraft ausleben lässt.

In Aphasia (2019) beschäftigt sich die Künstlerin Jelena Jureša mit drei „Kulturen der Gewalt“: dem Königlichen Museum für Zentralafrika (Tervuren), dessen Sammlung von Dioramen und präparierten Tieren auf den belgischen Kolonialismus zurückgeht und koloniale Blickordnungen reproduziert; [1] dem Genre des österreichischen Heimatkinos, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch seinen Rekurs auf die k.u.k. Vergangenheit ein verklärtes Bild des Nationalismus vermittelte; [2] sowie mit der Belgrader Clubkultur, die während des Krieges in Jugoslawien entstand. Die Kapitel des Filmessays stellen Zusammenhänge zwischen den Geschichten dieser Länder heraus, vor allem aber geht es Jureša um die ­irritierende Nähe zwischen physischer Gewalt und den „kulturellen Leistungen“, die aus ihr hervorgegangen oder mit ihr verknüpft sind. [3] In Freud’scher Terminologie ausgedrückt, handelt es sich bei letzteren um kulturelle und künstlerische Formen der Sublimierung, die Aggressivität und Gewalt nicht transformieren, sondern im Gegenteil gerade ermöglichen, indem sie diese verschleiern oder verklären. Die drei Kapitel arbeiten sich auf unterschiedliche Weise durch die komplexen Zusammenhänge, indem sie eigens gedrehtes oder dokumentarisches Material verwenden und mit verschiedenen Tonspuren operieren: Voiceover im ersten, Musik und dokumentarische Tonspur im zweiten, Stimme der gefilmten Figur und bei der gefilmten Live-­Performance entstandener Soundtrack im dritten Kapitel. [4] Der letzte, längste Teil wird unter dem Titel, Aphasia (Act Three): „A Kid from the Neighbourhood“ auch eigenständig gezeigt. [5]

Jelena Jureša, “Aphasia,” 2019

Jelena Jureša, “Aphasia,” 2019

DIE GEWALT DER NACHBARSCHAFT

In diesem dritten Akt setzt sich Jureša anhand der Figur von Srđan Golubović mit der Gewalt des jugoslawischen Krieges und deren Verhältnis zur serbischen Kulturszene auseinander. Golubović, ein Mitglied der serbischen paramilitärischen Miliz namens Arkans Tiger, wurde durch ein Foto bekannt, auf dem er im Begriff ist, gegen den Kopf einer toten muslimischen Frau, Ajša ­Šabanović, zu treten. Das Bild wurde während eines der ­frühen Massaker an der bosnischen Bevölkerung im ­April 1992 vom US-amerikanischen Kriegsreporter Ron Haviv in Bijeljina aufgenommen und diente später als Beweismaterial für die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Obwohl Golubović auf dem Foto eindeutig identifiziert wurde, wurde er bislang nicht für seine Kriegsverbrechen verurteilt. Stattdessen ist er seit dem Krieg ein gefeierter Trance-DJ in der Belgrader Clubszene.

„A Kid from the Neighbourhood“ beginnt mit ­dokumentarischem Videomaterial aus dem Prozess gegen Slobodan Milošević, in dem das Foto erstmals als Beweismaterial eingesetzt wurde. Danach folgt ein längerer Monolog der kroatischen Investigativjournalistin Barbara Matejčić, die DJ Max 2017 in einem Club als den Mann auf dem Kriegsfoto erkannte. Akribisch beschreibt sie ­zunächst seinen Auftritt im Club und schildert kurz die Gespräche mit den anderen Anwesenden über seine Identität, um dann erneut sehr detailliert auf die Szene auf dem Foto (das im Film nie gezeigt wird) einzugehen und anschließend das zu ergänzen, was das Foto selbst nicht preisgibt: Wer abgebildet ist, was genau in Bijeljina geschehen ist und inwieweit die Kriegsverbrecher juristisch zur Verantwortung gezogen wurden. [6] Keines der Mitglieder von Arkans Tigern wurde jemals verurteilt. DJ Max erhielt bis 1995 Zahlungen vom serbischen Geheimdienst (er stand also als Miliz-­Mitglied im Dienst des serbischen Staats). Im Jahr 2012 kam er wegen Drogen- und Waffenbesitzes vor Gericht, wurde aber freigesprochen. [7]

Die Kriegsjahre und die Zeit danach beschreibt die Journalistin nicht nur anhand der ­Ereignisse in Bijeljina, sondern auch mit Bezug auf die serbische Musikszene. Diese war auf der einen Seite geprägt vom nationalistischen Turbofolk, [8] den die Anhänger*innen von Slobodan ­Milošević ­hörten, und auf der anderen Seite von einer urbanen Clubkultur, die irgendwo zwischen Eskapismus und Widerstand gegen den Krieg entstand und während der Kriegsjahre und danach florierte. DJ Max, der sowohl Miloševićs Arkans Tigern angehörte als auch ein Pionier der ­entstehenden elektronischen Musikszene war, entlarvt die Grenze zwischen diesen zwei scheinbar entgegengesetzten Lagern als durchlässig. Max, so erfahren die Betrachter*innen, war auch der Name, den Golubović als Mitglied von Arkans Tigern trug. Matejčić brachte durch Recherchegespräche in Erfahrung, dass viele in der Clubszene von dessen Vergangenheit wussten, aber keinen ­sonderlichen Anstoß daran nahmen, sondern eher damit beschäftigt waren, eine neue Subkultur im unter Sanktionen stehenden Serbien aufzubauen. Im einzigen Interview mit DJ Max, das die Journalistin online finden konnte, beschreibt er sich selbst als „a nice guy from the neighbourhood“, der im Fall einer Todesstrafe mit dem einzigen ­erlaubten Telefonat seine Mutter anrufen würde. Seine Beteiligung am Krieg bleibt unerwähnt.

“Jelena Jureša: Aphasia,” Argos Centre for Audiovisual Arts, Brussels, 2019

“Jelena Jureša: Aphasia,” Argos Centre for Audiovisual Arts, Brussels, 2019

Matejčić wird sitzend, leicht von der Seite, im Medium Shot gefilmt, blickt aber immer ­wieder direkt in die Kamera. Die lange, schnittlose Sequenz endet, als die Journalistin davon ­berichtet, wie ihr DJ Max vor der Clubtür begegnet und freundlich dabei hilft, ein Taxi zu finden, wobei sie den Eindruck hat, dass es ihm bewusst ist, dass sie seine Vergangenheit kennt. Musik setzt ein, man sieht Matejčić in einem kurzen Close-up wie sie sich die Haare hochsteckt. Dann beginnt der zweite Teil des Akts mit einer Choreografie der Tänzerin Ivana Jozić, die wie die Journalistin gekleidet ist und dieselbe Frisur trägt.

TRAUMATISCHE VERKÖRPERUNGEN

Während bei Matejčić die Kamera fix bleibt, bewegt sie sich bei Jozić, und die Sequenz hat mehrere Schnitte. Die Tänzerin setzt sich ebenfalls mit der Gewaltgeschichte auseinander, auf körperliche Weise: Sie wiederholt Gesten des DJs, Gesten vom Foto sowie seine Moves im Club, ergänzt durch rabiate Sexbewegungen, die möglicherweise auf Kriegsvergewaltigungen anspielen. Während der gesamten Sequenz ist die experimentelle elektronische Musik von Alen und Nenad Sinkauz zu hören, in der Resonanzen an Turbofolk und Trance Techno an- und dann verklingen und die immer wieder in ruhigeres Tempo übergeht. Musik und Choreografie sind im Dialog miteinander entstanden: Teilweise folgt die Tänzerin der Musik, dann passt sich die Musik ihren Bewegungen an. Mehrmals geht Jozić im Film auf die live performenden Musiker zu und unterbricht sie sogar einmal. Am Ende des ­dritten Akts erscheint eine kurze Sequenz, die die Journalistin mit ihrem Handy gefilmt hat und in der man DJ Max beim Auflegen sieht, während weiterhin die Musik von Alen und Nenad Sinkauz zu hören ist.

Jelena Jureša, “­Aphasia (Act Three),” 2019

Jelena Jureša, “­Aphasia (Act Three),” 2019

Da die Choreografie unmittelbar einsetzt, nachdem Matejčić ihre Begegnung mit dem DJ erwähnt, erscheint sie zunächst als eine imaginäre, ausagierte Reaktion – als der Wutausbruch der scheinbar gefassten Journalistin. In die Bewegungen und Posen der Tänzerin fließen jedoch Gesten und Details aus den Beschreibungen von Golubović als DJ Max und als Mitglied von Arkans Tiger ein – der hochgeschlagene Kragen, die Finger, die eine Zigarette halten, der Tritt –, die Matejčić ebenfalls teilweise wiederholt hatte. Zudem ist sie gar nicht so gefasst, wie es ­zunächst den Anschein hat: Ihre Mimik und Gestik ­changieren, auf ein leichtes Lächeln bei manchen Erinnerungen folgen strenge Blicke, ­abschätzige Mundbewegungen und eine angespannte ­Gestikulation, in denen Wut und Entrüstung zum Ausdruck kommen.

Das Verhältnis zwischen den beiden ­Figuren ist auf interessante Weise schillernd, da es ­zunächst nicht offensichtlich ist, dass Journalistin und Tänzerin zwei unterschiedliche Personen sind. Die Choreografie ist jedoch keineswegs die entsublimierte Kehrseite des Monologs, also kein ungefilterter Ausdruck negativer Affekte. Beide Sequenzen können vielmehr als Ausdruck ein und desselben Prozesses verstanden werden, der in einer ebenso diskursiven wie affektiv-körperlichen Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen und dessen Nachleben besteht.

Monolog wie Choreografie haben etwas von den Träumen der Kriegsneurotiker, die Sigmund Freud in Jenseits des Lustprinzips beschreibt und anhand derer er auf einen Todestrieb schließt: Träume, die immer wieder jene traumatischen Szenen und Momente durchlaufen, die das Auffassungsvermögen der Soldaten überstiegen haben. [9] Ähnlich wiederholen die Frauen im Film die unfassbare Gewalt, die sich in ­Bijeljina abspielte, sowie die Gleichgültigkeit, der sie im Belgrader Club begegneten. Sie tun dies, um dieser Gewalt und Indifferenz ­entgegenzutreten und sich davon nicht lähmen zu lassen. In beiden Fällen – bei Freud und im Film – handelt es sich entsprechend nicht um eine identische ­Wiederholung, sondern um eine, in der etwas Neues entstehen soll.

DIE WEGE DER FEMINISTISCHEN WUT

In „The Uses of Anger“ arbeitet Audre Lorde einen entscheidenden Unterschied zwischen Hass und Wut heraus. Während Hass auf die ­Zerstörung und den symbolischen oder realen Tod des ­Anderen gerichtet ist, ist Wut auf die Veränderung von Missständen ausgerichtet und konfrontiert den Anderen. „Anger is loaded with ­information and energy.“ [10] Transformative Kraft hat die Wut als eine mit Wissen aufgeladene Energie: Das Wissen, dass die erlittene Gewalt unrechtmäßig ist, aber auch, dass etwas anderes als diese Gewalt möglich ist. In Anlehnung an Lorde spricht María Lugones von einer „second-order anger“, die auf die Wut und die Gewalt der Unterdrücker*innen reagiert und sie nicht länger hinnehmen will. [11] Sie beschreibt diese Art von Wut als eine „inward motion intent on sense making […] neither really different nor separate from the passion of metamorphosis“, eine Bewegung, die im Übergang begriffen ist und daher von außen nicht vollkommen intelligibel erscheint. [12]

Jelena Jureša, “Aphasia (Act Three),” 2019

Jelena Jureša, “Aphasia (Act Three),” 2019

Die Frauen in Jurešas Film sind im Prozess, Hass in Wut zu transformieren. [13] Sie begeben sich in den Hass der Täter und die Indifferenz der Clubkultur, nähern sich diesen mimetisch an, um sie aber schließlich in eine andere Energie der Zurückweisung „abzulenken“. Als „Ablenkung“ beschreibt Freud die Arbeit der Sublimierung, die darin besteht, die sexuellen, aber auch die aggressiven Triebe auf neue Gegenstände hinzu­lenken und damit nicht direkt zur Erfüllung zu bringen, sondern in kulturelle oder kreative Erzeugnisse zu transformieren. Jurešas Szenen haben diesbezüglich eine eigene Form, da sie auf eine bereits bestehende Arbeit der Sublimierung reagieren, nämlich auf die ­nationalistische Folkmusik um Arkans Tiger sowie auf eine elektronische Trancemusik, in denen die Gewalt keinesfalls transformiert, sondern verklärt oder verschleiert wird. Im Gegensatz zur Clubszene spalten die weiblichen Figuren die Gewalt nicht einfach indifferent ab, sondern konfrontieren sich mit ihr und mit den Gefühlen, die sie in ihnen auslöst. Diese Konfrontation geschieht, ­indem die Frauen die Gewalt erinnernd wiederholen und sie nicht verschweigen. Sie durch­laufen die Szenen der Gewalt, jedoch nicht, um in dieselbe Aggression zu geraten, sondern um ihre negativen Affekte in Wut abzulenken.

DIALEKTIK

Die beiden Sequenzen und der Filmessay vollziehen daher keine Katharsis, [14] also keine Reinigung der negativen Affekte, sondern deren Transformation durch Bezeugung. Damit präsentiert der Film eine Ästhetik, die weder wie der Turbofolk funktioniert, der die nationalistischen Bestrebungen verklärt und dazu anspornt, diese auch außerhalb der Kunst auszuleben; noch entspricht sie der Belgrader Clubkultur, die ästhetische Mittel nutzt, um Gewalt und Grausamkeit zeitweise auf Distanz zu bringen oder zu verschleiern. Stattdessen vollzieht der Film eine Gegen-Sublimierung gegenüber diesen beiden „Kulturen der Gewalt“, der nationalistischen Hetze und der scheinbar pazifizierten Subkultur, die beide auf jeweils eigene Weise das Ausleben aggressiver und destruktiver Triebe ermöglichen.

Die (ästhetische) Darstellung in Jurešas Arbeit dient nicht nur der Bekundung des Zusammenhangs zwischen Gewalt und Indifferenz, sondern unterzieht deren verklärende und ­verschleiernde Formen einer Transformation. Dieser ­Prozess benötigt und erzeugt eine andere Energie: die Energie der Wut, die sich von Hass oder Indifferenz unterscheidet, weil sie „informiert“ ist. Die beiden Frauen wollen auch nicht bestrafen oder skandalisieren, sondern eine Artikulation finden, die das kollektive Schweigen zu brechen vermag. In ihrer Wut werden Todestriebe (in diesem Fall: Gewalt und Aggression) und Lebenstriebe (in diesem Fall: künstlerischer Ausdruck) nicht getrennt voneinander gelebt und sublimiert, um den Exzess des jeweils anderen nachträglich auszubalancieren.

Jelena Jureša,  “Aphasia (Act Three),” 2019

Jelena Jureša, “Aphasia (Act Three),” 2019

Gegen-Sublimierung ist nicht dualistisch, sondern dialektisch – ähnlich versteht auch Theodor W. Adorno die ästhetische ­Sublimierung: Sie ist „Mimesis an die Gesellschaft“ und ihres Leids, das durch ästhetische und kognitive ­Elemente affektiv transformiert wird. [15] Anders als bei Adorno ist diese Ästhetik nicht nur ­rätselhaft, sondern auch wütend, drängt also aktiv auf ­Veränderung und affiziert die Zuschauer*innen entsprechend. Ähnlich wie bei Lorde und Lugones, für die Wut den Beginn eines Veränderungsprozesses markiert, der sich erst allmählich entfaltet und einen offenen Ausgang hat, erscheint Wut hier als eine informierte Energie, in der sich auf nicht immer ganz nachvollziehbare Weise allmählich andere, eigene Bewegungen zu materialisieren beginnen. Die transformative Kraft von Wut setzt damit ein, dass die verschwiegene oder indifferent akzeptierte Gewaltgeschichte ausgesprochen und nachvollzogen wird. Dies wird besonders in der choreografischen Sequenz deutlich, in der die Tänzerin intensiv die Nähe zwischen Tanz­bewegungen aus dem Club, Gesten aus dem Krieg und männlichen Dominanzposen zum Ausdruck bringt. Sie unterbricht aber auch selbst diese Intensität, indem sie die Musik stoppt (was ihr erst beim zweiten Mal gelingt), woraufhin diese nicht einfach nur erneut, sondern anders einsetzt. Wenn die Musik stoppt, kommt die Figur aus der Mimesis und der Darstellung von Gewalt heraus. Sie hält inne, man hört ihren Atem, ein leichtes Husten. In ihren Bewegungen ahmt sie danach nicht ausschließlich die Gesten der Männer nach, sondern dekonstruiert oder desartikuliert diese Gesten, wodurch sie teilweise leicht ins Groteske übergehen. Wenn Jozić Sexbewegungen verkörpert, tritt sie zurück, man hört sie stöhnen, dann wütend schreien. Man sieht sie mit einer Zigarette in der Hand, wie der DJ, doch ihre Gesten drücken ihre Trauer aus. Mit ihrer Wut eröffnet sich allmählich ein Spielraum, der über die ­mimetische Herausstellung verschleierter Zusammenhänge hinausgeht – ein Spielraum für andere Gesten, in denen, wenn auch nur momenthaft und fragmentarisch, nicht zuletzt inmitten der heftigen Wiederholungen auch die fragileren Seiten ihrer Körperlichkeit Ausdruck finden.

Francesca Raimondi ist Gastprofessorin für theoretische Philosophie mit Schwerpunkt Ästhetik an der Freien Universität Berlin. Sie lebt in Berlin und Amsterdam.

Image credit: Courtesy of Jelena Jureša

Anmerkungen

[1]Aufgrund seiner problematischen Entstehungsgeschichte wurde das Museum in den 2010er Jahren einer umfangreichen Neugestaltung unterzogen, bei der die koloniale Vergangenheit explizit thematisiert wird. Die Aufnahmen von Jureša, die den Großteil des ersten Teils ­ausmachen, stammen aus der Umbauphase, während der die Exponate in Lagerräumen aufbewahrt oder zum Schutz verpackt wurden. Die Sequenz wird von einem theatralischen Voiceover begleitet, das unter anderem auf die ­Dioramen, auf die koloniale Vergangenheit Belgiens und die gegen­wärtigen Besucher*innen eingeht. Die kolonialen Dioramen und die ausgestopften Tiere werden auch nach der Neugestaltung gezeigt.
[2]Der zweite Teil arbeitet ausschließlich mit dokumentarischem Material, das assoziativ angeordnet ist. Er befasst sich mit den gefilmten rassistischen Experimenten, die im Ersten Weltkrieg durch den Mediziner Rudolf Pöch und im Zweiten Weltkrieg durch seinen ehemaligen ­Assistenten durchgeführt wurden, sowie mit dem General­sekretär der Vereinten Nationen und österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, dessen Verwicklung in NS-Kriegsverbrechen als Offizier der Wehrmacht erst Jahrzehnte später aufgedeckt wurde.
[3]Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Studien­ausgabe, Bd. V, Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 2000, S. 85. In dieser frühen Schrift führt Freud zum ersten Mal seinen Begriff der Sublimierung ein.
[4]Die Musik des Films ist von den kroatischen Komponisten und Interpreten Alen und Nenad Sinkauz.
[5]Aphasia war u. a. 2022 auf der von Catherine Nichols ­kuratierten Manifesta 14 in Prishtina sowie 2024 zusammen mit Don’t Take It Personally und im Dialog mit Arbeiten von Aernout Mik in der von Andrea Cinel kuratierten Ausstellung „Run-Through“ in De Garage, Mechelen, zu sehen.
[6]Dabei geht Matejčić auch auf die mediale Geschichte des Bildes ein, das mehrfach journalistisch verwendet wurde, um „the hell of war“ zu bebildern, und über das auch Susan Sontag geschrieben und Jean-Luc Godard einen Kurzfilm gedreht hat. Dass Srđan Golubović Ajša ­Šabanović tatsächlich getreten hat, weiß sie aus einem Gespräch mit dem Fotografen, weitere Hintergründe zum Foto aus weiteren Zeug*innenberichten.
[7]Daraufhin wurde seine Geschichte auch in den Medien bekannt gemacht, insbesondere von Boris Dežulović, „Skrivena kamera u Bijeljini 1992“, in: Pescanik, 14. September 2012, online hier; Im November 2022 erschien im Rolling Stone ein sensationalistischer investigativer Bericht von Sophia ­Jones, Nidžara Ahmetašević, Milivoje Pantović: „The DJ and the War Crimes“, in dem weder ­Dežulović noch die Recherchen von Matejčić oder Jurešas Film Erwähnung finden.
[8]Dessen prominenteste Figur, die Sängerin Ceca, heiratete 1995 Željko „Arkan“ Ražnatović.
[9]Vgl. Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, ­Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 2000, S. 222–224 und 241–243.
[10]Audre Lorde, „The Uses of Anger: Women Responding to Racism“, in: Dies., Sister Outsider. Essays and Speeches, ­Berkeley: Crossing Press, 1984, S. 127.
[11]Lorde und Lugones diskutieren die Rolle der Wut vor ­allem im Kontext von Antirassismus (auch im ­Feminismus) und Homophobie. Obwohl es klare Unterschiede gibt, scheinen mir ihre Überlegungen für eine feministische Perspektive auf die oppressiven Züge des ­patriarchalen Nationalismus und seiner Indifferenzkultur wichtig zu sein.
[12]María Lugones, „Hard-to-Handle Anger“, in: Dies., Pilgrimages / Peregrinajes. Theorizing Coalition against ­Multiple ­Oppressions, London: Rowman & Littlefield, 2003, S. 103–120, hier S. 103f. Zum emanzipatorischen und progressiven Sinn der feministischen Wut bei Lorde und Lugones siehe auch Federica Gregoratto, „Between Anger and Hope. in: Therapy and Conflict. Between Pragmatism and Psychoanalysis, Themenausgabe von European Journal of ­Pragmatism and American Philosophy, Ausg. 15, Nr. 2 (2023), S. 1–18.
[13]Lugones unterscheidet auch zwischen verschiedenen ­Formen von „second-order anger“, mit denen man Jurešas Film beschreiben könnte: „There is anger that is a transformation of fear; explosive anger that pushes or recognizes the limits of one’s possibilities in resistance to oppression; controlled anger that is measured because of one’s intent to communicate within the official world of sense; anger addressed to one’s peers in resistance“ (­Lugones, 2003, S. 103).
[14]Die Katharsis-Hypothese spielte in der frühen Psychoanalyse durch die Arbeit von Joseph Breuer eine wichtige Rolle; Freud distanzierte sich jedoch allmählich von ihr, indem er sie durch die freie Assoziation ersetzte. Ich ­verstehe die Arbeit der Psychoanalyse hier implizit so, dass sie zwar für die Irreduzibilität, aber auch für die Transformierbarkeit jener aggressiven Triebe steht, die Freud in der vom Kapitalismus, von der Erfahrung des Krieges, der patriarchalen Familie etc. ­geprägten ­Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts vorfand. ­Gleichzeitig durchlaufen die weiblichen Figuren in Jurešas Film einen Prozess, den man bei Freud so nicht findet, nämlich eine sprachliche und gestische Durcharbeitung von kulturellen Formen, die selbst bereits Produkte von Sublimierung sind und als gewaltsam bzw. Gewalt ­ermöglichend entlarvt werden.
[15]Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 2003, S. 33.