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DIE KUNSTGESCHICHTE AUS SINTI*ZZE-UND-ROM*NJA-PERSPEKTIVE HERAUSFORDERN Timea Junghaus im Gespräch mit Burcu Dogramaci

Charly Bechaimont, “Politique de l’accident: deux hommes faisant l’amour,” 2024

Charly Bechaimont, “Politique de l’accident: deux hommes faisant l’amour,” 2024

In den vergangenen Jahrzehnten wurden ­institutionelle Ausstellungskonzepte und Einladungspraktiken ­zunehmend durch identitätspolitische Kriterien geprägt. Während die hiermit verbundenen Forderungen nach Repräsentation und kultureller Teilhabe ihre Dringlichkeit behaupten – zumal sich der rechte Einfluss auf die Kulturpolitik verschärft –, bleibt die Frage bestehen, welche Auswirkungen die Diversität von Künstler*innen auf epistemisch weiße Institutionen hat. Nach dem internationalen Erfolg von Małgorzata Mirga-Tas, Selma Selman und Mara Oláh werden neuerdings auch andere Künstler*innen, deren Werk in der kulturellen Geschichte der Sinti*zze und Rom*nja verankert ist, häufiger ausgestellt. Im Gespräch mit der Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci erörtert Timea Junghaus, Direktorin des European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC), das interventionistische Potenzial von Sinti*zze und Rom*nja in der Gegenwartskunst sowie in kunsthistorischen Diskursen.

BURCU DOGRAMACI: Liebe Timea, ich freue mich außerordentlich über unser Treffen. Als Kunst­historikerin, Aktivistin und politische Interessenvertreterin widmest du dich seit vielen Jahren der Kunst von Sinti*zze und Rom*nja und hast maßgeblich zu ihrer wachsenden Präsenz in zeitgenössischen Ausstellungen beigetragen. ­Vielleicht beginnen wir mit einem Blick zurück auf deinen akademischen Werdegang?

TIMEA JUNGHAUS: Ich habe Kunstgeschichte und Kulturanthropologie an der Eötvös-Loránd-­Universität in Budapest, Ungarn, studiert. Danach habe ich mein Studium mit einer, zurzeit noch in Arbeit befindlichen, Doktorarbeit in Medientheorie fortgesetzt. Als Intellektuelle der ersten Generation habe ich 14 Jahre gebraucht, um mein Kunstgeschichtsstudium abzuschließen, vor allem, weil ich mich innerhalb der akademischen Sprache, wissenschaftlicher Texte und institutioneller Zusammenhänge orientieren musste. Ich fand es auffallend, dass mir ­während meines gesamten Studiums keine einzige ­authentische Darstellung von oder durch eine*n Sinti*zze und Rom*nja begegnet ist – weder in Bibliotheken noch in Archiven oder in den Seminaren, die ich besucht habe. Die Präsenz von Sinti*zze und Rom*nja in der visuellen Kunst bleibt im Narrativ der Kunstgeschichte auch heute noch weitestgehend unerforscht. Dabei tauchen Darstellungen bereits im 12. Jahrhundert auf, mit einer markanten Häufung in der flämischen und niederländischen Renaissance gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Diese Bilder existieren und sind – ohne jeden Zweifel – in die Struktur des kulturellen Erbes Europas eingewoben. Paradoxer­weise aber ist der sie umgebende Diskurs im Wesentlichen unentwickelt geblieben. Wenn Sinti*zze und Rom*nja repräsentiert werden, dann beruhen diese Darstellungen oft auf tief verwurzelten ­Stereotypen – rassifizierten, exotisierten und sexualisierten Projektionen –, die nur selten kritisch untersucht werden. Wenn ein historischer Text die Kultur der Sinti*zze und Rom*nja thematisierte, geschah dies in deren Abwesenheit und so wurden unsere ­künstlerischen und intellektuellen Beiträge regelmäßig übersehen oder herabgesetzt. Allein durch einen Paradigmenwechsel – durch ein Insistieren auf Handlungsmacht und Präsenz – beginnen wir, neu zu definieren, wie wir wahrgenommen und verstanden werden.

DOGRAMACI: Du beschreibst die Abwesenheit von Sinti*zze-und-Rom*nja-Künstler*innen im kunsthistorischen Diskurs und die Ausgrenzung ihrer Stimmen aus der Geschichtsschreibung ihrer Kunst. Lässt sich der Begriff Sinti*zze und Rom*nja genauer fassen? In Deutschland ist dieser Ausdruck seit einigen Jahren geläufig. Aber trifft dies tatsächlich den Kern der Sache?

JUNGHAUS: In Deutschland ist Sinti*zze und Rom*nja die politisch korrekte Bezeichnung. Im internationalen Kontext ist Roma der politisch korrekte Ausdruck, um die größte Minderheit in Europa – ungefähr 14 Millionen Menschen – zu benennen. Die lokale Bezeichnung aber variiert je nach Land: Im Vereinigten Königreich würden wir Gypsy, Roma, Travellers sagen; in Frankreich roms, manouches oder gens du voyage; in Spanien sagen wir gitano oder ­gitana. Dieser integrative Terminus – Roma – umfasst tatsächlich über 23 Untergruppen, mit je eigenen kulturellen, sprachlichen und künstlerischen Traditionen. Die Kalderasch-Roma zum Beispiel sind bekannt für ihr kunstvolles Metallhandwerk, während Lowara-Roma eine reiche ­mündliche ­Erzähltradition haben, die sich auch in die zeitgenössische Performancekunst einschreibt. Unterdessen praktizieren spanische Gitano- und Gitana-Künstler*innen häufig Flamenco und andere performative Ausdrucksformen. Wenn wir also von Roma sprechen, besteht immer das Risiko, ­unsere eigentlich fließende, facettenreiche und durch ­Migration, Verfolgung und Anpassung zutiefst geprägte Identität zu homogenisieren. Die Herausforderung besteht darin, Sinti*zze-­und-Rom*nja-Kunst als eine verbindende, breitgefächerte und sich stetig weiterentwickelnde ­Kategorie anzuerkennen und zugleich ihrer Komplexität und Pluralität Raum zu geben. Tatsächlich ist es eine wunderbare Bezeichnung, ein befreiender und inspirierender Begriff, mit dem ich arbeite.

Selma Selman, “You Have No Idea,” 2016

Selma Selman, “You Have No Idea,” 2016

DOGRAMACI: Deine Beschreibung von Roma als etwas, das unsere Sichtweise verschiebt, ist sehr aufschlussreich. Ich frage mich, wie sich dieser Gedanke auf die Kunst übertragen ließe, wie sich Kunst von Sinti*zze und Rom*nja begreifen lässt.

JUNGHAUS: Ich bin von der Idee einer Sinti*zze-­und-Rom*nja-Kunst geradezu besessen; am besten lässt sie sich als kulturelle oder ­ästhetische Praxis verstehen, die sich aus den gelebten Erfahrungen, Geschichten und Identitäten der Sinti*zze und Rom*nja über unterschiedliche Regionen hinweg entfaltet. Sinti*zze-und-Rom*nja-­Kunst ist nicht allein eine Kategorie, sondern eine Forderung: Sie wurzelt im Widerstand gegen Unterdrückung und in der Affirmation einer Identität durch visuelle, performative und konzeptuelle Methoden. Das Werk Małgorzata Mirga-Tas’ etwa befasst sich mit einer ­historischen Bildsprache, mittels derer sie Erzählungen der Sinti*zze und Rom*nja in die europäische Kunstgeschichte einschreibt, während Selma Selmans Performances die ökonomische und gesellschaftliche Ausgrenzung infrage stellen und so die Resilienz und Widerständigkeit verkörpern, die für den künstlerischen Ausdruck der Sinti*zze und Rom*nja zentral sind.

DOGRAMACI: Es ist sehr interessant, dass du ­Widerstand als etwas erwähnst, das in die Kunst der Sinti*zze und Rom*nja eingebettet ist. Ich ­frage mich, ob sich diese Kunst als ­transnational verstehen ließe. Damit könnte beigetragen werden, das Verlangen nach nationaler Kategorisierung bzw. Systematisierung in der Kunstgeschichte zu überwinden. Ich würde behaupten, dass die Vorstellung einer Sinti*zze-und-Rom*nja-­Kunst über Eingrenzungen hinausreicht.

JUNGHAUS: Definitiv. Deine Frage öffnet ein breites Spektrum potenzieller Auffassungen von unserer Kunst. Sie ist nicht nur eine ethnische oder minoritäre Kategorie, sondern eine Intervention in die Strukturen der Kunstwelt selbst, die die Kunstgeschichte aus Sinti*zze-und-Rom*nja-­Perspektive – die, wie du bemerkt hast, ­inhärent transnational ist – kritisch hinterfragt und ­umschreibt. Sie steht im Einklang mit einem umfassenderen Re-Imaginieren Europas – nicht als homogenes, weißes, christliches Konstrukt, ­sondern als einen durch Tausende von Jahren Migration geprägten Raum. Sinti*zze und ­Rom*nja, die zu den frühesten Migrant*innen Europas zählen, konnten ihre Existenz mithilfe von Widerstandskraft, Vielsprachigkeit, kultureller Anpassung und einem Sein ohne Grenzen aufrechterhalten. Bildung, Unternehmer*innengeist und kreative Möglichkeiten sind seit jeher zentral für die Erfahrung von Sinti*zze-und-Rom*nja und bilden den Kern unserer Subjektivität. Und genau darin liegt die Stärke unserer Kunst: Seit den späten 1960er Jahren ist sie das ­kraftvollste Instrument, um der Identität von Sinti*zze­ und Rom*nja Ausdruck zu verleihen und ihre Präsenz, Handlungsmacht und künstlerische Souveränität in der zeitgenössischen kulturellen Landschaft zur Geltung zu bringen.

DOGRAMACI: Ich denke an Konzepte wie das der „Postmigration“, die unterstreichen, dass sich ­Gesellschaften durch Migration konstituieren, und die dadurch zu neuen Auffassungen über Kunst und Kunstproduktion führen.

JUNGHAUS: Sinti*zze-und-Rom*nja-Communitys haben historisch gesehen grenzüberschreitend existiert, wobei sie sich an unterschiedliche kulturelle, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge angepasst haben. Anders als kunsthistorische Kategorisierungen, die auf Territorialität und Staatlichkeit beruhen, spiegelt ihre Kunst transgressive Konzepte wie ­Diaspora, Bewegung und Hybridität wider. Indem sie anerkennt, dass europäische Gesellschaften durch historische und gegenwärtige Migration geprägt sind, sprengt ihre Kunst zudem den eurozentrischen, nationalen Kanon. Ich werde auch kurz auf den Begriff Nomadismus zu sprechen kommen, der mit Sinti*zze und Rom*nja in Verbindung gebracht wird, allerdings verwende ich den Ausdruck nur ungern.

Małgorzata Mirga-Tas, “Singoalla Millon,” 2023

Małgorzata Mirga-Tas, “Singoalla Millon,” 2023

DOGRAMACI: Warum? Könntest du erklären, warum es schwierig ist, mit der Terminologie des Noma­dismus zu arbeiten – ein Konzept, das, neben vielen anderen, mit dem emigrierten Medienphilosophen Vilém Flusser verbunden ist?

JUNGHAUS: Die Schwierigkeit, auf Nomadismus – selbst im Sinne einer Emigrant*innen-Philosophie Vilém Flussers – Bezug zu nehmen, besteht darin, den konzeptuellen Reichtum des Begriffs von den historischen Wirklichkeiten erzwungener Ver­treibung, systemischer Ausgrenzung und permanenter Exotisierung der Sinti*zze und Rom*nja sowie anderer marginalisierter Gemeinschaften zu lösen. Ich persönlich bin der Meinung, dass die tausendjährige Geschichte der Sinti*zze und Rom*nja in Europa im Grunde eine Geschichte kleinerer und größerer Genozide, Vertreibungen und gewaltsamer Ereignisse ist. Das nomadische Leben war keine freie Wahl, sondern ein Weg, diversen Formen der Gewalt und Ausgrenzung zu entfliehen und zu entkommen. In meinen Texten vermeide ich den Begriff Nomadismus, da er, in Bezug auf Sinti*zze und Rom*nja, oft exotisiert, romantisiert oder sogar sexualisiert wird. Historisch betrachtet hat diese fehlerhafte Darstellung zu einer verzerrten Wahrnehmung ihrer Identität in der Kunst geführt, sodass sie häufig als ewige Wanderer ohne Handlungsmacht und Geschichte porträtiert wurden. Diese Darstellungen verfestigen Stereotype, anstatt die erzwungene Migration und systemische Marginalisierung anzuerkennen, die ihre Mobilität geprägt haben. Indem sich zeitgenössische Sinti*zze-und-Rom*nja-Künstler*innen kritisch mit diesen Narrativen befassen, zeigen sie Nomadismus nicht als romantisches Ideal, sondern als Reaktion auf Vertreibung, als Überlebensstrategie und als politische und ästhetische Kraft. Wenn wir den Begriff neu bewerten und neu verkörpern, intervenieren wir gegen die hiermit verbundenen Illusionen und gewinnen Zugang zu Geschichten, die in Europa andernfalls unerzählt bleiben. Wir sehen das in vielen Arbeiten von Sinti*zze und Rom*nja der ­Generation Z, etwa bei Charly Bechaimont, Anita Horváth oder Lila Loisse. Diese Auseinandersetzung steht darüber hinaus in Zusammenhang mit dem Gedanken von „reclaiming the camp“. Ethel Brooks’ wunderschöner Text „Reclaiming: The Camp and the Avant-Garde“ basiert auf Hannah Arendts Aufzeichnungen über moderne Geflüchtete und regt dazu an, Begriffe, die uns gestohlen und vor uns verborgen wurden, neu zu überprüfen.

DOGRAMACI: Könnte die aktuelle Aufmerksamkeit, die der Kunst der Sinti*zze und Rom*nja zuteil wird, zu einer Neubewertung des Porrajmos führen – der Verfolgung und Ermordung europäischer Sinti*zze und Rom*nja durch die Nationalsozialisten –, dessen lange Zeit kaum gedacht wurde? Ich denke an Ceija Stojka und ihr Werk, das von ihrer Internierung in und ihrem Über­leben von Auschwitz erzählt und 2022 auch auf der Documenta in Kassel präsentiert wurde.

Emília Rigová, “Occupo ergo sum!,” 2024

Emília Rigová, “Occupo ergo sum!,” 2024

JUNGHAUS: Unsere Anerkennung künstlerischer Praktiken, die das Andenken an den Holocaust an den Sinti*zze und Rom*nja bewahren, hat einen starken Einfluss auf die akademische Welt und prägt die Kunstgeschichte, die Holocaust­forschung und die Geschichtswissenschaft. Noch vor einem Jahrzehnt wurde uns beigebracht, dass sie lediglich kollaterale Opfer des Holocaust waren. Als Sinti*zze-und-Rom*nja-Historiker*innen, -Künstler*innen und -Wissenschaftler*innen jedoch nachforschten, enthüllten sie ­Geschichten, die über eine Opferrolle hinausgehen und unser Verständnis der Vergangenheit neu ­ausrichten. Die transformative Kraft künstlerischer ­Praxis für das Weitergeben dieser Geschichte ist außerordentlich.

DOGRAMACI: Du betonst, dass der Akt des Widerstands sowie aktives Überleben kein ­Bestandteil der Geschichten waren, die andere über den Holocaust an den Sinti*zze und Rom*nja erzählten. Es bestand die Notwendigkeit ­einer ­Historiografie des Porrajmos aus Sicht der ­Sinti*zze und Rom*nja selbst.

JUNGHAUS: Die Geschichten von Älteren, ­Über­lebenden, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen der Sinti*zze und Rom*nja fördern eine Geschichte von Handlungsmacht, Widerstand und Überleben zutage. Sinti*zze und Rom*nja entwickelten ausgeklügelte Flucht­strategien – sie versteckten jüdische und ihre Kinder gemeinsam, teilten sich Ressourcen und nutzten ihre profunden Kenntnisse von Wäldern und Feldern, um faschistische Kräfte auszumanövrieren, wobei ihre Expertise diesbezüglich oft sogar die antifaschistischer Bewegungen ­übertraf. Die Romanes-Sprache selbst wurde zu einem Instrument des Widerstands und diente als geheimes Kommunikationsmittel. Im vergangenen Jahrzehnt haben wir diese Geschichten zurückerobert und dokumentiert. Die Rolle von Künstler*innen in diesem Prozess ist außerordentlich. Historiker*innen und Künstler*innen wie Ceija Stojka, Karl Stojka, Małgorzata Mirga-Tas und Emília Rigová haben eindringlich bewiesen, dass ­Sinti*zze und Rom*nja keine passiven Opfer waren, sondern tätige Akteur*innen des Über­lebens und des mutigen Widerstands.

Robert Gabris, “Error – Roma Corporeality and Their Non-Binary Spaces,” 2021

Robert Gabris, “Error – Roma Corporeality and Their Non-Binary Spaces,” 2021

DOGRAMACI: Die fortlaufende Arbeit an Gegenwart und Geschichte der Sinti*zze und Rom*nja ist ein wichtiger Aspekt deiner Praxis. Als du zu Beginn unseres Gesprächs deine berufliche Laufbahn geschildert hast, sagtest du, du hättest Kunstgeschichte studiert – doch du bist viel mehr als eine Kunsthistorikerin. Du bist Kuratorin, du schreibst und vermittelst Sinti*zze-und-­Rom*nja-Kunst und bist darüber hinaus Aktivistin sowie Teil der transnational organisierten Sinti*zze-­und-Rom*nja-Community. Wie stehen all diese Tätigkeiten zueinander in Beziehung?

JUNGHAUS: Tatsächlich arbeiten die meisten meiner Kolleg*innen, die die Kunstwelt mitgestalten, an der Schnittstelle von Wissenschaft, kuratorischer Arbeit und Aktivismus. Ja, ­meine Arbeit soll Plattformen schaffen, durch die ­Sinti*zze-und-Rom*nja-Künstler*innen Beachtung finden und so in einen kritischen Dialog mit der weiteren Kunstwelt treten können. Und als Kunsthistorikerin fokussiere ich mich auf ­dekolonisierende Erzählungen und stelle sicher, dass ihre Kunst kein peripheres Thema ist, ­sondern ein zentrales Moment im zeitgenössischen Kunstdiskurs.

DOGRAMACI: Du hast erheblich dazu ­beigetragen, dass der Kunst von Sinti*zze und Rom*nja zuletzt sehr viel Aufmerksamkeit zuteil wurde. Mirga-Tas und Selman haben wir bereits erwähnt. Würdest du einen kurzen Blick zurückwerfen und einige der Veränderungen beschreiben, die sowohl die Sichtbarkeit als auch die Anerkennung von Sinti*zze-und-Rom*nja-Künstler*innen in der zeitgenössischen Kunst in den letzten Jahren betreffen?

JUNGHAUS: Ich habe den historischen Zeitstrahl immer vor Augen: Von 1968, als Sinti*zze und Rom*nja ihre Urheber*innenschaft kollektiv zurückforderten, bis hin zum „Ersten Welt-Roma-­Kongress“ am 8. April 1971 in London, der die erste internationale Versammlung von Sinti*zze-­und-Rom*nja-Intellektuellen darstellte und auf dem Denker*innen und Wortführer*innen aus ganz Europa zusammenkamen, um Ideen auszutauschen und ihre gemeinsame Agenda voranzutreiben. Ihre Zusammenarbeit resultierte in historischen Vereinbarungen über Schlüsselsymbole wie einer Flagge und Hymne, in der Bestimmung des 8. April zum Tag der Sinti*zze und Rom*nja sowie in transformativen Prinzipien wie ihrer Selbstbestimmung, der Ankerkennung des Holocaust und der Behauptung einer Sinti*zze-­und-Rom*nja-Autor*innenschaft. Dieses Konzept von Autor*innenschaft ist eine grund­legende Voraussetzung für die Anerkennung künstlerischer Praxis von Sinti*zze und Rom*njas. Seit den 1970er Jahren spielt die zunehmende Präsenz von Wissenschaftler*innen über Fachgrenzen hinweg zudem eine entscheidende Rolle.

DOGRAMACI: Die von dir 2017 gegründete Institution, das „European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC)“ (dt. Europäisches Sinti*zze-­und-Rom*nja-Institut für Kunst und Kultur), hat bei diesen Entwicklungen in den vergangenen Jahren eine zentrale Rolle gespielt.

JUNGHAUS: ERIAC funktioniert ganz ähnlich wie ein Goethe- oder Cervantes-Institut; für eine transnationale Minderheit wie die ­unsere allerdings ist die Koordination zwischen diversen Untergruppierungen, Communitys und nationalen Zusammenhängen besonders wichtig. Das Wiederaufleben des RomaMoMA auf der documenta fifteen im Jahr 2022 markierte einen entscheidenden Moment – ein Konzept, das zuerst 2005 von jungen Sinti*zze und Rom*nja in Budapest erdacht und später von der OFF-Biennale und ERIAC neu aufgenommen wurde. Heute existiert RomaMoMA als dynamische, sich stetig entwickelnde Präsenz und taucht in unterschiedlichen Projekten auf, manchmal auch anonym, ohne unser Wissen.

Mara Oláh, “They believed it and poured out the divine homemade chicken (soup), for which I drove 200 km. What the hell, your senile mom left the chicken guts in it? The reality was ... it was the egg carton – with the eggs still in it,” 2011

Mara Oláh, “They believed it and poured out the divine homemade chicken (soup), for which I drove 200 km. What the hell, your senile mom left the chicken guts in it? The reality was ... it was the egg carton – with the eggs still in it,” 2011

DOGRAMACI: Welcher Gedanke stand hinter „­RomaMoMA“? Der Name verweist auf eine sehr kanonische Kunstinstitution in New York City.

JUNGHAUS: RomaMoMA ist der Gegenentwurf zum Museum of Modern Art – womit wir die Notwendigkeit eines Sinti*zze-und-Rom*nja-Museums behaupten. Im Bewusstsein, dass die Verwirklichung einer derartigen Institution erhebliche multinationale Investitionen verlangen würde, stellt RomaMOMA über die materielle Form hinaus auch eine politische Forderung dar. Wir machen uns das Präfigurative als ein in der Erfahrung der Sinti*zze und Rom*nja tief verwurzeltes Konzept – neben dem Performativen – zu eigen; es erlaubt uns, dieses imaginierte Museum an einer Vielzahl von Orten, wo immer es gebraucht wird, zu konkretisieren.

DOGRAMACI: Wie stehst du zu kleineren, privaten Initiativen wie der Mara Gallery, die Mara Oláh 1993 in ihrer Budapester Wohnung eröffnete? Wie wichtig sind diese kleineren Institutionen im Vergleich etwa zu Einrichtungen wie dem ERIAC, einer äußerst repräsentativen Institution mit Sitz im Zentrum Berlins, unweit des Deutschen Bundestages?

JUNGHAUS: Herausheben lassen sich die ­Documenta und Manifesta ebenso wie die ­beeindruckende Präsenz von Małgorzata Mirga-Tas in ­Institutionen wie dem Bonnefantenmuseum in Maastricht und der Tate St Ives allein im letzten Jahr. Selma ­Selmans fantastische Ausstellung in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt, Robert Gabris’ eindringliches Werk im Wiener Belvedere 21 und ­Delaine Le Bas’ Nominierung für den Turner Prize unterstreichen alle die wachsende Sichtbarkeit von Sinti*zze-und-Rom*nja-­Künstler*innen auf höchstem Level zeitgenössischer Kunst. Auch Emília Rigová, die heute an einer ­Kunsthochschule in der Slowakei lehrt – einem Land, in dem Sinti*zze und Rom*nja nach wie vor gewaltsamer Diskriminierung ausgesetzt sind –, ­demonstriert den entscheidenden Beitrag von Sinti*zze-und-­Rom*nja-Künstler*innen zur kulturellen Landschaft. Diese florierende Produktion von Kunst ist nicht auf große Institutionen ­beschränkt. ERIAC fördert dieses Ökosystem aktiv durch ­Initiativen wie dem Residenzprogramm der Villa Romana, das aufstrebenden Sinti*zze-­und-Rom*nja-Künstler*innen einen Weg in die internationale Kunstszene ebnet.

Selma Selman, “Platinum,” 2021

Selma Selman, “Platinum,” 2021

DOGRAMACI: Ich würde gerne noch einmal auf die Kunstgeschichtsschreibung und ihr Verhältnis zu den Aktivitäten von ERIAC zu sprechen kommen. Dein Wikipedia-Eintrag hebt hervor, dass du die erste Sinti*zze und Rom*nja in Ungarn bist, die einen akademischen Abschluss in Kunstgeschichte erworben hat. Das verrät viel über die Zugänglichkeit von Institutionen, über Inklusion und Exklusion. Wie relevant war es für dich und deine Arbeit, einen wissenschaftlichen Abschluss in Kunstgeschichte zu haben?

JUNGHAUS: Ja, dieser Wikipedia-Artikel präsentiert mich als singuläres Beispiel, eine Tatsache, die an sich bereits widerspiegelt, wie Stereotype operieren: Sinti*zze und Rom*nja werden oft als ­isolierte Ausnahmen gerahmt. In Wirklichkeit sind wir zahlreiche herausragende Kunsthistoriker*innen, die Führungspositionen in der Kulturbranche innehaben, etwa Dr. Jana Horváthová, Direktorin des „Museums der Roma-­Kultur“ in Brünn, oder Miguel Ángel Vargas, Kurator der Factoría Cultural in Sevilla. Mein Aktivismus hat sich immer darauf konzentriert, Räume und ­Gelder für Sinti*zze-und-Rom*nja-­Künstler*innen sicherzustellen, systemischer Diskriminierung entgegenzuwirken und dafür zu sorgen, dass sie in bedeutenden Ausstellungen vertreten sind. Diese Arbeit verlangt nicht nur eine Interessen­vertretung, sondern auch das Erfüllen kompetitiver Standards, die sowohl die Mainstreaminstitutionen als auch der akademische Bereich einfordern. Denn ohne institutionelle Anerkennung bleibt das Ringen um ­Sichtbarkeit und Legitimität ein kaum zu bewältigender Kampf. Meine Arbeit ist eine Intervention, eine Einforderung von Handlungsmacht, die sicherstellt, dass Sinti*zze und Rom*nja und ihre Kunstgeschichte durch authentische Stimmen definiert werden. Um diesen Einfluss zu erhöhen, versuche ich, mich mit weiteren Akteur*innen und ­Kolleg*innen, die ähnliche Ziele verfolgen, zusammenzuschließen und unsere kollektive ­Praxis sowie unseren Wirkungsbereich zu stärken.

DOGRAMACI: Du beziehst dich auf das Arbeiten in Gemeinschaften und Verwandtschaften (engl. kinships). Deutlich sichtbar, wie ich finde, wurde das im polnischen Pavillon 2022: In der gesamten 120-jährigen Geschichte der Biennale von Venedig war Mirga-Tas die erste Sinti*zze und Rom*nja, die als Künstlerin einen nationalen Pavillon bespielte. Ihr Projekt „Re-enchanting the World“ (dt. „Die Welt neu verzaubern“) nahm Bezug auf die astrologischen Fresken im Palazzo ­Schifanoia in Ferrara und adaptierte deren Themen und Ikonografie für eine Kunstgeschichte der ­Sinti*zze und Rom*nja. Der Palazzo Schifanoia war entscheidend für das Konzept des Nachlebens, das der Kulturtheoretiker Aby Warburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte. Auf diese Weise führt ein Weg von Warburg bis zu dir – denn im Mittelteil von Mirga-Tas’ „Re-enchanting the World“ gibt es ein Porträt von dir als einer der zahlreichen weiblichen Bezugsgrößen für die Künstlerin.

JUNGHAUS: Als wir den Pavillon mit Mirga-Tas’ ­Arbeiten betraten, war das eine ­zutiefst ­bewegende Erfahrung. Gemeinsam mit der Künstlerin, Joanna Warsza, einer der ­Mitkurator*innen der Ausstellung, Ethel Brooks und dem Künstler Daniel Baker reisten wir mit 100 ­Menschen aus der Sinti*zze-und-Rom*nja-­Community von Venedig Mestre an. Die Reise war lustig und laut, aber als wir die Schwelle des Pavillons überschritten und wie verzaubert vor den Werken standen, breitete sich eine Stille voller ­Emotionen im Raum aus. Wir hatten alle auf dieses Ziel hingearbeitet, aber selbst wir waren überrascht, ­Sinti*zze-und-Rom*nja-Kunst und -Individuen nicht als peripheres Thema, sondern im Zentrum des zeitgenössischen Kunstdiskurses zu sehen. Für mich ist das ein wahres Beispiel für die ­Dekolonisierung von Narrativen, unserer Kunstgeschichte und unseren Vorstellungen …

Charly Bechaimont, “We Never Made the War,” 2023

Charly Bechaimont, “We Never Made the War,” 2023

DOGRAMACI: Die Kraft unterschiedlicher Stimmen ist besonders in Zeiten vonnöten, in denen die extreme Rechte in Europa und darüber hinaus erfolgreich ist. Könntest du skizzieren, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf die Arbeit von ERIAC oder auf deine eigene haben? Und umgekehrt: Wie wichtig ist die Arbeit von ERIAC heute, in diesen sehr schwierigen Zeiten politischen Drucks und zunehmender Unsicherheit?

JUNGHAUS: Wir alle im kulturellen Feld spüren den Einfluss der aufstrebenden extremen Rechten. Für ERIAC und meine eigene Arbeit lässt sich das Schwinden von Möglichkeiten tagtäglich beobachten. Sinti*zze und Rom*nja sind sichtbar, solange sie für Raum und Infrastruktur bezahlen, und ich muss wohl nicht erklären, wie schrecklich unfair und ungerecht das ist und wie de­struktiv diese Ausschlussmechanismen für unsere Demokratien sind. Die Zurückweisung durch die Kunstszene ist ein Teufelskreis. Sie sagen: „Das ist ethnische Kunst. Ihr solltet die Regierungen um eure eigenen Museen und Räume bitten.“ Wenn wir aber die Regierungen um unsere eigenen Räume bitten, weist man uns ab, weil eine solche Institution ein kulturelles Ghetto darstellen würde. Viele Minderheitengemeinschaften – nicht allein Sinti*zze und Rom*nja – finden sich in einem unüberwindbaren Kreislauf gefangen und lavieren sich durch ein Labyrinth struktureller Begrenzungen von Finanzierungen, ­institutionellen Zugängen und Möglichkeiten. Trotz meines tiefen Pessimismus im Hinblick auf die Gegenwart bewahre ich mir jedoch einen unerschütterlichen Optimismus, was die Zukunft betrifft. Ich glaube an unsere Fähigkeit, uns der Fragilität unserer Demokratie bewusst zu sein, und an den anhaltenden Einfluss der Kunst auf zukünftige Generationen. Ich vertraue darauf, dass viele ­Kurator*innen, Direktor*innen und ­kulturelle Führungspersönlichkeiten sich weiterhin verpflichtet fühlen, ihre Institutionen kritisch zu reflektieren, tiefere Verbindungen mit lokalen Gemeinschaften einzugehen und anzuerkennen, dass ­Sinti*zze und Rom*nja die europäische Kultur auch ­weiterhin auf höchster Ebene mitgestalten.

DOGRAMACI: Beenden wir unser Gespräch mit einem Blick in die Zukunft und dem Traum von Zukünften. Meine letzte Frage ist: Was würdest du in der Zukunft gerne sehen? ­RomaMoMA – oder Sinti*zze-und-Rom*nja-Kunst und -Künstler*innen in jeder Kunstinstitution? Aber vielleicht gibt es auch kein Entweder-Oder.

JUNGHAUS: Dass über 30.000 Kunstwerke von ­Sinti*zze und Rom*nja in staatlichen Sammlungen Europas vertreten sind, ist eine wenig bekannte Tatsache. Es gibt zudem wunderschöne Archive an zahlreichen Orten. Eine Kulturgeschichte zusammenzuführen, die substanziell genug ist, ein RomaMoMA zu begründen, wäre absolut möglich – eine Institution, die die künstlerische und intellektuelle Präsenz von ­Sinti*zze und Rom*nja nicht nur archiviert, sondern auch für sich behauptet. Die Verwirklichung des ­RomaMOMA noch mitzuerleben, das wünsche ich mir sehr. Doch während der Rechtsextremismus an Boden gewinnt, scheint diese Vision immer fragiler zu werden, und ihre Umrisse ­verschwimmen angesichts einer Flut von Ausgrenzungen. Trotzdem bleibe ich hoffnungsvoll. Ich setzte mein Vertrauen in die kommenden Generationen und die kreative Energie der Sinti*zze-­und-Rom*nja-Künstler*innen, deren Werk die Grenzen zeitgenössischer Kultur neu definieren. Ein RomaMoMA wäre nicht nur ein Museum – es wäre ein Ort des dynamischen Austauschs, an dem ein Dialog mit Mehrheitsgesellschaften Gestalt annähme, Solidaritäten über dezentrale Landschaften hinweg geschmiedet würden und Kunst – unsere Kunst – ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte einnähme.

Übersetzung: Sonja Holtz

Timea Junghaus ist Kunsthistorikerin, Vertreterin der kulturellen und politischen Bewegung der Sinti*zze und Rom*nja und Kuratorin für zeitgenössische Kunst. Sie ist Direktorin des European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC) in Berlin, das vom Europarat, den Open Society Foundations und der Alliance for the European Roma Institute gegründet wurde. In zahlreichen Publikationen und Forschungsprojekten hat sie sich mit den Berührungspunkten zwischen moderner und zeitgenössischer Kunst und kritischer Theorie befasst, wobei ihr Fokus insbesondere auf Fragen der kulturellen Differenz, des Kolonialismus und der Repräsentation von Minoritäten liegt. Sie war Kuratorin von „Paradise Lost“ – dem ersten Sinti*zze-und-Rom*nja-Pavillon auf der 52. Venedig Biennale. Als führende europäische Organisation für Kunst und Kultur der Roma präsentiert ERIAC unter Junghaus’ Leitung seit 2017 Kunst der Sinti*zze und Rom*nja auf den renommiertesten Kunstveranstaltungen der Welt.

Burcu Dogramaci ist Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-­Universität München und Direktorin des Käte ­Hamburger Kollegs „global dis:connect“. Sie forscht zur Kunst des 20. ­Jahrhunderts und der Gegenwart mit einem Schwerpunkt auf Exil und Migration, Fotografie, Architektur, Textil und Mode, Live Art. Sie leitete das Forschungprojekt „Relocating Modernism: Global Metropolises, Modern Art and Exile (­METROMOD)“ (2017–2023).

Image credits: 1. Courtesy Charly Bechaimont, photo Eva Djen; 2. © Selma Selman; 3. © Västerås Konstmuseum Sweden, courtesy Małgorzata Mirga-Tas and a private collection; 4. Courtesy Emília Rigová, photo Zuzana Pustaiová; 5. Courtesy Robert Gabris, photo Vlado Elias; 6. Courtesy of OMARA Mara Oláh, Everybody Needs Art and Longtermhandstand, Budapest; 7. Courtesy Selma Selman, photo Damir Šagolj, 8. Courtesy Charly Bechaimont, photo Roberto Marossi