DOCUMENTA EXONUMIA ODER DAS AUSSTELLEN POLITISCH MACHEN Felix Vogel über „exergue – on documenta 14“ von Dimitris Athiridis

Dimitris Athiridis, „exergue – on documenta 14“, 2024
In der Numismatik wird mit dem Begriff Exergue ein klar abgetrennter Abschnitt unterhalb des eigentlichen Motivs auf einer Münze bezeichnet. Oft ist er für das Datum oder den Ort der Prägung respektive für das Signum des Münzherrn oder der Münzstätte reserviert; gelegentlich wird er auch für gestalterische Elemente oder als kompositorische Leerstelle verwendet. Dass sein Inhalt in keinem motivierten Zusammenhang zur repräsentativen Darstellung (beispielsweise einer Herrscherin) oder dem Nominal- oder Materialwert der Münze steht, macht das Exergue auf den ersten Blick nebensächlich. Es ist zwar Teil der Münze, wird aber bereits auf etymologischer Ebene (griechisch „ex“ für aus oder außerhalb und „ergon“ für Werk) vom eigentlichen Teil abgesondert. Damit bildet das Exergue einen gewissen Überschuss zur eigentlichen Funktion der Münze. Erst in den letzten Minuten des 14-stündigen Films von Dimitris Athiridis wird aufgelöst, weshalb dieser den Begriff im Titel aufgreift: Fast beiläufig erklärt da Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der documenta 14, die Funktionsweise des Exergue zum kuratorischen Prinzip der Ausstellung.
Es lohnt sich, an dieser Stelle kurz auszuholen, um die Szenen unmittelbar vor Szymczyks Ausführungen zum Exergue zu rekapitulieren. Das letzte der insgesamt 14 Kapitel gibt Ausschnitte vom Eröffnungstag der documenta 14 in Athen nahezu in Echtzeit wieder: Wir sehen Szymczyk nervös, erschöpft, frustriert und gestresst am Handy streiten und lamentieren [1] ; Szymczyk, der vor zahlreichen Staatsoberhäuptern eine Eröffnungsrede hält, in der er unverhohlen eine Reihe aktueller finanz- und weltpolitischer Missstände kritisiert [2] ; Szymczyk, der eben diese Staatsoberhäupter, andere VIPs und Pressevertreter*innen durch die Ausstellung führt; Szymczyk, der Glückwünsche entgegennimmt und für Selfies mit Besucher*innen posiert; und schließlich Szymczyk, der sich in ein Zelt im Innenhof des als Ausstellungsort dienenden Athener Konservatoriums vor dem Trubel zurückzieht und einer samischen Gesangsdarbietung beiwohnt. Hier trifft er auf die Kritikerin und Kuratorin Federica Bueti, die ihm den Vorwurf macht, dass er als Kurator in der Ausstellung nicht präsent genug sei und all die losen Fäden und vielstimmigen Positionen hätte besser zusammenführen müssen. Szymczyk wehrt das Argument, ohne Bueti aussprechen zu lassen, pauschal ab. Nachdem er ihr als Antwort auf diese Kritik etwas oberlehrerhaft anhand einer Münze erklärt hat, was ein Exergue ist, entwickelt sich folgender Dialog:
Zieht Szymczyk hier eine Analogie zwischen einem numismatischen Element und seiner kuratorischen Strategie? Oder verwendet er die Analogie, um im Nachhinein mit den frustrierenden Erfahrungen der vorhergegangenen fünf Jahre fertigzuwerden? Für Ersteres spricht, dass Szymczyk sie nicht spontan aus der Luft greift, sondern der Begriff Exergue bereits im Katalog der documenta 14 eine Rolle spielt. [3] In beiden Fällen verweist er auf die Einbindung der Ausstellung in infrastrukturelle Faktoren. Und es wäre demnach eine Strategie, die gegebene Strukturen billigt (konkret: die einer Großausstellung, die primär von deutschen Steuergeldern finanziert wird und einen Begriff von Kunst propagiert, der an eine westliche Auffassung von Autonomie und damit die Idee von Eigentum gebunden ist), ohne vor diesen zu kapitulieren, ohne jedoch auch der Vorstellung zu unterliegen, man könne sie grundlegend umstürzen. Das ist, im Vergleich mit der oft wohlfeilen Radikalität kuratorischer Prosa, eine durchaus reflektierte Position, die sich über Form, Inhalt und Struktur einer Ausstellung im Klaren ist und diese Ebenen nicht verwechselt. Wie das Exergue als formal klar definiertes Supplement einer Münze hat auch eine kuratorische Haltung innerhalb eines bestimmten „apparatus“ einen Handlungsspielraum. Zugleich produzieren beide einen Bedeutungsüberschuss, der über diesen Spielraum hinausgeht.
Dass das Exergue für den Gebrauch der Münze nicht zwangsläufig notwendig ist, macht es nicht bedeutungslos – ganz im Gegenteil. So ist auch die Analogie zur Ausstellung zu verstehen: Die minimale Einschreibung bedingt, wortwörtlich von den Rändern her, eine wesentliche Veränderung des Zentrums. Entsprechend versteht sich Szymczyks Strategie als eine, die sich von der zentralen kuratorischen Autorität verabschiedet, also nicht den Anspruch erhebt, die letztgültige Instanz zu sein. Stattdessen ist es eine Arbeit, die in andere Kontexte hineinragt und möglicherweise in der „eigentlichen“ Ausstellung selbst gar nicht sichtbar oder greifbar wird. Darin ist unbedingt auch ein Geltungsanspruch vonseiten des künstlerischen Leiters zu erkennen, jedoch einer, der sich als Bescheidenheitsgeste gibt.
Exergue – on documenta 14 macht noch weitere Aspekte deutlich, die auch im Kontext aktueller Ausstellungspolitik relevant sind und über Szymczyks Analogie mit dem titelgebenden Begriff in Verbindung stehen. Durch den ganzen Film zieht sich das Hadern mit aktuellen politischen Ereignissen und der Frage, ob oder wie diese innerhalb einer Großausstellung reflektiert werden müssen. Athiridis Film verbindet dokumentarische Aufnahmen der documenta 14 mit Material aus Nachrichtensendungen – eine Montagetechnik, die uns daran erinnert, dass die mittleren 2010er Jahre im Vergleich zu heute kaum besser waren: der Beginn der ersten Amtszeit Donald Trumps, die Abstimmung zugunsten des Brexit, die Anschläge in Paris vom 13. November 2015 und nicht zuletzt die Polizeigewalt in Reaktion auf die in Athen wiederkehrenden Proteste gegen die von der Troika verordnete Austeritätspolitik. Das komplexe Verhältnis zu diesen Ereignissen wird beispielsweise in einer Szene im ersten Viertel des Films, in Kapitel 2 „Going South“, deutlich, in der Szymczyk mit Pierre Bal-Blanc und Paul B. Preciado (beide Teil des kuratorischen Teams) diskutiert, ob als Reaktion auf die aktuelle politische Situation ein Statement verfasst werden sollte. Die Kuratoren unterliegen nicht der Hybris, dass eine Ausstellung tatsächlich viel ausrichten kann, und hinterfragen im Gespräch entsprechend, welche Autorität sie für eine derartige Positionierung überhaupt besitzen. Dann verschiebt sich die Diskussion auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der documenta 14, der Institution Documenta sowie ihrer staatlichen Finanzierung und die Frage, in welchem Maße diese ökonomischen Bedingungen politische Verstrickungen implizieren. Szymczyk merkt in diesem Zusammenhang an, dass auch mangelnde Positionierung ein Statement ist: „So, if documenta doesn’t say anything, that means that documenta accepts its position as a part of that.“
Des Weiteren führt uns der Film vor Augen – und zwar nicht nur, wenn wir ihn vor dem Hintergrund der Problematik der darauffolgenden documenta fifteen betrachten –, wie identitätspolitische Themen kuratorisch gesetzt und dabei selbstkritisch reflektiert werden und im gegenwärtigen Ausstellungsbetrieb nicht mehr wegzudenken sind. Anschaulich wird dies etwa während einer ausführlich dokumentierten Recherchereise nach Sápmi, in der sich das kuratorische Team auch die Frage stellt, ob die Inklusion von Sámi-Künstler*innen, die bislang bei keiner Documenta vertreten waren, einer Exotisierung gleichkomme, man der expansiven Logik von Großausstellungen also unkritisch gefolgt sei. Das im Film gründlich dokumentierte und am Ende gescheiterte Bestreben, die Gurlitt-Sammlung in die Ausstellung zu integrieren, rückt daraufhin Fragen der Restitution und deren wachsende Bedeutung ins Zentrum.

Dimitris Athiridis, „exergue – on documenta 14“, 2024
Exergue – on documenta 14 verdeutlicht auf eindrückliche Weise, in welchem Maße Akteur*innen und Infrastrukturen für das Gelingen einer Ausstellung verantwortlich sind: Der Film besteht zu sehr großen Teilen aus langwierigen Besprechungen und Aushandlungsprozessen – und zwar weniger aus solchen zwischen dem kuratorischen Team und den Künstler*innen als vielmehr aus institutionellen, sowohl innerhalb der Documenta als auch mit anderen Institutionen. Dadurch werden die unterschiedlichen, mitunter konfliktären Ebenen der Verantwortung aufgezeigt, die in eine Ausstellung – und besonders eine dieses Formats – hineinspielen. So geht beispielsweise die kuratorische Verantwortung für ein künstlerisches Werk offenkundig nicht zwangsweise konform mit der rechtlichen und buchhalterischen Verantwortung einer GmbH.
Exergue veranschaulicht nicht nur, was für ein immenser Kraftakt es war, die documenta 14 in Athen und Kassel gleichzeitig stattfinden zu lassen. Zudem zeigt der Film noch einmal sehr klar, was sich bereits während der Ausstellung abzeichnete: Ihr eigentliches Vermächtnis scheint mir im Ausloten von (lokalen) Kontexten und Bedingungen des Ausstellens zu liegen. Diese reichen von der Frage, ob und mit welcher Haltung Geld von einem Luxuskonzern angenommen werden kann, bis hin zur Entscheidung, in Athen alle Labels auf den Boden zu legen, um die Sterilität von Ausstellungsräumen kritisch zu kommentieren. In Anlehnung an ein Bonmot Jean-Luc Godards lässt sich die documenta 14 als Versuch verstehen, keine politische Ausstellung, sondern das Ausstellen politisch zu machen.
Während der zwei Jahre, in denen Athiridis Szymczyk (und sein Team [4] ) begleitete, entstanden 800 Stunden Film, zudem hatte der Filmemacher 200 weitere Stunden Archivmaterial (historische Dokumente, Fernsehnachrichten zu aktuellen politischen Ereignissen oder die Berichterstattung über die documenta 14) zur Verfügung. Der finale 14-stündige Film enthält also nur 1,4 Prozent des gesamten Rohmaterials. In bisherigen Rezensionen wurde häufig erwähnt, dass Athiridis mit den Konventionen des Observational Cinema breche, insofern der Akt des Gefilmt-Werdens gelegentlich von den Protagonist*innen thematisiert wird oder der Regisseur sogar selbst an Gesprächen teilnimmt. Wichtiger scheinen mir für die Form des Films zwei weitere Verfahren: zum einen die narrative Montage durch den Schnitt, der mit Wiederholungen, der kommentierenden (oft durchaus ironischen) Einblendung von historischem Filmmaterial oder Zeitsprüngen arbeitet und ohne Voiceover zahlreiche Handlungsstränge zusammenführt; zum anderen der dramaturgische Einsatz von Musik. Beispielsweise wird die erwähnte Eröffnungsrede, in der Szymczyk zwar nicht direkt die vor ihm sitzenden Regierungsführer*innen anspricht, diese aber durchaus meint, wenn er unter anderem die Zerstörung des Sozialstaats durch die Austeritätspolitik der EU anprangert, mit einem beruhigenden Klavierstück von Chilly Gonzales unterlegt, das in starkem Kontrast zum radikalen politischen Inhalt der Rede steht.
Im Gegensatz zu seiner unkonventionellen Länge [5] folgt exergue im Großen und Ganzen recht klassischen Regeln des Dokumentarfilms. Während der Film die Produktions- und Arbeitsbedingungen der documenta 14 reflektiert, thematisiert er seine eigenen nicht. Weder erfahren wir etwas über die Finanzierung noch über den privilegierten Zugang des Regisseurs zu den Aktivitäten der Documenta (und die damit einhergehenden, beidseitigen Erwartungen). Damit ist der zweite Aspekt verbunden: Die zugrundeliegende narrative Struktur ist die der epischen Heldengeschichte mit Szymczyk als Hauptfigur, die übermenschliche Taten vollbringt. Damit werden Klischees des (männlichen) Kurators als zentrale Instanz einer Ausstellung reproduziert, die dem eigenen, kritischen Anspruch (und durchaus auch dessen Einlösung) der documenta 14 zuwiderlaufen. Es bleibt zu fragen, wie eine alternative filmische Struktur, eine alternative Narration hätte aussehen können, die andere Akteur*innen der Ausstellung gleichberechtigt neben Szymczyk vorkommen ließe. Obwohl der Film verdeutlicht, dass die documenta 14 nur durch kollaboratives Handeln von vielen möglich wurde und zahlreiche wenig glamouröse Aspekte des Ausstellungsmachens zeigt, bleibt er etablierten Modi des Erzählens verhaftet. Vielleicht weil sich Infrastruktur-Arbeit – in Ausstellungen wie in Filmen – nicht leicht narrativ abbilden und publikumswirksam vermitteln lässt.
Dimitris Athiridis, exergue – on documenta 14, Griechenland 2024, 848 Min.
Felix Vogel ist Professor für Kunst und Wissen an der Universität Kassel und Mitglied des documenta Instituts.
© Faliro House Productions
Anmerkungen
[1] | In Telefonaten mit nicht namentlich genannten Gesprächspartner*innen trifft er Aussagen wie: „I’m a complete failure. So many faults …“, „I became, you know, like a reusable token of something and nothing else.“ Oder: „No, the fact that I am completely destroyed is basically common work of many people. And myself, too.“ |
[2] | „During the period from 2013 to 2017, we have been busy with, both locally and globally, the implementation of debt as political measure, the economic violence enacted, as it seems, almost experimentally upon the population of Greece, by subsequent phases of austerity measures, imposed by international financial institutions in unison with European Union Leaders, the gradual destruction of what remained of the welfare state, wars waged for resources and the market, and the resulting multiple and never-ending humanitarian catastrophes.“ |
[3] | Dort behandelt ein entsprechend überschriebener Text die Frage, wem die Ausstellung gehört: „documenta 14 is not owned by anyone in particular. It is shared among its visitors and artists, readers and writers, as well as all those whose work made it happen.“ Diese Frage – und damit auch die, wer durch finanzielle Zuwendungen einen Anspruch auf den Besitz erheben kann – ist auch eine, die im Film immer wieder verhandelt wird. Vgl. „Exergue“, in: documenta 14: Daybook, hg. von Quinn Latimer/Adam Szymczyk, München 2017, o. S. |
[4] | Mit sieben Kurator*innen und sechs kuratorischen Berater*innen ist allein das kuratorische Team das bis dato größte einer Documenta. |
[5] | Wobei die Aufteilung in 14 Kapitel (mit einer Dauer zwischen 43 und 85 Minuten), die wie Episoden jeweils eine narrative Einheit bilden, exergue eher zu einer Serie, denn zu einem (sehr langen) Film macht. |