„DAS IST KEINE THEMATIK, ES IST EINE HANDLUNG“ Ein Gespräch über Ausstellungspolitiken mit Zasha Colah, Ghislaine Leung und Eric Golo Stone, moderiert von Antonia Kölbl und Felix Vogel

“Eva Barto: The Supporters,” Künstlerhaus Stuttgart, 2021
FELIX VOGEL: Die erste Ausgabe von TEXTE ZUR KUNST, die sich mit unserem Thema befasste, hieß ganz einfach „Ausstellungspolitik“. Als wir sie in Vorbereitung dieser zweiten Ausgabe zum Thema erneut lasen, waren wir erstaunt, wie viele der 1996 diskutierten Themen heute noch dringlich sind – manche vielleicht sogar noch mehr als damals. Die zweifelhafte Musealisierung nichtwestlicher Objekte in Europa und Nordamerika bleibt beispielsweise trotz vieler Restitutionsbemühungen ungelöst. Andere Konstellationen scheinen sich hingegen grundlegend verändert zu haben, wie die Figur des mächtigen Starkurators, verkörpert durch Leute wie Hans Ulrich Obrist. Eines der Hauptanliegen der 1996er Ausgabe hat seither jedoch in einem Maße an Bedeutung gewonnen, wie es damals undenkbar gewesen wäre, zumindest im deutschen Kontext: das Ausmaß, in dem die private Hand – seien es Megagalerien oder Sammler*innen – finanziellen Einfluss auf öffentliche Institutionen ausübt. Angesichts dieser Machtverschiebungen wollen wir das Gespräch mit einer Frage eröffnen: Wie navigiert ihr in eurer jeweiligen Arbeit an Ausstellungsprojekten die Konflikte zwischen kommerziellen und nichtkommerziellen Interessen sowie euren eigenen kritischen Standards?
GHISLAINE LEUNG: Als ich in der Kunstindustrie zu arbeiten begann, ging ich von einer binären Unterscheidung zwischen öffentlichen, institutionellen und privaten, kommerziellen Kunsträumen aus. Aber je mehr ich in den Betrieb eingetaucht bin, desto klarer wurde mir, dass es Philanthropie und Mäzenat*innentum auf jeder seiner Ebenen gibt. Viele Institutionen betreiben Fundraising in riesigem Ausmaß, und die Geldgeber*innen sind oft dieselben, die auch in kommerziellen Galerien kaufen. Zugleich arbeiten viele kleinere oder mittelgroße Galerien kaum kostendeckend oder sogar mit Verlust. Daher bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich eine klare Linie zwischen dem Kommerziellen und Nichtkommerziellen entlang der Gegenüberstellung von privat und öffentlich gibt. Der Unterschied liegt vielmehr darin, wie jede Einrichtung operiert, wie sie institutionalisiert und entlang welcher Parameter: ob profitorientiert oder nicht. Vieles läuft letztendlich auf aufrechterhaltene Handlungen hinaus, auf Menschen – und wie sie arbeiten – sowie auf die Möglichkeit, anders zu arbeiten. Ich habe selbst in verschiedenen Funktionen für öffentliche Kunstinstitutionen und gemeinnützige Organisationen gearbeitet, bevor ich wieder damit begonnen habe, Kunst zu machen – wie ich in meiner Arbeit Jobs von 2024 aufgelistet habe –, und das hat die Bedingungen meiner Zusammenarbeit mit solchen Strukturen stark geprägt. Kritik ist für mich zu einer sehr viel selbstreflektierteren Aufgabe geworden, rund um die Frage, wie ich als Künstlerin instituiere, und um den Ansatz, die Institution als ein sozial reproduziertes Zusammenspiel von Handlungen zu denken, das wir durchgehend systematisch internalisieren und überwachen. Ich versuche, über diese Prozesse in mir selbst als Künstlerin Rechenschaft abzulegen, und hoffe, dass meine Arbeitsweise einige der Produktions- und Reproduktionsbedingungen im Kunstbetrieb infrage stellt. Was passiert, wenn wir uns auf Verletzlichkeit einlassen, statt in einer Verteidigungshaltung zu verharren? Auf Vertrauen und Gegenseitigkeit statt auf Kontrolle? Auf Fragen der Abhängigkeit statt der Autonomie?

Ghislaine Leung, “Jobs” (Score: A list of jobs held by the artist), 2024
ERIC GOLO STONE: Ein von der*dem ausstellenden Künstler*in und von der ausstellenden Institution autorisiertes Ausstellungsprojekt ist ein Schauplatz von Autoritätsdynamiken, an dem die Kunst untrennbar mit der Bestimmung der kritischen Nutzung dieser Institution verbunden wird. Das heißt, ich sehe Kunstausstellungen als einen Verteilungskampf um das Ausmaß, in dem die Infrastrukturen, das Personal und die Ressourcen mit künstlerischen Mitteln in einer ausstellenden Institution organisiert, eingesetzt und zugeteilt werden. Es ist ein Kampf mit potenziell weitreichenden Folgen, wenn man die überlieferten Kontinuitäten zwischen den ausstellenden Institutionen und dem Staatskapitalismus anerkennt. Der aktuelle politische Moment ist erneut einer der sozioontologischen Abrechnung mit dem wahrgenommenen Zweck und der tatsächlichen Nutzbarkeit existierender Institutionen. Auch im unerbittlichen Aufrechterhalten der archaischen Konventionen von Ausstellungsinstitutionen – darunter nationalistisch-koloniale Sammlungstätigkeit, plutokratische Selbstlegitimation, betriebliche Abhängigkeit von unbezahlter Arbeit und Unternehmensführung nach Treuhandkommando – zeigt sich ein wiederholter, konservativer Backlash als Reaktion auf die Bemühungen um soziale Abrechnung. Die Durchsetzung institutioneller Governance-Regelungen zu verändern, bedeutet für Ausstellungsmacher*innen, dass sie sich mit der risikoreichen Organisation von Strukturen, mit akquisitorischer Realpolitik und brutalem Rechtsrealismus auseinandersetzen müssen. Ob kommerziell oder nicht, ist eine Ausstellung mit institutionellem Mandat ein Ort, an dem Kunst von juristischen Eigentums- und Kapitalregimen nicht mehr trennbar ist. Dass besitzbares Eigentum und das dazugehörige Kapital grundlegend durch die staatliche Rechtsordnung gesichert sind, veranschaulicht, wie unentwirrbar ko-konstitutiv private Interessen und öffentliche Institutionen sind. Plutokrat*innen beanspruchen eine dominierende Kontrolle über Staatsausgaben, weil sie erkennen, dass die Wirtschaftsunternehmen vom Staat abhängig sind.
ZASHA COLAH: Viele Gedanken sind mir durch den Kopf geschossen, während ich euch allen zugehört habe. Ich war immer im öffentlichen Sektor tätig – museums- oder universitätsbasiert oder bei Biennalen –, daher weiß ich nicht, was es heißt, in einem gänzlich privatwirtschaftlichen Zusammenhang zu arbeiten. Aber ich komme aus Bombay, jetzt Mumbai, wo moderne Kunst in den 1940ern gänzlich von privaten Initiativen und Galerien genährt wurde, von kleinen Rahmenhändler*innen, die nebenher Ausstellungen zeigten. Als Kuratorin in einem staatlich geförderten Museum in Mumbai musste ich mich sehr schlau anstellen, um nicht zur Fassade des Nationalstaats zu werden – um eine gewisse Distanz zum Gebäude und zu dem, was es symbolisieren soll, zu wahren und kuratorisch der Komplexität und dem Publikum treu zu bleiben, also den Empfänger*innen der kulturellen Arbeit. Die Aufgabe von Kulturarbeiter*innen birgt ein großes Potenzial, weit über die bloße Verfassungstreue hinauszugehen. Im Nachgang des Finanzcrashs von 2008 gründete ich in Mumbai gemeinsam mit anderen Kurator*innen und Künstler*innen der Stadt die Clark House Initiative (2010–2022). Unsere Gewerkschaft formierte sich zu einem Zeitpunkt, als viele Organisationen in Indien ihre Förderung verloren hatten und Galerien ziemlich konservativ geworden waren, was wenig Raum für kritische zeitgenössische Kunst ließ. Wir mussten uns recht eingehend mit wirtschaftlichen Aspekten auseinandersetzen. Statt externer Förderung arbeiteten wir mit unausgesprochenen Prinzipien des Gabentauschs: Wir tauschten Zeit oder Fähigkeiten – wie Tischlerarbeiten oder Videoschnitt – und wussten, dass das Gegebene immer zehnfach erwidert werden würde.
Im heutigen Berlin jedoch sehe ich eine recht merkwürdige Entwicklung in der Frage nach dem privaten und dem öffentlichen Sektor, und so interpretiere ich vielleicht auch Erics Position: Es sind wirklich fallbezogene Verhandlungen. Ich glaube zwar ebenfalls nicht an eine klare Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, doch gerade jetzt wird diese Unterscheidung interessant, weil Erstres mehr Abstand zur Regierung hat. In einer Zeit, in der Politiker*innen sich zunehmend berechtigt fühlen, in Kunstausstellungen einzugreifen – man denke an den Angriff der AfD auf die Skulptur Projekte Münster oder an den griechischen Minister, der in der Nationalgalerie in Athen Kunstwerke auf den Boden schmiss –, [2] stellen private Räume auf symbolischer Ebene sicherere Kontexte für Künstler*innen dar. Was nicht heißt, dass das Private als Zufluchtsort gefeiert werden sollte – es bietet vielmehr ein Gegengewicht, das im Moment essenziell ist.
STONE: Da stimme ich zu, Zasha: Es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen künstlerischen Interessen, die auf eine Ausstellung angewandt werden, und denen, die Politiker*innen auf diese Ausstellung anwenden, anzuerkennen. Auch dass Ghislaine die Einsatzmöglichkeit von Kunst als verkörpertem Instituieren oder Schaffen von Infrastrukturen betont, ist zentral. Ich frage mich, wie weit künstlerische Qualifikationen im Kontext des Ausstellungsmachens und seiner vernetzten Beziehungen reichen können. Als Vertreter einer ausstellenden Institution plädiere ich nachdrücklich dafür, dass künstlerische Methoden, Kompetenzen und Fähigkeiten für die operativen Strukturen einer Institution, die ja behauptet, eigens für Kunstausstellungen geschaffen zu sein, unerlässlich und in der Praxis notwendig sind. Um dies zu verdeutlichen, muss man verstehen, dass die Arbeit der ausstellenden Künstler*innen für ein Ausstellungsprojekt weit über die ausgestellten Ergebnisse hinausgeht. Für manche ausstellenden Künstler*innen gibt es Komponenten des Kunstwerks, die nicht für die Ausstellung bestimmt sind, aber gleichwertig und untrennbar mit den für ein Display vorgesehenen Komponenten des Kunstwerks verbunden sind. Doch die meisten Ausstellungsinstitutionen unterstützen dieses (notwendigerweise in das Kunstwerk integrierte und nicht reduzierbare) Ausmaß künstlerischer Arbeit nicht. Wert- und Aufmerksamkeitsinfrastrukturen werden weiterhin den ausgestellten Komponenten zugewiesen, hierarchisch getrennt von den nicht ausgestellten Komponenten des Werks. Auf diese Weise kontrolliert das Management der Ausstellungsinstitutionen territorial die administrativen Infrastrukturen, verhindert die Anwendung künstlerischer Methoden auf die strukturelle Steuerung und reduziert die Rolle der ausstellenden Künstler*innen auf die von Produzent*innen gezeigter Inhalte.

Sawangwongse Yawnghwe, “Coup and Resistance,” 2022, in “Extraneous,” EXILE (on the occasion of “Curated By”), Vienna, 2022
ANTONIA KÖLBL: In dieser Hinsicht ist deine Praxis besonders aufschlussreich, Ghislaine. Könnte man sagen, dass deine Arbeit primär vor und außerhalb der Ausstellung stattfindet? Zum einen produziert deine künstlerische Praxis nur indirekt ein Produkt, das ausgestellt werden kann. Es ist die ausstellende Institution, die deinen Scores materielle Form gibt. Und zweitens weist das, was am Ende zu sehen ist – ich denke etwa an deine Schau im n.b.k., die im Juni 2025 eröffnet –, oft auf die materiellen Bedingungen zurück, unter denen du arbeitest, wie zum Beispiel dein Künstlerinnenhonorar.
LEUNG: Als ich anfing, wieder künstlerisch zu arbeiten, habe ich nach Wegen gesucht, eher eine Praxis als ein Produkt zu erzeugen und mich darauf zu konzentrieren, wie ich arbeite – mein Leben einschlossen. Statt zu versuchen, die Realitäten meiner materiellen Lebensbedingungen – wie einen Job, ein Kind zu haben, krank zu sein – zu überwinden oder zu verdecken, wollte ich sie mit meiner Arbeit verweben. Ich wollte mit den Ressourcen arbeiten, die ich nicht habe, und all die Dinge, die ich als Hindernisse empfand, nehmen und anfangen, mit ihnen zu bauen. Ich begann also mit diesen kleinen Übungen – Sub-Scores, die ich selbst ausführe, im Gegensatz zu den Scores für die Institutionen –, was ich seit ungefähr zehn Jahren tue und was einen großen Teil meiner Praxis ausmacht. Es begann mit Dingen wie: kein Lager, kein Studio, kein Transport. Ich fügte dann hinzu: nicht zu meinen Eröffnungen oder zum Aufbau gehen und Arbeitszeiten festlegen. Grundlegende Parameter, die sicherstellen sollten, dass meine Arbeit funktionierte, weil ich nicht da war, statt zu funktionieren, weil ich es war. Wichtig ist, dass es darüber hinaus noch weitere Sub-Scores gibt, die sich mit Scham, Lachen, dem Zulassen der eigenen Angst, von Konservativität und Sich-Verstecken beschäftigen. Sie thematisieren auf unterschiedliche Weise Verletzlichkeit, sowohl auf formaler als auch auf gefühlter Ebene, um Unbeständigkeit und Abhängigkeit als produktive Mittel zu nutzen. Statt Selbstzerstörung ermöglichen sie Selbstunterweisung. Nachhaltigkeit ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine emotionale Angelegenheit, die unterstützender struktureller Arbeit bedarf.
So klein und unperfekt sie auch sein mögen, diese Sub-Scores haben den Weg für meine Arbeit mit Scores geschaffen und sie beeinflussen die Art, wie Institutionen arbeiten, wenn sie auf meine Praxis treffen. Erst vor Kurzem habe ich mir diese Sub-Scores bewusst gemacht, als ich sie alle niederschrieb und beschloss, sie in meinem demnächst erscheinenden Buch Holdings (2015–2025) zu veröffentlichen, das ich in Zusammenarbeit mit der Renaissance Society herausbringe. Für mich ist es unglaublich wichtig, die anstehenden strukturellen Herausforderungen auf diese Weise anzugehen – durch die künstlerische Praxis selbst. Ich glaube nicht, dass meine Arbeit primär vor und außerhalb der Ausstellung stattfindet, einfach weil so vieles von ihr von diesem Kontext abhängt, in Bezug auf die Aufführung der Scores, ihre Interpretation, Distribution, Zirkulation und so weiter. Mein Interesse gilt dem Wirken gegen die Entfremdung bestimmter Bedingungen künstlerischer Produktion und reproduktiver Arbeit von der Vorstellung des Künstler*innenindividuums als Figur – in der Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit sowohl der Kunst als auch der Künstler*innen. Ein Indiz dafür ist, dass so vieles ohne mich geschehen kann und geschieht. Und ich brauche es so, denn sonst könnte ich meine Arbeit nicht fortführen – angesichts der Realität anderer Einkommen, von denen ich abhängig bin und die von mir abhängig sind.
COLAH: Wenn ich über die 13. Berlin Biennale nachdenke, kämpfe ich mit der Herausforderung, wie ich die Ausstellung – die sowohl einen langen Rechercheprozess umfasst als auch Ereignisse, die erst nach ihrem Ende passieren – als ein Ganzes zeigen kann. Unter anderem haben mich folgende Fragen an diesen Punkt gebracht: Ist der Akt, einen Fluss zu retten, das Kunstwerk? Oder ist es die Dokumentation der gemeinsamen Flussrettung mit der Community? Oder ist es das tatsächliche Umgehen der Bürokratie und des juristischen Dickichts, das nötig ist, um den Fluss zu retten? Worin besteht das Kunstwerk wirklich? Es war Milica Tomić, die unterschieden hat zwischen diesem triumphalen Moment der Ausstellung einerseits und dem Ausstellen [3] andererseits, das ein sehr viel längerer Prozess ist. Aber wir verfügen über keine befriedigende Technologie, um das Ausstellen tatsächlich zu zeigen.

“Ramaya Tegegne: Unusability Might be Assumed Unless There are Signs Indicating Otherwise,” Künstlerhaus Stuttgart, 2021
KÖLBL: Warum erscheint es dir als Kuratorin wünschenswert, das Ausstellen öffentlich zu teilen – mit deinem Publikum oder den Empfänger*innen der kulturellen Arbeit, wie du es zuvor formuliert hast? Gerade bei großen Biennalen könnte man argumentieren, dass sie bereits zu viel zeigen. Und ist es wirklich neu, die Recherche sichtbar zu machen? Soweit ich mich erinnere, hat auch die letzte Berlin Biennale viele recherchebasierte Arbeiten gezeigt.
COLAH: Interessanter Punkt. Wir müssen nicht alles triumphal machen, nein. Trotzdem verlängert diese Biennale den Prozess von ausgestellter Kontinuität, indem sie an das gesprochene Wort und zeitgenössische Mündlichkeit anknüpft. Im gegenwärtigen globalen politischen Kontext muss ich die Dinge in Erinnerung behalten, die nie Teil einer Kultur des Displays geworden sind, weil sie nicht dokumentiert oder sichtbar gemacht werden konnten. Ich denke in die Richtung der Experimente von Françoise Vergès in Réunion, wo ein Museum konzipiert wurde, das ein mündliches kulturelles Gedächtnis bewahren sollte.
Wahrscheinlich suche ich nach Modi, um die künstlerische Behauptung selbst auszustellen. Es war ebenfalls Tomić, die in unseren Gesprächen die Macht der künstlerischen Behauptung betont hat – dass etwas Kunst ist, weil der*die Künstler*in sagt, dass es das ist. Davon ausgehend, so würde ich argumentieren, lässt sich fragen, inwiefern Kunstwerke die Fähigkeit haben, ihre eigenen Ansprüche und Gesetze in Gang zu setzen. Hier kommt für mich die Gegenposition der Kunst zu den Begriffen der Legalität ins Spiel.
Meine Gespräche mit Künstler*innen über ihre Behauptungen führten schließlich dazu, das Ausstellungsformat selbst zu durchdenken. Ist es veraltet oder ist es etwas, woran wir festhalten müssen? Gemeinsam mit Künstler*innen begann ich, das Ausstellungsformat als eine Technologie zu sehen, die die Zeit verlangsamt, sodass man wirklich mit Dingen verweilen kann, die langsam sichtbar werden im Verhältnis zu anderen Dingen, anhand derer man nachdenken will.
LEUNG: Als Antwort auf deine Frage, was das Kunstwerk ist – die Behauptung, die Handlung oder das Ding? –, würde ich sagen: Es ist alles davon. Das war es immer schon. Die Vorstellung, dass es ein einziges Ding oder eine einzige Person ist, ist eine falsche; sie beruht auf entfremdeten Beziehungen, die zwar nicht unsichtbar sind, aber vollständig im Verborgenen liegen. Sie sind aus bestimmten Gründen verborgen: aus Gründen der Kontrolle, der Angst und der Herabwürdigung, die das Konstrukt des Werts (von Menschen und Dingen) zur Anwendung bringen. Nicht nur die Produktion bleibt verborgen, sondern auch die Mittel der Reproduktion, die der Produktivität zugrunde liegt und sie aufrechterhält. Die Frage der Aufrechterhaltung ist entscheidend. Hier geht es nicht so sehr um das entmaterialisierte Kunstwerk, sondern um die immaterielle Arbeit der Leben, die es umgeben. Konstitutive Entscheidungen über die Produktion und die Ausstellung von Kunstwerken sind mindestens so abhängig von institutioneller Arbeit wie von künstlerischer. Lange vor der Ausstellung oder sogar der Einladung werden Entscheidungen getroffen, die durch Protokolle, Vorschriften, Budgetgrenzen, Zeitrahmen, ästhetische Auswahl und kuratorische Anliegen geprägt sind – ebenso wie durch institutionelle Besorgnis, Angst und Konservativismus. Mir geht es darum, durch den interpretatorischen Akt der Scores einen Teil der Verantwortung zurück auf die Institution zu werfen. Denn in anderer Hinsicht stellt es eine große Befreiung für mich dar, dass das Werk sich aus Installation, Ausstellung, Austausch, Transaktion, Aufbewahrung, Interpretation, Diskurs und vielem mehr zusammensetzt: So lastet es nicht allein auf mir. Würde ich denken, dass es das tut, könnte ich vielleicht überhaupt keine Werke schaffen. Mich begeistern die seltsamen Stellen der Unsicherheit, der Reibung und der Beängstigung, an denen sich die Abgeschlossenheit des Kunstwerks auflöst in diese ko-konstituierende, menschliche Vielheit.

Ghislaine Leung, “Holdings” (Score: An object that is no longer an artwork), 2024
Zu Beginn meiner Arbeit im Künstlerhaus Stuttgart im Jahr 2020 lud ich Künstler*innen, die in der Institution ausstellen sollten, ein, gemeinsam mit Interessensvertretungen und einer Rechtsberatung an der Überarbeitung der Ausstellungsvereinbarung mitzuwirken. Die neue Vertragsvorlage für Ausstellungsprojekte beinhaltete als zentrale Komponente eine Honorarstruktur für Künstler*innen mit einem Mindeststandard, einem Vorschuss von 50 Prozent und einer festgelegten Honorargarantie. Die Eingeladenen und ich überlegten gemeinsam, wie garantierte Vorschüsse für ausstellende Künstler*innen Ausstellungen vor Absagen vonseiten der Institutionen schützen könnten. Die Vorlage für Ausstellungsverträge enthielt auch eine Klausel zur Herkunft der Finanzierung – ein Vertragsabschnitt, der mit einer Künstlerin entwickelt wurde, die zugleich Mitglied des Vorstands war. Es gab auch eine Klausel, die festlegte, dass ausstellende Künstler*innen Zugriff auf ein voll aufgeschlüsseltes Budget erhalten sollten, nicht nur auf das Budget der künstlerischen Produktion. Ein solches Offenlegen der Budgetplanung bedeutet, dass ausstellende Künstler*innen von den Entscheidungen über Ausgaben und Arbeitsposten weniger entfremdet sind. Zusätzlich zur Überholung der Ausstellungsvereinbarung arbeitete ich gemeinsam mit ausstellenden Künstler*innen an Infrastrukturen zur Rechtshilfe für visumbeantragende, migrantische, vertriebene, asylsuchende und geflüchtete Künstler*innen, sowie an einem Verhaltenskodex, der weitreichendere Regressmöglichkeiten als die gesetzlich vorgeschriebenen festlegte. Die ausstellenden Künstler*innen waren für jede dieser Policy-Initiativen zentral. Sie halfen nicht nur dabei, die institutionelle Kapazität für inklusivere Strukturvereinbarungen und Vertragsverhandlungen zu fördern, sondern auch, die Kapazität von Kunst für das Öffnen gesellschaftlicher Möglichkeitsräume zu stärken, die über die Grenzen eines reinen Rechts- und Gesetzesrahmens hinausgehen.
LEUNG: Der vermeintlich neutrale Rahmen der Ausstellungsform beruht oft auf einer Reihe zuvor bestehender struktureller oder organisatorischer Festlegungen, die in der Regel durch Verträge geregelt sind, sowie auf einer Reihe informeller und unregulierter internalisierter Verhaltensweisen, die einvernehmlich geteilt und sozial reproduziert werden. Das Verhältnis zwischen beiden lässt mich immer an eine später veröffentlichte Rede von Jo Freeman aus dem Jahr 1970 denken, The Tyranny of Structurelessness (1974 auf Deutsch erschienen als Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen, Anm. d. Ü.). In Freemans Analyse der Selbstorganisation von Gruppierungen der Frauenbewegung der zweiten Welle, die jede Art von strukturierender Ordnung ablehnten, argumentierte sie, dass das, was als Ermöglichung größerer Freiheit gedacht war, in einer Aufrechterhaltung bestehender Unterdrückungsstrukturen mündete. Da diese Gruppierungen auf dem Papier jede Hierarchie abgeschafft hatten, konnten Herrschaftsstrukturen innerhalb der Gruppen nicht mehr benannt werden. Will man gesellschaftliche Reproduktionen dieser Art vermeiden, kann man nicht einfach jede Struktur abschaffen. Wir haben es schließlich mit einem neoliberalen kulturellen System der Deregulierung zu tun. Den Punkt, an dem Dekonstruktion adäquat war, haben wir wohl überschritten; die Werkzeuge der Herrschenden werden das Haus der Herrschenden nicht einreißen. Und einen Platz am Tisch zu ergattern, stellt die Struktur des Tisches an sich nicht infrage – diesen Platz abzulehnen aber ebenso wenig. Auf irgendeine Art setzt jeder Versuch, in eine Top-Down-Struktur einzugreifen oder selbst eine zu werden, diese fort. Was sind also die Ansprüche und Forderungen, die Handlungen und Verstöße, die man von unten in die Strukturen implementieren könnte – als Künstler*in, als Kurator*in, als Redakteur*in? Solche, die damit arbeiten, wo wir sind und was wir nicht haben? Produktivität ist abhängig von reproduktiver Arbeit; könnten wir aufhören, diese Arbeit abzuwerten, könnten wir sie vielleicht anders mobilisieren. Ich kann nicht mehr biologisch reproduzieren; ich muss einen Umgang damit finden und das Nicht-nicht-mehr-Reproduzieren als eine andere Form von Reproduktion verstehen.

Zasha Colah and Valentina Viviani, Curator and Assistant Curator of the 13th Berlin Biennale for Contemporary Art
VOGEL: In den letzten Jahren haben sich Konzepte wie Fürsorge, Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität als Themen herauskristallisiert – bei kleinen Künstler*innenprojekten bis hin zu großen Biennalen. Dies ging stets mit der kritischen Frage einher, wie diese Ideale über liberale Lippenbekenntnisse hinausgehen und tatsächlich verwirklicht werden können. Die jüngsten und anhaltenden Veränderungen in der Kulturpolitik unterstreichen die Dringlichkeit dieser Art von Kritik. Wenn man über die Übersetzung materieller Bedingungen in die Ausstellungsform nachdenkt, halte ich es für hilfreich, aus der Geschichte der Institutionskritik zu schöpfen – nicht zuletzt, weil sie eng mit deiner Praxis, Ghislaine, und der deiner Zeitgenoss*innen wie Carolyn Lazard und Park McArthur verknüpft ist sowie mit einigen der Künstler*innen, die du, Eric, während deiner Amtszeit im Künstlerhaus Stuttgart gezeigt hast, darunter Eva Barto, Maria Eichhorn, Niloufar Emamifar, Andrea Fraser, Flint Jamison, Bea Schlingelhoff und Ramaya Tegegne. Wie unterscheidet sich diese neuere Welle der Institutionskritik – die man mit Ghislaines Terminologie auch als constitutional critique bezeichnen könnte oder mit einem Begriff der verstorbenen Theoretikerin Marina Vishmidt als Infrastrukturkritik – von den früheren Ansätzen? Und wichtiger noch: Wie geht sie mit der Gefahr um, das von ihr kritisierte System möglicherweise zu erhalten oder gar zu verstärken? Wie lässt sich das rein Symbolische vermeiden?
LEUNG: Der Schlüssel liegt vielleicht in einem erweiterten oder verkörperten Verständnis von Institution, das auch andere Systeme mit einbezieht: mein eigenes Leben, meine eigenen Umstände, die Ressourcen, die ich nicht habe, die Einschränkungen, innerhalb derer ich mich bewege. Das ist es, was viele der Künstler*innen, die du erwähnt hast, mit so großer Präzision – und aus der Notwendigkeit heraus – tun. Von vornherein fragt eine solche andere künstlerische Praxis nicht nur danach, was eine Arbeit ausmacht, sondern tut dies durch die Art und Weise, wie wir arbeiten. Vielleicht geht es nicht so sehr darum, was wir tun, sondern vielmehr darum, was wir nicht tun, nicht können oder nicht länger tun wollen. Für mich geht es auch nicht um absolute Haltungen: Ich will nicht aussteigen, ich will dabeibleiben, um immer wieder aufhören zu können. Es geht darum, diese Mikro-Rückzüge aufrechtzuerhalten. Ich kann das tun und damit weitermachen, weil es eben keine großen Verschiebungen sind. Wenn systemische Voreingenommenheit durch ein System der Mikroaggressionen aufrechterhalten wird, dann denke ich, dass es auch auf dieser Ebene verändert werden kann, in kleinen Akten der Vulnerabilität.
All das bedeutet, dass meinen Ausstellungen eine große Fülle an Verhandlungen vorausgeht, insbesondere im Vergleich zum eher minimalen Umfang der Arbeiten, die am Ende gezeigt werden. Dies erfordert Vertrauen und Gegenseitigkeit. Sobald sich die Bereitschaft zu Veränderungen zeigt, beginne ich, etwas einzubringen, das mir am Herzen liegt. Als Praxis verstanden, geht es bei meiner Arbeit sehr stark darum, diesen emotionalen Raum zu schaffen. Das ist nicht der Ausstellungsraum an sich, sondern ein Raum für Diskussion und Meinungsverschiedenheit: eine Politik des Ausstellens. Ausstellen fühlt sich verletzlich an, und darum ergeben sich so viele Abwehrmechanismen. Oft schließen sie jedoch das Wesentliche aus. Beim Ausstellen, im Gegensatz zur Ausstellung, geht es vielleicht weniger um Technologie als darum, sich ein Herz zu fassen.
Ich habe das Gefühl, dass, wenn wir weiterhin nur nach der perfekten, unanfechtbaren Kritik suchen, schlichtweg keine Kritik mehr stattfinden wird. Sie wird puritanisch und basiert nur noch auf messbaren Ergebnissen. Kritische Distanz oder Objektivität als Garantie für Sicherheit können wir uns nicht leisten; wir stecken zu tief drin. Man muss Gefühle riskieren und dafür braucht man Unterstützung. Wir brauchen all das und wir brauchen einander, mit all unseren Differenzen. Dinge werden funktionieren oder nicht – oder sie werden auf eine Weise funktionieren, die man sich nie hätte vorstellen können. Ich denke, wir müssen diese Unsicherheit, Ambivalenz und Widersprüchlichkeit aushalten: Das ist es, was man sogar in sich selbst in diesem Vor und Zurück, Hin und Her fühlen kann.

“Bea Schlingelhoff: Declined Declinations,” Künstlerhaus Stuttgart, 2022
Während wir viel über die Zensur von Ausstellungsergebnissen hören, gibt es auch einen riesigen Anteil von Arbeit, die schon vor einer Ausstellungseröffnung geleistet wird und die auf Unterdrückung oder Backlash der Kontrollinstanzen stößt. Journalismus und Kunstkritik berichten nicht über die internen Führungskämpfe rund um Ausstellungen, selbst wenn sie über die Absage einer Ausstellung schreiben – sicher teilweise aufgrund von Geheimhaltungsvereinbarungen. Nur selten lesen wir detaillierte Reportagen darüber, wie ein*e angestellte*r Ausstellungskurator*in mit vielen Verantwortlichkeiten, aber wenig Entscheidungsbefugnis gefeuert wurde oder wie ein*e Direktor*in, die*der im Auftrag eines Vorstands tätig ist, aufgegeben hat oder entlassen wurde. Wenn man sich Michael Ashers Archiv von Ausstellungsdokumenten ansieht, bemerkt man, dass sogar bei einem privilegierten Künstler wie ihm viele Vorschläge für Ausstellungsprojekte aufgrund politischer Differenzen, zum Beispiel in Bezug auf Sponsoringvereinbarungen, vom Management abgesagt wurden. Es ist bezeichnend, dass Asher seine Arbeit an einer Ausstellung davon abhängig machte, dass die ausstellende Institution ihr Sponsoring durch Nestlé beendete.
Ausstellende Künstler*innen verfügen über einen taktischen Vorteil bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen in ausstellenden Institutionen. Sie sind es, die den Zeitpunkt des Zurückhaltens von Inhalten strategisch so wählen können, dass individuelle Rechte und Haftung mit gemeinsamen Rechten und kollektivem Streik verknüpft werden. Die meisten von ihnen haben ein Verständnis von Arbeitsorganisation aus der Perspektive von unbezahlter Arbeit und auf Ebene der Arbeiter*innen. Ausstellende Künstler*innen stehen nicht außerhalb von Institutionen, deshalb sollten sie auch in der gesetzlichen Durchsetzung von Arbeitsbedingungen auf keinen Fall außerhalb von groß angelegter Gewerkschaftsbildung, von Tarifverhandlungen und anderen Koalitionsbestrebungen stehen. Und dennoch handelt es sich hier um Eintrittsbemühungen, die mit dem Rahmen von Recht und Gesetz in Einklang stehen. Wenn also der Kunst diese Untrennbarkeit vom Gesetz aufgebürdet ist, wie könnte die Kunst sich dann dem Gesetz mit übergeordneter Kraft aufbürden? Das künstlerische Potenzial dieser Untrennbarkeit ist es, was mich interessiert.

Ghislaine Leung, “Times” (Score: Access to exhibited works is limited to the studio hours available to the artist. Thursday 9AM–4PM, Friday 9AM–4PM. The exhibition space may remain open regular hours), 2022
Aber lasst mich auf Felix’ Frage zurückkommen, die mich ein bisschen umtreibt: Fürsorge, Verteilungsgerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit und Institutionskritik … Es scheint mir, als hätten wir dieselbe Frage auch schon in der Vergangenheit diskutieren können. Das sind die einfachen Dinge, die ich liebe und in denen ich durch meine Arbeit geübt bin. Doch gerade gibt es so viele Notlagen überall um mich herum – ich fühle mich schlecht ausgebildet und ausgerüstet, und ich glaube, auch das ist es wert, diskutiert zu werden. Zum Beispiel das wachsende Vordringen der Politik in Sphären, die zuvor als sicher vor feindlichen Übergriffen galten. In Indien hat das Parlament gerade die sogenannte Finance Bill 2025 verabschiedet, die es dem Staat erlaubt, in den virtuellen Raum von Personen einzudringen, wenn Staatsbeamt*innen einen Grund zur Annahme haben, dass deren Einkommenssteuererklärung fehlerhaft ist. Das betrifft den gesamten virtuellen Raum: jeden Social-Media-Account, jede E-Mail, egal ob verschlüsselt oder nicht. Das ist ein Angriff auf kulturelle, intellektuelle und journalistische Institutionen durch die Tür des Persönlichen.
Es gibt Herausforderungen, die über das hinausgehen, was Felix bisher genannt hat; es geht nicht nur um die Arbeit in, mit und gegen Institutionen im Sinne der Institutionskritik: Die Institutionen selbst sind aktuell massiv bedroht. Angesichts der neuesten ökonomischen Entwicklungen in Berlin hat zum Beispiel so mancher intellektuelle Diskurs über materielle Bedingungen beinahe an Bedeutung verloren. Es gibt enorme Kürzungen, die Leute springen von Beschäftigung zu Beschäftigung, Verträge sind extrem kurz befristet. Ich sehe keinen Mangel an Fürsorge, sondern ein hohes Maß an Instabilität innerhalb der Institutionen.
Umweltfaktoren und eine repressive Einwanderungspolitik haben ebenfalls zu einer größeren Unsicherheit geführt. Ich arbeite mit Künstler*innen, die gerade ein Erdbeben durchlebt haben und nicht kommunizieren können, weil es dort gerade keinen Strom gibt. Und in den letzten Monaten gab es solche, die um ihr Visum oder ihren Aufenthaltsstatus bangen mussten – was wiederum zu extremer Vorsicht in Bezug darauf führt, was sie unter ihrem Namen öffentlich machen.
STONE: Innerhalb dieses Dilemmas zwischen anhaltender Prekarität und der völligen Eliminierung von Institutionen müssen wir eine zielgerichtete Alternative anbieten. Man kann nicht umhin, die Verteidigung von Ausstellungsinstitutionen ambivalent zu sehen: Als Bildungs- und Sozialeinrichtungen sind sie Austeritätsmaßnahmen ausgesetzt, zugleich profitieren sie direkt von nationalistischer Akkumulation. Ein vom Staatskapital errichteter Apparat kann nie befreit werden, doch zumindest sollte diese funktionstüchtige Traumamaschinerie notwendigerweise im Dienste von Reparationen eingesetzt werden. Es gibt mutige Menschen, die nicht aufgeben und sich für das kritische Projekt der Reparation innerhalb irreparabler Systeme einsetzen. Es gibt Verbündete, Freund*innen und Familienangehörige, die in und unter diesen widrigen Institutionen arbeiten. Den Kampf um die Organisation der Nutzweisen und Nutzer*innenschaft der unvermeidbaren Institutionen aufzugeben, würde bedeuten, das hierarchisch verwaltete Zugrunderichten, die Aushöhlung und Abschiebung einer tödlichen Nekropolitik zu akzeptieren. Wenn der Staat institutionelle Möglichkeiten für Reflexivität und Dissens ausschließt, ist es trotzdem wichtig, dass kritische Negation innerhalb von Institutionen Raum einnimmt, Ausstellungsinstitutionen als logische Schauplätze gelebter Kämpfe eingeschlossen.

Ruins of Ennigaldi-Nanna’s museum, Iraq
COLAH: Aus meiner Sicht ist das Museum keine didaktische Maschine, die im Westen erfunden wurde. Vielmehr könnte sich das erste Museum in Ur, Irak, 530 v. Chr. in Mesopotamien befunden haben, kuratiert von Ennigaldi-Nanna, einer Priesterin und Prinzessin, die verschiedene Objekte aus grundverschiedenen Zeitaltern und Herkunftsorten zusammen in dieselben Räume gestellt hat. Wir wissen nicht sicher, was es genau war, aber da es aussieht wie ein Museum, nennen wir es so. Wenn man von diesem Interesse an verschiedenen Dingen ausgeht, die über Zeitperioden hinweg miteinander in Dialog treten, dann ist ein Museum ein sehr allgemeines Konzept – und das gilt im erweiterten Sinne auch für die Kunstinstitution. Es scheint auch, dass diese Orte oft die ersten sind, die in Zeiten politischen oder militärischen Umsturzes zerstört werden. In der Schlacht um Khartum 2023, nach dem Putsch im Sudan 2021, gehörten die Archive und das Museum zu den ersten Institutionen, die bombardiert wurden. Weshalb? Und weshalb waren auch hier 1933 Künste und Kultureinrichtungen die ersten, die gleichgeschaltet beziehungsweise stillgelegt wurden? Was macht kollektiv organisierte Kultur so bedrohlich für die Politik? Ich bin immer wieder überrascht, wie schnell es zu solchen Zusammenbrüchen kommt.
KÖLBL: Ich möchte auf deine Frustration über die Terminologie zurückkommen, Zasha, die ich teile. Es erscheint fast müßig, die drohenden Krisen, die wir gerade erleben und die sich derzeit zu beschleunigen scheinen, immer wieder zu erwähnen. Und genau das ist meine Sorge: Ich habe das Gefühl, dass mir die Sprache fehlt, die aktuelle Situation angemessen zu beschreiben. Gibt es eine Sprache, die ihr im Moment als hilfreich empfindet? Nach dem, was du bisher über die Berlin Biennale veröffentlicht hast, Zasha, arbeitest du mit einer expliziten Verschiebung der Terminologie – weg vom Begriff der Identität und hin zum Begriff der Würde.
COLAH: Ich denke, ihr habt diese Frage teilweise schon selbst in eurer Einladung an uns beantwortet, in der ihr betont habt, dass das wachsende und undifferenzierte Infragestellen von Identitätspolitik kritisch diskutiert werden muss. Das ist Teil des Problems: undifferenzierte Sprache. Besonders, weil Sprache so einfach von der (extremen) Rechten angeeignet werden kann. Ich stelle selbst Identitätspolitik infrage – aber das tut auch Elon Musk. Was heißt das für mich? Bin ich damit auf Elon Musks Seite? Nein. Deshalb ist es so wichtig, Unterschiede und Nuancen von Bedeutung auszuformulieren und Vereinfachungen zu vermeiden. Im kulturellen Feld müssen wir verschwierigen, wie wir mit Sprache umgehen. Kunst macht auch Imagination, Ideen und Begriffe plastisch, und die Plastizität von Sprache in diesem Sinne ist ausgesprochen dicht: Sie kann verschiedene Bedeutungen, Mehrdeutigkeiten, Ausdifferenzierungen, Widersprüche und Schwierigkeiten beinhalten, die sich wie sedimentäres Gestein zu einem plastischen Gebilde verbinden. In dieser Form ist es wohl einfacher für die Gesellschaft, sie zu akzeptieren. Natürlich beinhalten Kunstwerke Sprache, aber das plastische Element fügt ein Vielfaches hinzu. Dies ist äußerst nützlich in einem Klima, in dem Menschen so schnell willentlich missverstehen oder in dem man sich nicht klar äußern kann. Wir müssen die Art künstlerischen Denkens, über die wir zuvor gesprochen haben, sowohl auf Aspekte wie Budgets und Verträge als auch auf Sprache und Repräsentation anwenden.
STONE: Identitätspolitik (oder auch Standpunkt-Epistemologie) entspringt substanziellen Überlegungen und bleibt ein unrealisiertes Projekt der Anerkennung von Unterschieden ohne Hierarchiebildung. Wir dürfen diese wichtigen, aufkeimenden Ideen nicht den engstirnigen Interessen eines elitären Abfangens und eines rechten Backlashs überlassen. Es gibt weiße Männer, die Identitätspolitik hassen, weil sie die Lüge aufrechterhalten wollen, wir lebten in einer postrassistischen Welt des kompetitiven Aufstiegs. Reiche Chef*innen fordern arme Arbeiter*innen auf, sich gegen jegliche Antidiskriminierungsschulung am Arbeitsplatz zu wehren und Vermögensungleichheiten zu vergessen. Selbstverständlich sollten wir Antidiskriminierungsschulungen am Arbeitsplatz durchführen und Vermögensungleichheiten nicht vergessen. Wir dürfen keine gewaltsam reduktionistischen Fiktionen und Dichotomien akzeptieren. Anstatt Unterschiede beiseitezuschieben oder zu überwinden, müssen wir sozial dazu fähig sein, gelebte Unterschiede anzuerkennen und die strukturell transformative Arbeit zu leisten, die Hierarchien entgegentritt. Dieses Projekt ist in den Bedingungen der Realität verankert und verfolgt einen weiten kritischen Horizont. Ich begrüße die Betonung künstlerischer Methoden, die über den Rahmen von Recht und Gesetz hinausgehen, glaube aber nicht, dass das Überschreiten dieses Rahmens zwangsläufig dessen Beseitigung bedeutet. Im Gegenteil: Sobald das Gesetz auch nur geringfügig erweitert wird, um diskriminierte Parteien zu schützen, sieht man häufig, wie anschließend diese Rechte selektiv wieder außer Kraft gesetzt oder entzogen werden – Autokratie und Plutokratie nutzen das Gesetz, um den Kreis der Begünstigten drastisch einzuschränken.
LEUNG: Ich denke, manche Sprechweisen werden genutzt, weil sie effizient sind. Eine gute Sache an Kunst ist jedoch, dass sie nicht immer sehr effizient ist, und ich denke, dass wir auf diesem Weg ein paar Dinge zusammenführen können, über die ihr beide gesprochen habt. Es gibt etwas Politisches in der Ineffizienz – in ihrer Verweigerung, ihrem Mangel. Jedes Werkzeug, das man nutzt, wird immer auch anderweitig eingesetzt; alles, was funktioniert, wird schließlich angeeignet. Doch wenn etwas sich diesen Bewertungsmaßstäben stur verweigert, kann es nicht von ihnen beansprucht werden. Dass Kunst nicht in der Erfüllung von Kriterien aufgeht, ist in vielerlei Hinsicht ihre Stärke: Sie übertrifft diese Kriterien. Hier findet das Experimentelle statt, die Abrechnung mit dem Unbekannten. Jede Verweigerung des Bekannten ist zugleich eine Affirmation des bis dato Unbekannten. Künstler*innen müssen sich auf viele Arten mit Prekarität und Unsicherheit auseinandersetzen. Vielleicht können Institutionen davon etwas lernen: darüber, sich mit dem zu beschäftigen, was Kunst nicht kann und wir nicht können – womit wir alle zu kämpfen haben. Und das ist keine Thematik, es ist eine Handlung.
Übersetzung: Hanna Magauer
Zasha Colah ist seit 2023 künstlerische Co-Direktorin von Ar/Ge Kunst, Bozen-Bolzano, und unterrichtet seit 2018 Curatorial Studies an der Nuova Accademia di Belle Arti in Mailand. Sie ist Kuratorin der 13. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst.
Antonia Kölbl ist Kunsthistorikerin und Chefredakteurin von TEXTE ZUR KUNST.
Ghislaine Leung ist eine britische Konzeptkünstlerin. In ihren Arbeiten verwendet sie scorebasierte Anweisungen, um die Bedingungen künstlerischer Produktion radikal umzuverteilen und neu zu konstituieren. Leung hat ihre Arbeiten international ausgestellt, zuletzt 2025 in einer Einzelausstellung im n.b.k. in Berlin. Ihr drittes Buch, Holdings (2015–2025), erscheint in Kürze.
Eric Golo Stone ist Autor und Kurator. In seiner Arbeit hebt er strukturell transformative künstlerische Methoden der Institutionskritik hervor.
Felix Vogel ist Professor für Kunst und Wissen an der Universität Kassel und Mitglied des documenta Instituts. is a professor of art and knowledge at the University of Kassel and a member of the documenta Institute.
Image Credit: 1. Courtesy Künstlerhaus Stuttgart, photo Frank Kleinbach; 2. Courtesy of Ghislaine Leung and Maxwell Graham; 3. Courtesy EXILE Gallery; 4. Courtesy Künstlerhaus Stuttgart, photo Frank Kleinbach; 5. Courtesy Ghislaine Leung and Maxwell Graham; 6. Courtesy Künstlerhaus Stuttgart, photo Frank Kleinbach; 7. Photo Raisa Galofre; 8. Courtesy Ghislaine Leung and Maxwell Graham; 9. Public domain.
Anmerkungen
[1] | Marina Vishmidt, „Between Not Everything and Not Nothing. Cuts Toward Infrastructural Critique“, in: Former West. Art and the Contemporary After 1989, hg. v. Maria Hlavajova/Simon Sheikh, Cambridge, Mass. 2017, S. 265–269, hier: S. 266. |
[2] | „AfD gegen Skulptur Projekte“, Antenne Münster, 10. April 2024; „Greek Politician Vandalizes ,Blasphemous‘ Works at Athens Museum“, Artforum, 13. März 2025. |
[3] | „Exhibiting Matters“, Themenausgabe, GAM Architecture Magazine, 14, 2018. |