FRAGILE VERSTÄNDIGUNG: DIALOGE NACH EINER ABSAGE Martina Genetti in Gesprächen mit Rabbya Naseer und Stella Rollig über künstlerische und institutionelle Grenzziehungen

Im Mai 2024 erhielt die Künstlerin Rabbya Naseer den Belvedere Art Award, der unter anderem mit einer Einzelausstellung im Belvedere 21 in Wien einhergeht. Diese hätte von Februar bis Mai 2025 stattfinden sollen. Im Zuge der Vorbereitungen schlug Naseer verschiedene Konzepte für neue Arbeiten vor, die sich mit dem Israel-Palästina-Konflikt, der Geschichte und der Kultur der Region sowie mit Kolonial- und Machtkritik auseinandersetzen. Nach mehreren Gesprächen zwischen der Künstlerin und der Kuratorin der Ausstellung, Christiane Erharter; der Chefkuratorin des Belvedere 21, Luisa Ziaja; sowie der Direktorin des Belvedere, Stella Rollig, erklärte das Museum die vorgeschlagenen Arbeiten für nicht umsetzbar. Im Dezember 2024 sagte Rabbya Naseer die Ausstellung in einem Videobrief ab, im Februar des folgenden Jahres begann die Presse darüber zu berichten. Den Vorschlag des Museums, das Video anstelle der Ausstellung zu zeigen, lehnte die Künstlerin ab. Die ursprüngliche Intention dieses Beitrags war es, zentrale Fragen ausstellungspolitischer Praxis, die sich aus dieser Situation ergeben, in zwei Gesprächen mit den Beteiligten sowohl aus künstlerischer als auch aus kuratorischer Perspektive zu reflektieren. Das Vorhaben hat sich aus verschiedenen Gründen verändert. Diesen Prozess offenzulegen, ist ein Versuch, eben jenes fragile Sprechen zu adressieren, das die gegenwärtige Situation auszeichnet.
Zunächst erwies es sich als unumgänglich, dass in den beiden Gesprächen vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung eine Rekonstruktion, Kontextualisierung und Reflexion des tatsächlichen Geschehens erfolgen musste. Vor allem aber stellte sich heraus, dass bis dahin veröffentlichte Texte über die Ausstellungsabsage ein Bild der Ereignisse geformt hatten, das nicht mit den konkreten Erfahrungen und Perspektiven der Involvierten übereinstimmte. Die dadurch entstandenen falschen Vorannahmen meinerseits führten in beiden Gesprächen zu Momenten der Irritation und zu Missverständnissen, die ein Innehalten erforderlich machten – nicht zuletzt, um zu klären, worüber überhaupt konkret gesprochen und welche Bedeutungs- oder Deutungshorizonte jeweils vorausgesetzt werden sollten. In beiden Gesprächen wurde deutlich, wie viel zunächst ausgesprochen werden muss, bevor ein eigentliches Gespräch beginnen kann.
Beide Dialoge unterschieden sich grundlegend voneinander: sowohl in den repräsentativen Rollen der Gesprächspartnerinnen als auch in dem daraus resultierenden persönlichen beziehungsweise institutionellen Charakter des jeweiligen Sprechens. Gerade das persönlichere der beiden Gespräche führte zu schwierigen Kompromissen in seiner Übertragung vom Transkript zur Druckfassung. Diese Verschiebung eines offenen, relationalen und situierten Gesprächs hin zu unmissverständlichen Positionierungen und nach Eindeutigkeit strebendem Ton erscheint mir als ein zentraler Aspekt der Fragilität des Dialogs in der gegenwärtigen Situation. Eine Fragilität, die im Folgenden doppelt sichtbar wird, weil sich die im Gespräch verhandelten Fragen nun auch an den Text selbst richten.

IM GESPRÄCH MIT RABBYA NASEER

Rabbya Naseer, “Dinner-Party (My First Museum-Solo, Pun -Intended) Take 6 With Edits,” 2024
MARTINA GENETTI: Angesichts des aktuellen Wiederauflebens des Briefformats – insbesondere in Form von offenen Briefen und Solidaritätsbekundungen – würde mich interessieren, was dich dazu bewogen hat, dieses Format für dein Video zu verwenden, und wie du die Möglichkeit siehst, den Brief auch als Statement zu verstehen oder als ein Kommunikationsmittel, wenn Dialog nicht mehr möglich oder erwünscht ist.
RABBYA NASEER: Ich verwende Text in meiner Arbeit in verschiedenen Formen. Auch das Briefformat ergibt sich aus meiner Praxis, insbesondere aus der Arbeit Undelivered Mail (2017 und 2019), in der sehr intime Briefe an ein anonymes „Dear You“ gerichtet werden. Es handelte sich um Briefe zum Mitnehmen: Besucher*innen der Ausstellung konnten sie für sich beanspruchen und kostenlos einstecken. Ich habe dieses Briefformat auch in einer der vier Arbeiten verwendet, die ich für die Ausstellung im Belvedere vorgeschlagen habe. Aber anders als Undelivered Mail oder mein Absagevideo – sprich, dinner party (my first museum solo) (2024) – war der Brief für die Belvedere-Ausstellung weder ein gedruckter Text noch ein Video; er sollte eine andere Form in Bezug auf den Raum annehmen, in dem er gezeigt werden würde. Es war ein Versuch, mit anonymen „Dear You(s)“ über die Fähigkeiten/Unfähigkeiten von Sprache zu sprechen, die Kluft zwischen „Ich“ und „Du“, zwischen dem „Selbst“ und dem „Anderen“ zu überbrücken. Das Absagevideo wurde als ein Kunstwerk konzipiert, es konnte also keine konventionelle Petition sein. Und ja, dieser Videobrief war an das Belvedere gerichtet, aber ich habe ihn veröffentlicht, weil er auch andere Kunstinstitutionen, Kurator*innen und Künstler*innen-Kolleg*innen anregen soll, darüber zu reflektieren, welche Rollen „wir“ in Zeiten wie diesen einnehmen, was „wir“ – kollektiv oder unabhängig voneinander – tun können. Ich habe viel über dieses „Wir“ nachgedacht.
GENETTI: Wir werden die konkreten Arbeiten, die du für das Belvedere vorgeschlagen hast, nicht besprechen, vor allem, weil sie noch nicht umgesetzt wurden, aber vielleicht noch werden. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Könntest du kurz schildern, welche Ideen oder Fragen dich in der Vorbereitung auf die Ausstellung beschäftigt haben?
NASEER: Wie ich in meinem künstlerischen Statement schreibe und wie die Jury des Belvedere Art Award sehr treffend festgestellt hat, ist meine Arbeit eine Reaktion auf mein direktes Umfeld, auf meine Erfahrungen und Begegnungen sowie auf die Strukturen, in denen diese stattfinden. Die vier Arbeiten, die ich für die Ausstellung vorgeschlagen hatte, ebenso wie die späteren Überarbeitungen, die ich dem Belvedere vorgelegt habe, waren eine Reaktion auf mein unmittelbares Umfeld. Damit meine ich die Erfahrung, einem Genozid in Live-Übertragung auf unseren Handflächen, also unseren Smartphones, zuzusehen, und die Absurdität, die sich daraus ergibt, meinen Alltag trotzdem bewältigen zu müssen. In diesen Arbeiten habe ich mich mit den Strukturen, in denen diese Erfahrungen eingebettet sind, beschäftigt.Insgesamt waren und sind die für die Ausstellung vorgeschlagenen Arbeiten ein Nachdenken über die Funktionen und Grenzen, oder vielleicht das Versagen, von Sprache. Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren oder anfangen, das Gegenteil von dem auszudrücken, was sie eigentlich bedeuten sollen. Ich habe die Konzepte des „Selbst“ und des „Anderen“ aufgefaltet und sie in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet, um die Möglichkeit eines temporären „Wir“ zu untersuchen. Dieses Interesse zieht sich durch meine gesamte künstlerische Praxis und steht im Mittelpunkt meiner aktuellen Forschung. In einem der Performance-Videos habe ich Texte mehrerer Autor*innen einbezogen (darunter John Berger, Arundhati Roy, James Baldwin, Omar El Akkad, Mahmoud Darwish und Naomi Klein, neben vielen weiteren) und dabei die klare Unterscheidung zwischen dem*der Autor*in und „meinem Selbst“ verwischt und zugleich bewahrt. Ich wollte andeuten, dass dieses „Ich“ kein eindeutiges „Ich“ ist und diese Arbeit vielleicht „unser“ Versuch (der der Autor*innen und meiner), über unsere Rollen als Zeug*innen, Geschichtenerzähler*innen, Künstler*innen und vor allem als Mitmenschen nachzudenken. Dieses „Wir“ schloss auch Freund*innen ein, die im Prozess der Konzeption, Verfeinerung und Überarbeitung dieses Ausstellungsvorhabens Gesprächspartner*innen waren, insbesondere Ujjwal Kanishka. Er ist Filmemacher und hätte, neben seiner Rolle als Gesprächspartner, zwei der Performance-Videos in dieser Ausstellung gefilmt. Dieses „Wir“ umfasste auch Tänzer*innen, die Teil einer der Arbeiten gewesen wären. Die Idee war, diese Einzelausstellung in ein kollektives Projekt zu verwandeln, indem ich eine lange Liste von Namen all jener einbezogen hätte, mit denen ich gemeinsam an der Vorbereitung der Ausstellung gearbeitet habe. Ich hoffte, dass die in allen Arbeiten wiederkehrenden Verweise auf die sich verschiebenden Grenzen zwischen dem „Selbst“ und dem „Anderen“, zwischen dem „Ich“ und dem „Wir“ auch die Besucher*innen der Ausstellung dazu anregen würden, über ihre eigene Rolle nachzudenken. Dieses Interesse am „Wir“ ist vielschichtig. Ich könnte noch mehr über meine Beweggründe sagen, doch im Kern habe ich dieselbe Sprache und Methodik verwendet, die meiner gesamten Praxis zugrunde liegt.
GENETTI: In Konflikten rund um Ausstellungspolitik manifestiert sich Uneinigkeit oft sowohl durch Narrative als auch durch die Verwendung bestimmter Formulierungen. Da du in deiner künstlerischen Praxis mit Sprache arbeitest, interessiert mich, wie du die Verantwortung verstehst, die mit einer solchen Praxis einhergeht, insbesondere im Hinblick auf das Potenzial von Sprache, Sensibilität zu fördern oder umgekehrt Polarisierung zu provozieren?
NASEER: Wörter sind, genau wie Bilder, Symbole. Mich interessiert das semantische im Verhältnis zum syntaktischen Zusammenspiel von Wörtern im Bereich der Sinnproduktion. Selbst wenn ich über etwas „Konkretes“ sprechen möchte, ist es mein Wunsch, dies auf eine Weise zu tun, in der das Konkrete unkonkret wird, sodass es in dir widerhallt und du damit durch etwas, das du vielleicht selbst erlebt, gefühlt oder gedacht hast, in Verbindung treten kannst. Das ist vielleicht das genaue Gegenteil davon, Polarisierung hervorzurufen. Was Meinungsverschiedenheiten, speziell mit dem Belvedere, betrifft: Trotz des Anscheins der „Meinungsfreiheit“ wusste ich, dass ich auf ihre Freigabe meiner Ideen warten musste, und offenbar lag ich damit nicht falsch, denn sie haben sie nicht freigegeben, sondern alle abgelehnt. Es war unklar, was erlaubt ist und was nicht, also habe ich monatelang versucht, Wege zu finden, zumindest etwas zu sagen, anstatt zu schweigen. Aber irgendwann kommt ein Punkt, an dem man klar zwischen kreativem Umgang mit Zensur und Kompliz*innenschaft unterscheiden kann, an dem Klugheit beginnt, Gehorsam zu ähneln.
GENETTI: Was du über das „Konkrete“ sagst, zeigt sich in deinem Video auch vor allem darin, wie es Raum sowohl für Klarheit als auch für Ambiguität und Komplexität zulässt. In Bezug auf Sprache steht es in starkem Kontrast zum Diskurs, der auf die Absage der Ausstellung folgte. Ein Diskurs, der – zumindest wie ich ihn wahrgenommen habe – oft ins Polemische überging und wenig Raum für ein relationales oder situatives „Ich“, „Du“ oder „Wir“ zuließ. Bei dem Versuch zu verstehen, was passiert war, kam ich immer wieder auf die Frage zurück: Wo trägt Sprache zur Klärung bei und wo verschließt sie möglicherweise Komplexitäten? Welche Rolle spielt Sprache dabei, wie dieses spezifische Ereignis Teil eines breiteren Diskurses über Ausstellungspolitik wird?
NASEER: Ich habe das Gefühl, dass das eigentliche Problem innerhalb dieser gesamten Debatte über Polarisierung – ganz egal, wie sehr die Leute „nichtbinär“ sein wollen – darin besteht, dass Kategorien geschaffen und anderen aufgezwungen werden. Diese Strategie, Menschen in Schubladen zu stecken und die Welt auf diese Weise zu ordnen, ist nichts Neues. Wer ein Interesse an weiterer Polarisierung hat, um seine Agenda voranzutreiben, wird das weiterhin befördern. Vielleicht ist Polarisierung kein Nebeneffekt, sondern eine Strategie. Sie hilft dabei, jeglichen Dialog zu unterbinden. Nehmen wir beispielsweise die Kategorie „propalästinensisch“ oder die Tatsache, dass mein Vorschlag für das Belvedere als „zu propalästinensisch“ galt. Wie kann Kritik an Kolonialismus „zu propalästinensisch“ sein? Wie kann Sorge für menschliches Leben „zu propalästinensisch“ sein? Was bedeutet es überhaupt, „für“ oder „gegen“ etwas zu sein? Bedeutet es, dass man für oder gegen alles ist, was diese Entität tut?
GENETTI: In einer auf Anfrage bereitgestellten Stellungnahme erklärte das Belvedere, es wolle „nicht für einseitige Parteinahme in einem Konflikt zur Verfügung [stehen], der vielschichtig und multidimensional ist und dessen Diskurse von rassistischen und antisemitischen Untertönen durchsetzt sind“. Ich habe das nicht als Kritik an deiner Arbeit verstanden, sondern eher als Kritik an den potenziellen Diskursen, die sich um sie entfalten könnten. Angesichts des n Österreich sehr gegenwärtigen Problems mit Antisemitismus verstehe ich die Sorge, dass bestimmte Narrative instrumentalisiert werden, um Antisemitismus zu schüren. Sollten wir über eben diese Diskurse sprechen?
NASEER: Vielleicht ist es genau das, was ich sagen will: Dass es keine „zwei Seiten“ gibt. Und das habe ich auch in meinem Absagebrief zu vermitteln versucht. Es gibt keine „zwei Seiten“, wenn man sich für menschliches Leben einsetzt und den Todesapparat kritisiert. Antisemitismus wird als Werkzeug benutzt, um jegliche Kritik am Kolonialismus zum Schweigen zu bringen, während tatsächlicher Antisemitismus unbeachtet bleibt. Und das ist ein ernsthaftes Problem. Wie bereits erwähnt, ist es mein Ziel, über Dinge auf eine Weise zu sprechen, die mit meinem Publikum resoniert. Mein Wunsch ist es, die Menschen zu berühren, anstatt sie einfach nur anzusprechen; auch wenn mir das nicht immer gelingt, ist das die Absicht – also das Gegenteil davon, mein Publikum verärgern oder provozieren zu wollen. Natürlich habe ich den österreichischen Kontext bedacht und mein Ausstellungsvorhaben ständig überarbeitet, jedes Mal wenn das Belvedere-Team es ablehnte, selbst wenn deren Begründungen nicht sehr überzeugend waren.
GENETTI: Angesichts dieser Situation: Wie siehst du die Möglichkeit, trotz Meinungsverschiedenheiten oder sogar Missverständnissen auszustellen? Ist ein Ausstellungsformat für dich vorstellbar, das nicht auf Konsens abzielt, sondern stattdessen Raum für Dissens öffnet?
NASEER: Genau das habe ich mich bei jedem meiner Änderungsvorschläge, bei jeder weiteren Entfernung einer Bedeutungsebene gefragt. Aber ich sagte mir, dass ich mich nicht wohl dabei fühle, die Arbeit so steril zu machen, dass sie für das Museum akzeptabel wird und ich dadurch zur Komplizin von Zensur werde. Ich habe immer wieder versucht, einen Punkt zu finden, mit dem sowohl das Museum als auch ich hätten einverstanden sein können. Doch nachdem all meine Vorschläge abgelehnt worden waren, hieß es plötzlich, es sollten keine neuen Arbeiten gezeigt werden, sondern nur bereits bestehende – solche, die sich mit Heilung, Fürsorge und Gemeinschaft beschäftigen. Aber die Ironie ist: Wenn jemand sich tatsächlich „sorgt“ und Arbeiten über „Fürsorge“ macht, ist genau das nicht möglich. Als schließlich klar gesagt wurde, dass nichts gezeigt werden könne, was sich auf Palästina oder den Nahen Osten bezieht, musste ich eine Grenze ziehen. Meine Aufgabe ist es, künstlerisch zu arbeiten; selbst wenn meine Werke nicht in einer Galerie oder einem Museum gezeigt werden können, kann ich sie trotzdem machen und ausstellen. Tatsächlich wurde das Absage-Video dinner party (my first museum solo) ausgestellt – denn es wurde öffentlich gemacht – und hat wahrscheinlich ein größeres internationales Publikum erreicht, als es meine Ausstellung im Belvedere in Wien vermocht hätte.

IM GESPRÄCH MIT STELLA ROLLIG

Julia Ess, “20er Haus,” 2007
MARTINA GENETTI: Die Ausstellungsabsage reiht sich ein in eine Serie von Ereignissen, die zwar sehr unterschiedlich, teils auch gegensätzlich, gedeutet und benannt werden, die aber letztlich alle dazu führen, dass weder Kunst noch damit einhergehende Kritik, Konfrontation oder Dialoge stattfinden. Ich nehme das als einen Zustand zunehmender Sprachlosigkeit wahr und frage mich, wie Sie in dieser Situation die Rolle und Verantwortung Ihrer Institution verorten?
STELLA ROLLIG: Ich würde Ihnen nicht zustimmen, dass hier eine Situation der Sprachlosigkeit eingetreten ist, im Gegenteil. Über keine andere Ausstellung habe ich mit meinen Kolleginnen so viel gesprochen wie über diese. Auch in anderen Fällen, in denen Leiter*innen von Institutionen in Deutschland mit Absagen oder dem Nichtzustandekommen von Ausstellungen konfrontiert oder daran beteiligt waren, gab es intensive Diskussionen. Eben weil wir hier in einer Situation sind, die extrem konfliktreich ist und mit der wir wenig Erfahrung haben. Es gibt dann zwar immer eine Ausstellung, eine künstlerische Äußerung oder eine Rede, die nicht öffentlich stattfindet – aber gleichzeitig wird ein sehr intensiver Diskurs über unsere Rolle, Funktion und Entscheidungen intern ausgetragen.
GENETTI: Diesem nichtöffentlichen institutionellen Diskurs steht die Videoarbeit der Künstlerin gegenüber, die mit sehr eindeutigem Sprechen Nachvollziehbarkeit zu schaffen versucht. Welche Möglichkeiten hat die Institution, diese internen Überlegungen nach außen zu tragen, also mehr zu tun, als zu schweigen oder sich in einem Statement zu positionieren?
ROLLIG: Die Tatsache, dass wir hier zusammensitzen, ist ein Zeichen dafür, dass wir uns dieser Diskussion nicht verschließen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit auch in dem Sinne, dass wir Konflikte nicht größer machen, als sie sind. Wir haben eine öffentliche Diskussion oder eine Veranstaltung erwogen, aber auch gesehen, dass seit Oktober 2023 die Voraussetzungen für solche öffentlichen Gespräche so widrig sind, dass es zurzeit kein besonnenes, respektvolles Aushandeln unterschiedlicher Standpunkte gibt. Das ist ein zentraler Punkt: Wenn wir diesen Konflikt nicht mit der Künstlerin lösen können und die Künstlerin nicht mit uns, dann weiß ich nicht, ob es produktiv ist, ihn in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen.
GENETTI: Ich stimme Ihnen insofern zu, dass gerade mediale Öffentlichkeiten den Diskurs oft zuspitzen und einen Dialog verunmöglichen. Gleichzeitig wird in anderen öffentlichen, beispielsweise akademischen und kulturwissenschaftlichen, Räumen vermehrt Streitbarkeit und das Aushalten von Ambivalenzen eingefordert und erprobt. Wie sehen Sie die Möglichkeit solcher Streitbarkeit im musealen Raum?
ROLLIG: Unsere Verantwortung besteht darin, die Inhalte unserer Ausstellungen einem möglichst diversen Publikum zu vermitteln und zugänglich zu machen sowie einen sicheren Ort der Auseinandersetzung für alle zu schaffen. An anderen Orten, wie zum Beispiel im akademischen Bereich oder in kleineren Spaces oder Kunstvereinen, kann man direkter in Dialog, Diskussion und Vermittlung treten. Diese Möglichkeit haben wir im alltäglichen Betrieb nicht. Allein die Tatsache, dass unsere Institution 350 Mitarbeiter*innen hat, bedeutet meines Erachtens, dass die Programmverantwortung auch beinhaltet, sie vor Konflikten zu schützen, die sie sich nicht ausgesucht haben, denen sie vielleicht nicht gewachsen sind oder in die sie sich nicht hineinbegeben wollen. Im Programm des Belvedere 21 gibt es grundsätzlich viele politische Inhalte. Aber dieses spezielle Thema – Israel, Palästina und der aktuelle Krieg – ist eine offene Wunde, eine Tragödie, die mit den Möglichkeiten und Mitteln eines Kunstmuseums nicht auflösbar ist. Gerade in Österreich mit seiner historischen Mitschuld am Holocaust und in einer Bundeseinrichtung, die sehr viele Menschen aus dem In- und Ausland anspricht, kann das Thema nicht einseitig verhandelt werden. Einseitigkeit haben wir abgelehnt, und deshalb hat die Künstlerin die Ausstellung abgesagt.
GENETTI: In Bezug auf die Kritik an Einseitigkeit frage ich mich, inwiefern sich ein gegenteiliger Anspruch überhaupt an eine subjektive, künstlerische Praxis richten lässt. Und mehr noch: Müsste nicht auch die Forderung nach Mehrperspektivität kritisch hinterfragt werden, weil sie einer künstlerischen Arbeit möglicherweise politische Parteinahme erst zuschreibt?
ROLLIG: Diese geplante Ausstellung war als Geste der Solidarität mit Palästinenser*innen zu lesen. Wir sind erschüttert über das, was in Gaza passiert. Es ist schrecklich, die maßlose Zahl an zivilen Opfern und die Zerstörung der Lebensgrundlagen in Gaza zu sehen, aber die Hamas hat am 7. Oktober 2023 Israel überfallen, jüdische Menschen gefoltert, vergewaltigt, getötet und ihre Häuser niedergebrannt. Wir wissen, dass immer noch israelische Geiseln festgehalten werden. Wie kann das Belvedere ein propalästinensisches Statement veröffentlichen, und sei es auch ein künstlerisches, ohne das Leid jüdischer Menschen anzusprechen? Das können wir nicht. In dieser Haltung waren wir uns zum Glück intern sehr einig. Vielleicht dürfen wir auch fragen: Warum wird von Kunstinstitutionen verlangt, dass sie das austragen, was im „wirklichen Leben“ in keiner Weise lösbar ist? Dieser Anspruch an die Kunstinstitution ist zu hoch.
GENETTI: Welche Rolle spielt darin, dass die Diskurse um den Konflikt „mit rassistischen und antisemitischen Untertönen durchsetzt sind“, wie sie in Ihrem Statement schreiben – also die Möglichkeit, dass innerhalb einer künstlerischen Arbeit die Nähe zu bestimmten Begriffen, Haltungen oder Solidaritätsgesten als potenziell antisemitisch gelesen werden könnten?
ROLLIG: Wir haben Rabbya Naseer nie vorgeworfen oder ihr unterstellt, dass sie oder ihre Arbeit antisemitisch sei. Unser Standpunkt ist, dass wir in Österreich eine besondere Verantwortung gegenüber Jüd*innen haben und dass Menschen, die das Museum besuchen oder auch nur über diese Ausstellung lesen, sich verletzt fühlen, wenn wir hier über das Leid der Palästinenser*innen sprechen, aber nicht über das Leid der Jüd*innen durch die Angriffe der Hamas.
GENETTI: Ich sehe da schon eine Möglichkeit der Unterscheidung. Aber vielleicht muss ich konkret nachhaken, um potenzielle Missverständnisse zu verhindern: Bedeutet das Ihrer Ansicht nach, dass unabhängig von Ästhetik, Poetik, Strategie oder Sprache einer künstlerischen Arbeit das Sprechen über palästinensische Themen derzeit nicht möglich ist?
ROLLIG: Es ist in der geschilderten gegebenen Situation in ihrem spezifischen zeitlichen, örtlichen und institutionellen Kontext nicht möglich gewesen.
GENETTI: Das überrascht mich dann doch. Es zeigt mir auch, wie viel Dialog notwendig ist, um diese Situation wirklich aufzufächern und zu verstehen. Ich verstehe das institutionelle Dilemma. Aber in Anbetracht der Situation in der Kunst- und Kulturwelt und der intellektuellen Sackgasse, in der wir uns befinden, betrachte ich es auch als verpasste Chance, sich nicht angreifbar zu machen, sich streitbar zu zeigen und dadurch auch die Möglichkeiten eines öffentlichen Lernens zuzulassen. Was nehmen Sie aus dieser Situation mit?
ROLLIG: Ich bleibe dabei, dass dieses Projekt in diesem zeitlichen und örtlichen Rahmen – in diesem Haus in Wien, in Österreich im Jahr der Ausstellungskonzeption, 2024 – nicht möglich war. Beide Seiten haben die Chance verpasst oder nicht genutzt, einander in einem Mediationsprozess zuzuhören und gegenseitig ihre Gründe zu verstehen. Unmittelbar nach der Absage sind wir, glaube ich, mit großem Unverständnis füreinander auseinandergegangen. Auf meiner Seite beginnt sich das jetzt aufzulösen, und ich nehme aus dieser Situation das Learning mit, Konflikte direkter anzusprechen und dann strukturiert und vielleicht mit einer Moderation zu verhandeln. Das heißt nicht, dass wir die Ausstellung in dieser Form dennoch umgesetzt hätten, dafür waren die Gegenargumente zu gewichtig. Aber vielleicht hätten wir im Einvernehmen eine andere Lösung gefunden, zum Beispiel, die Ausstellung zu einem späteren Zeitpunkt zu realisieren oder gemeinsam den Konflikt transparent zu machen. Ich glaube, dass eine bessere oder tiefere Auseinandersetzung gut gewesen wäre, aber diese Bereitschaft war auf keiner der beiden Seiten vorhanden. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass die Zusammenarbeit mit Rabbya Naseer insofern eine größere Herausforderung als andere Ausstellungen darstellte, als sie durch einen Jurybeschluss im Rahmen des Belvedere Art Award stattfinden sollte und wir einander vorher nicht kannten. Diese Vorgehensweise ist ungewöhnlich; üblicherweise werden Künstler*innen eingeladen, weil man ihre Arbeit gut kennt und sich als Kuratorin bereits mit der betreffenden Praxis vertraut gemacht hat, bevor man eine Zusammenarbeit lanciert. Diese Ausgangslage hat die Gespräche zusätzlich erschwert, und vielleicht haben auch Vorannahmen und Projektionen auf beiden Seiten eine Rolle gespielt.
Übersetzung Gespräch mit Rabbya Naseer: Mengna Tan
Beratung: Simon Nagy
Martina Genetti ist in der Sammlung zeitgenössischer Kunst des Wien Museums sowie freiberuflich im Film- und Kunstbereich tätig, wo sie sich kunsthistorisch und kuratorisch mit Geschichtspolitik, Gedenkkultur und künstlerischen Interventionen gegen faschistische Kontinuitäten im öffentlichen Raum beschäftigt.
Rabbya Naseer lebt und arbeitet in Wien und Lahore. Seit 2010 unterrichtet sie am National College of Arts und der Beaconhouse National University in Lahore und war außerdem an der Addis Ababa University in Äthiopien (2015 und 2017) sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien (2023) tätig, wo sie derzeit im PhD-in-Practice-Programm eingeschrieben ist. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt; ihre Texte sind in verschiedenen lokalen und internationalen Publikationen erschienen. Aktuell arbeitet Naseer an der Zusammenstellung eines Archivs für Performancekunst aus Pakistan. Neben ihrer individuellen Praxis kollaboriert sie seit 2007 mit Hurmat ul Ain.
Stella Rollig ist seit Januar 2017 Generaldirektorin und wissenschaftliche Geschäftsführerin des Belvedere. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien und war als Kunstpublizistin tätig (unter anderem ORF, Der Standard). Von 1994 bis 1996 war Stella Rollig österreichische Bundeskuratorin für bildende Kunst, in dieser Zeit gründete sie auch Depot – Kunst und Diskussion im MuseumsQuartier Wien. Von 2004 bis 2016 leitete die Ausstellungsmacherin das LENTOS Kunstmuseum Linz, ab 2011 zusätzlich das NORDICO Stadtmuseum Linz. Neben ihrer kuratorischen Tätigkeit lehrte Stella Rollig an zahlreichen Instituten.
Image credits: 1. © Rabbya Naseer; 2. Julia Ess, public domain