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Felix Bernstein

Der unangreifbare Aufsatz Zum Amazon-Diskurs der Hybridliteratur

[1]

Als Performancekünstler, Bühnenautor, Kulturkritiker und Dichter scheint der New Yorker Felix Bernstein ein typisches Modell der hybriden affektorientierten Gegenwart. In seinem Beitrag, der sich vielleicht am ehesten als öffentliche Beichte beschreiben lässt, spricht Bernstein in eben der Stimme, die er kritisiert und die doch – das müssen wir jedenfalls glauben – seine authentisch eigene ist: nämlich die des zeitgenössischen romantischen Dichters.

Während ich den vorliegenden Text schrieb und gerade x auf iTunes hörte, erhielt ich einen Anruf von Freund x, wir lasen gemeinsam Theoriezitat x, in der Galerie x hatte ich die traurige Erinnerung x und kam bezüglich der Position von x zur Einsicht x. Danach formulierte und definierte ich mit vorsichtigem Bedacht Position x+1 als Vorwand und Alibi, um die Künstlergruppe x+1 vorzubringen, der zufällig auch ich angehöre. Meine Definition von Position x+1 ist nicht akademisch, obwohl ich gerade meine Doktorarbeit schreibe, sondern locker wie ein gut informierter Blog. Es handelt sich um keinen Kunstwelt-Text, obwohl er in einem Ausstellungskatalog erscheinen wird. Es stehen keine finanziellen Motive dahinter, obwohl der Text für einen Sammelband vorgesehen ist, der an der Spitze der Amazon-Bestsellerliste in der Kategorie Pop-Poesie-Philosophie-Queer-Autobiografie-Autofiktion-Essay stehen wird, noch vor den „Essais“ von Montaigne. Keine Angst: Der Ton ist nicht hochgestochen, sondern vertraut wie unter Freunden.

Mithilfe der Anwendung von obiger Formel können Künstler/innen und Kritiker/innen an einem Genre schmieden, an dem jeder schnell geäußerte Vorwurf, elitär und engstirnig zu sein, wirkungslos abprallt. Der institutionellen Kälte akademischer Kanonisierungsschriften setzt die Formel das Ungezwungene, Triviale, Skurrile entgegen. Kein Wunder, dass sie sich bei angehenden Akademikern und Kunstweltlern steigender Beliebtheit erfreut. Sie folgt den Richtlinien, die einst Frank O’Hara in seinem ironischen Dichtermanifest „Personism“ festhielt, das dem Gossip unter Freunden den Vorzug gegenüber akademischem Formalismus gab. O’Hara, Dichter und auch in der Kunstszene aktiv, kleisterte das genialische Konglomerat zusammen, das in den 1950er Jahren unter dem Etikett New York School bekannt war. „Personism“ war eine gewitzte Replik auf T. S. Eliots abgehobene Theorie einer „unpersönlichen Dichtung“, die darin bestehen sollte, Gefühle durch einen dichterischen Kraftakt in objektive Gefäße zu zwingen. O’Hara konterte Eliots konservativen Traditionalismus mit einer Formel, die ihrerseits eine neue Tradition lostrat. [2]

Obwohl er 15 Jahre lang im New Yorker Museum of Modern Art arbeitete – vom Postkartenverkäufer bis zum Kurator – und eine gern gesehene und zentrale Figur des Kunstgeschehens der Stadt war, blieb O’Hara die institutionelle Anerkennung zeitlebens versagt. Heute jedoch zählen seine Gedichte zu den Klassikern seiner Ära, und er selbst stieg zur schwulen Stilikone auf. Denn O’Hara war der Dichterfürst als Szene-macher, zugleich pointiert und nahbar, etabliert und queer, ironisch und ehrlich, uptown und downtown, schlicht und elegant. Seine poetisch-persönliche, poetisch-kritische Mischästhetik wurde zur fetischisierten Norm der Dichtkunst: Studierende amerikanischer MFA- und PhD-Programme sind heute angehalten, sowohl ihre kritische als auch ihre emotionale Seite in ihre Arbeiten einzubringen – schließlich erfreut sich der Markt für literarische Erzeugnisse dieser Art eines lebhaften Wachstums, und Großverlage, Kunstinstitutionen und Hochglanzmagazine suchen nach Meistern des Hybridstils. Für die junge Poetengeneration ist es etwa ganz normal, ihre Essays als Multimediakunst aufzumischen, sei es für einen radikalen oder kommerziellen Kontext.

Percy Shelley verlieh 1821 der Position des Dichter-Kritikers, die er als „geheime Gesetzgeber der Welt“ verstand, das Recht, sich selbst und den Rest der Welt ins Verhältnis zu setzen und zu beurteilen. Für den Mix aus Ästhetik, Poetik und Politik setzte Shelley die Latte unerreichbar hoch. Und doch war seine Gattin Mary -Shelley sogar noch stärker hybridisiert. Die Tochter freidenkender Eltern (die Mutter war Feministin, der Vater Anarchist) verfasste den englischen Schlüsselroman des 19. Jahrhunderts – „Frankenstein“. Nach einem philosophischen Gespräch ihres Mannes mit Lord Byron spekulierte sie, „vielleicht auch könnten die passenden Einzelteile eines Lebewesens zusammengesetzt und mit der Wärme des Lebens versehen werden“. [3] Mary Shelley schuf ein Monster, das die privilegierte Dandy-Kultur der damaligen Zeit auf den Kopf stellte. (Nebenbei bemerkt hielt Byron später als Vorbild für Graf Dracula her: halb Mensch, halb Fledermaus, durch und durch Dandy).

Frankensteins Monster verkörperte ein Gegenbild zu all den revolutionären Männern, die ganz Herr ihrer Vernunft und ihrer Leidenschaften waren. Außerhalb der Gesellschaft und ohne Ahnenreihe, wurde es zum Vorfahr zahlloser Mischwesen späterer Generationen, zur liebenswerten Trope der amerikanischen Popkultur, wo queere Monster immer wichtigere Identifikationsfiguren werden – von Disney-Halunken bis zu jenen, die es verstehen, durch Social Networking ein Massenpublikum über alle Medien- und Sexualitätsgrenzen hinweg anzusprechen, wie Hollywoodstar James Franco.

Romantiker/innen wie Percy und Mary Shelley schrieben, zum Leidwesen des kulturellen Establishments, in eigens verfassten Manifesten vor, wie ihre Werke zu lesen seien, und versetzten konservative Kritikerkreise in Panik. Die radikale Leseanleitung mutierte im Laufe der Zeit zum obligaten Künstlerstatement. Im Vergleich zu den Shelleys hat der Dichter-Kritiker von heute eine geringere Rolle inne: Er ist beauftragt, diejenigen „ästhetischen Kategorien“ zu katalogisieren, die unserer postdigitalen, queeren, Painting 2.0-Mittelklassewelt eine Ordnung verleihen – mithilfe einer Kurzlebigkeit, die dem akademischen Status quo nur oberflächlich zu widersprechen scheint.

All jene, die sich als Hüter/innen der institutionellen Praxis nicht davon abbringen lassen wollen, an formalen und medialen Grenzen festzuhalten, empfinden den Erfolg der Hybridkünstler/innen als Schlag ins Gesicht der hehren Tradition. Roland Barthes entwirft mit seinem -Catcher (der in den „Mythen des Alltags“ gleich am Anfang, noch vor einem Essay über den Kritiker auftritt) eine instruktive Analogie:

„[…] bald leugnet er die förmliche Grenze des Rings und schlägt weiter auf einen Gegner ein, der von Rechts wegen von den Seilen geschützt wird, bald stellt er diese Grenze wieder her und beansprucht den Schutz dessen, was er einen Augenblick zuvor mißachtet hat. Diese Inkonsequenz, mehr noch als Verrat oder Grausamkeit, bringt das Publikum außer sich: Nicht in seiner Moral, sondern in seiner Logik gekränkt, betrachtet es den Widerspruch der Argumente als den schändlichsten aller Fehler.“ [4]

Felix Bernstein, "Bieber Bathos Elegy," Whitney Museum of American Art, New York, 2016. Performance

Wenn wir ein altes Genre und die in ihm herrschenden Gesetze überwunden haben, wer sorgt dann dafür, dass die neuen Gesetze eingehalten werden? Wer entscheidet, was gut und schlecht ist? Der Dichter-Kritiker begeht wie Barthes’ Catcher keine Verletzung der Moral; Anstoß erregt vielmehr die Ungerechtigkeit der verlogenen Prinzipien, nach denen er beurteilt werden möchte: „Behandelt mich nicht so, wie ich euch behandle.“ Folglich kann jede Kritik an einem Schreiber persönlicher Essays mit dem Argument zurückgewiesen werden, man habe entweder die Subjektivität des Künstlers mit seinen Schöpfungen verwechselt oder umgekehrt. Die ungeschriebenen Gesetze wechseln ständig, bleiben aber immerfort hierarchisch. Selbst der vorliegende Aufsatz ist nicht frei von solchen Widersprüchen. Ich werde von Fall zu Fall behaupten, dass der Schreiber persönlicher Essays ein Heuchler, ein Revolutionär, ein Genie oder ein Betrüger ist. Doch wer definiert die zur Beurteilung notwendigen Kriterien? Am Ende ist und bleibt der Baudelaire’sche Kritiker-Künstler ein Erzheuchler, der vorgibt, die Grenzen zu übertreten, die er doch nur neu bestätigt.

Dass diese Problematik bei der Bewertung von queerer und weiblicher Literatur besonders ins Gewicht fallen würde, wusste schon Barthes, der als Gegenstück zur Macho-Figur des Catchers an anderer Stelle ein gönnerhaftes Gruppenfoto mit 70 Romanautorinnen in der Zeitschrift Elle bespricht. Sich als (antiakademische) Dichterin-Kritikerin-Künstlerin in Szene zu setzen, birgt unglücklicherweise immer noch die Gefahr, als reine Persona, als zickige Diva, als zu persönlich und zu feminin angesehen und auf formaler Ebene weniger ernst genommen zu werden.

Man nehme zum Beispiel den jüngsten popkulturellen Hype um die Dichterin und Essayistin Eileen Myles. Entsprechend der Logik der Coolness, der Punk-Mode und des Markthungers nach destruktiver Innovation wird alles, was mit ihrer Rolle als Dichterin zu tun hat, bejubelt und verschlungen; alles, so scheint es, nur ihre Gedichte nicht. Die werden zwar von Myles’ Kollegen und Kolleginnen durchaus ernst genommen, doch die breite Öffentlichkeit ist weitaus stärker an ihrer Persönlichkeit interessiert. Ein in Artforum erschienener Aufsatz [5] untersucht diese Dynamik in der Kunstgeschichte in Hinblick auf die Erfolgsstrategie feministischer Künstlerinnen, einfach nur „fuck you“ zu sagen. [6] Das ergibt zwar eine amüsante Liste nach Buzzfeed-Art, kommt aber mit der Kehrseite, dass Künstlerinnen als „Madwoman in the Attic“ betrachtet werden, das heißt als reine Mentalität. Ein Paradebeispiel: Wenn man günstigen und weniger günstigen Kritiken glauben darf, spiegelt sich in meinen eigenen Texten eine postdigitale, schwule „Haltung“, doch keine „ernsthafte“ Beschäftigung mit poetischem oder wissenschaftlichem Schreiben.

Dennoch gelangt auch die etablierte Kritik langsam zu der Erkenntnis, dass die Werke von Schreibern persönlicher Essays und Hybrid-autoren mehr sein können als bohemian camp oder lyrisches Geläster. Claudia Rankines Opus -„Citizen: An American Lyric“ (als kritisches Werk und als Dichtung angepriesen) wurde einstimmig als eindringliche und virtuose Bestandsaufnahme der amerikanischen Rassenbeziehungen gelobt. Der Guardian rechnete es zu den „Best Political Books“ des Jahres 2015. Mehr als eine „unwiderstehliche“ stilistische Geste bestätigt die historische Notwendigkeit dieser Aktualisierung der amerikanischen Literatur, welch enormes poetisches Potenzial die Überschreitung von Genregrenzen freisetzen kann. Und erst kürzlich erhielt die Dichterin Maggie Nelson für ihr Buch „The Argonauts“ großen Beifall, das die Geschichte ihrer Beziehung zum genderfluiden Künstler Harry Dodge erzählt. Laut Verleger handelt es sich um die „Kategorien sprengenden“, „autotheoretischen“ „Memoiren“ einer „öffentlichen Intellektuellen“. „The Argonauts“ steht derzeit auf Platz eins der amerikanischen Amazon-Bestsellerliste in den Kategorien feministische und LGBT-Kritik sowie philosophische Kritik, wo Nelson noch vor Montaigne und Nietzsche liegt. [7]

Experimente mit Versromanen und poetischer Sachliteratur wurden in der Vergangenheit meist mit der Absicht begründet, eine breitere Leserschaft erreichen zu wollen. Und unbestritten spielt ein finanzieller Anreiz mit, denn Romane in englischer Sprache verkaufen sich eben schon seit dem 19. Jahrhundert besser als Gedichte, sodass Poesie im Romankleid bessere Chancen auf dem Markt hat.

Seine erfolglose Dichterlaufbahn ersetzte Marcel Broodthaers in den 1960er Jahren nicht ohne Ironie durch eine erfolgreiche Künstlerlaufbahn und ging dabei so weit, seine unverkauften Bücher in eine Gipsskulptur einzugießen. Die Binarität, die eine solche biografische Narration nahelegt, verleitete eher nach dem Mainstream gerichtete Rezensenten von Broodthaers’ jüngster MoMA-Retrospektive dazu, ihn entweder als käuflichen Scharlatan abzutun, der dem Laien nichts zu sagen hat, oder seiner Kunst trotz ihrer Kritikalität eine überraschende visuelle Anziehungskraft zuzusprechen.

Doch in seinem letzten Werk, „La Salle Blanche“ (1975) – der Nachbildung eines Zimmers seiner Wohnung als monolithische Skulptur, deren Wände mit Begriffen aus Kunst und Theorie beschrieben sind –, kehrte Broodthaers sein Versprechen, die Dichtung aus ihrem Elfenbeinturm zu holen, ins genaue Gegenteil. Broodthaers stellte das Poetische mitten ins Museum, auf „diesen perfekt kleinbürgerlichen Boden, wo Wörter schweben“. Wenn sich die innersten Ausbrütungen des Künstlers als sprachliche Struktur erweisen, lässt das zynische Schlüsse zu: dass sich die raffinierte Maske der Kritiker-Künstler-Rolle in seinem Inneren festgeklebt hat; dass die kunsttheoretischen Begriffe, statt den Status des bürgerlichen Künstlers aufzusprengen, in seinem Besitz haften bleiben wie Tapeten.

It’s like rain on your wedding day … oder wie die Aufführung meiner Pop-Poesie-Spektakel-Oper „Bieber Bathos Elegy“ in einem großen Museum, unmittelbar nach meiner Kritik an eilig zusammengestellten Hybrid-Poesie-Veranstaltungen im New Yorker New Museum. In meiner Show trällert mir Justin Bieber [8] ein Lied von der pathetischen Banalität meiner Fan-Verehrung. Obwohl die Show mit einer gutturalen und aggressiven Dekonstruktion des YouTube-Kinderstars beginnt, falle ich am Ende Bieber schmachtend in die Arme – die Zuckungen eines schwulen Spastikers, der noch kein Postspektakel kann, oder der postkritische Rückfall in die Sentimentalität. Die Camp-Logik wird derart auf die Spitze getrieben, dass manche Kritiker/innen meinten, die Show biete „zu viel“ von der Ästhetik des „zu viel“. Voilà, das kommt davon, wenn die Bühne einer Bühne sich selbst enthält.

Vielleicht ist es ein ähnlicher Fall wie Merlin Carpenters „politischer Kitsch“: Carpenter, Maler und Marxist, in seiner eigenen Sprache gefangen; die antikapitalistischen Slogans der Serie „Openings“, ernsthaft und im vollen Bewusstsein in den Kontext des Kunstmarkts entlassen, nur um von anderen, entgegen der ursprünglichen Absicht des Künstlers, als reine Ironie aufgegriffen zu werden; dessen Position beginnt dadurch, noch realer (wertvoller) zu wirken. Genau in dem Moment, wenn dir die Institution kühl die Hand schüttelt und auf die Schulter klopft, fängst du an, wirklich an den anti-institutionellen Diskurs zu glauben.  [9]

Was mich betrifft, konnte mich nicht einmal die tiefste Nabelschau davon abhalten, auf meiner eigenen, sorgfältig platzierten Bananenschale auszurutschen. Und das ist letztendlich, was mit dem Begriff „Bathos“ gemeint ist – und was zur theatralischen Darstellung kultureller Unterschiede gehört. Maggie Nelson drückt dies so aus:

„Als gute Foucault-Schülerin begann ich zu verstehen, dass bestimmte Äußerungen einzig innerhalb der Logik einer konfessionellen Gesellschaft als Übertretung empfunden werden […] Ich glaube, ich habe ein gewisses Talent oder einen gewissen Geschmack dafür entwickelt, diese Übertretung in Szene zu setzen, wobei mir bewusst bleibt, dass eine solche Inszenierung ein Täuschungsmanöver darstellt, und da tun sich immense Möglichkeiten auf.“ [10]

Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an: Wann hortest du etwas und wann wirfst du es weg, wann bist du gleichgültig und wann affirmativ, wann gehst du zu etwas anderem über? Die verflixten Übergänge bleiben anscheinend immer unvollständig. Und die schlechten Übergänge, wie im Fall von Frankensteins Monster, die fehlgeschlagenen Übergänge, werden verlacht und fetischisiert: Derrida meinte: „[…] es ist immer die Nicht-Arbeit, die stigmatisiert wird.“ [11] Als Gegenmaßnahme muss der unbeholfene Übergang in disziplinäre Leistungskriterien optimiert werden, zur guten Hybride werden – der organlose Körper, der das Geschlecht parodiert, während er Prekarität, Materie und Ethik betont, während er virtuell, ironisch, veränderlich bleibt und selbstkritisch erkennt, dass das alles „neoliberal“ ist und nur darauf wartet, übertroffen zu werden.

Trotzdem halten wir weiter an dem Glauben fest, dass der persönliche Schreibstil sich gegen den Akademismus richtet. In vielen US-Bundesstaaten wurden die „schlechten“ standardisierten Tests (für die Uni-Aufnahmeprüfung) durch „gute“ Hybrid-Portfolio-Reviews ersetzt, die High-School-Abgänger als ganzheitliche Menschen bewerten. Heute soll die optimale Bewerbung den Kandidaten als außergewöhnlich, doch dienstbereit ausweisen, als queer, doch angepasst genug, um imstande zu sein, ein kohärentes Bild von sich selbst zu entwerfen. Die Aufnahmekomitees richten virtuelle Social-Media-„Fächer“ ein, wo Studierende Informationen über ihre diversen Aktivitäten posten können. Transgression und Banalität sind das neue Nonplusultra. An der New York University werden gentrifizierungsfeindliche Downtown-Avantgarde-Künstler/innen mit gentrifizierenden College-Studenten und -Studentinnen zu perfekten Hybridwesen gekreuzt. Immer mehr Master- und PhD-Programme und Mentoring-Residencies beschäftigen Professoren/Professorinnen, deren Aufgabe es ist, Schreiber persönlicher Essays, Künstler-Kritiker/innen und Performer-Akademiker/innen so schnell wie möglich zu Publikationen bei Norton, Penguin oder Artforum zu verhelfen, anstatt bei verstaubten akademischen Verlagen und Zeitschriften der alten Garde. Anthologien streben stets den aristotelischen Goldenen Schnitt an, im Einklang mit der poetischen Urfantasie des Abendlandes von der harmonischen Reinheit der Äolsharfe.

Um heutzutage in eine Anthologie aufgenommen zu werden, reicht es nicht, bloß Künstler/in zu sein, man muss es erklären; reicht es nicht, bloß Akademiker/in zu sein, man muss es fühlen; reicht es nicht, bloß Wissenschaftler/in zu sein, man muss mit den Blogs Schritt halten; reicht es nicht, bloß Blogger/in zu sein, man muss mit den Theorien Schritt halten.

Lady Gaga, 2014

Ich würde das technokratischen Neoliberalismus nennen, aber ich sitze im Glashaus. In der queeren Welt nennen wir das oben Beschriebene „you do you“ – das Tauziehen, in dem du dir abwechselnd die Erlaubnis gibst und nimmst, du selbst zu sein, latent passiv-aggressiv und verbissen darum konkurrierend, wer denn jetzt das größte Selbstvertrauen hat. Wie Lady Gaga so treffend sagte: „I’m a selfish bitch to inspire other selfish bitches.“ Wer ihre Starallüren kritisiert, „hatet“ und denunziert damit zugleich auch all jene, die sich von ihr inspiriert fühlen. Niemand kann Lady Gaga vorwerfen, größenwahnsinnig zu sein, denn schließlich inspiriert ihr Größenwahn selbstlos eine ganze Schar von Anhängern.

Das ganze Du- und Ich-Sein hat zur Folge, dass es keine Geheimhaltung mehr gibt, aus der man sich outen müsste, keine Verdrängung, kein Unbewusstes: „You do you“ bedeutet, du lebst in einer autofiktionierten Auto-Tune-Form der Auslöschung, du praktizierst Selbstdarstellung durch „andauernden Selbstmord“. [12] Du lebst in einer Kultur, in der es Außenseiter gibt, noch ehe man überhaupt ein Außen sieht.

Der außergewöhnlichste Künstler-Kritiker ist imstande, Banalität und Transgression nahtlos zu verschmelzen und alle Grenzen von Zeit und Disziplin zu überwinden, während er weiter die üblichen Vergünstigungen des Markts genießt. Wer als charismatische Ausnahmeerscheinung hoch über dem Rest thronen möchte, läuft allerdings Gefahr, dass das neu erschaffene Genre zu perfekt ausfällt und deswegen allzu vieles ausschließt.

Die besten Hybridautoren haben ein freimütiges Bedürfnis, ihre Komplizenschaft bei der Monetarisierung von Gefühlen und die impliziten affektiven Ansprüche ihres Genres zu adressieren. Diese Haltung birgt jedoch ebenfalls ein Problem, denn so zimmert sich der Hybridautor aus absichernden Fußnoten, scharfer Selbstkritik, persönlichen Gefühlen, poetischer Sprache und wissenschaftlicher Theorie eine Integrität, die nicht zu knacken ist. Tappt er, wenn er ein derart unüberwindbares Bollwerk gegen seine Kritiker/innen aufrichtet, nicht in die alte Falle disziplinärer Autorität?

Ist das Persönliche schlicht zum neuen Unpersönlichen geworden? Kann schon sein – aber selbst wenn, mach du einfach du.

Übersetzung: Bernhard Geyer

Aus rechtlichen Gründen können einige der Bilder, die diesen Text zum Zeitpunkt der Veröffentlichung begleitet haben, nicht mehr gezeigt werden.

Felix Bernstein is Autor der Gedichtsammlung „Burn Book" (Nightboat, 2016) und der Essaysammlung „Notes on Post-Conceptual Poetry" (Insert Blank Press, 2015). Demnächst erscheint sein zusammen mit dem Philosophen Kyoo Lee verfasstes Buch zur zeitgenössichen queeren Avantgarde.

Anmerkungen

[1]Henry Weekes, Shelley-Denkmal, Christchurch Priory, Dorset 1853-4
[2]Frank O’Hara, „Personism: A Manifesto“, in: The Collec-ted Poems of Frank O’Hara, hg. von Donald Allen, Los Angeles/London 1995.
[3]Mary Wollstonecraft Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Frankfurt/M. 2008, S. 15.
[4]Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 2010, S. 26.
[5]Ara Osterweil, „Fuck You! A Feminist Guide to Surviving the Art World“, in: Artforum, 54, 10, S. 320–330.
[6]Hier haben wir den typischen Fall einer Fusion von Person, ästhetischer Form und Personalität, einer Aufhebung des dialektischen Spiels zwischen Subjekt und Objekt, unpersönlichem Stil und bekenntnishafter Authentizität. Dass sich diese Dualismen nicht so ohne Weiteres auf praktischer Ebene auflösen lassen, zeigt Michael Trask in seinem Buch „Camp Sites“: „Camp macht es uns schwer, eine Politik daraus abzuleiten, denn es durchkreuzt den fragwürdigen Schluss […] dass Einstellung gleich Politik ist. Da Camp oft mit einer Einstellung gleichgesetzt wird, die in ihrer eigenen Ohnmacht schwelgt, scheint es allen Anstrengungen zuwiderzulaufen, politische Veränderung mit Bewusstseinsveränderung zu verknüpfen, wie es der radikale Aktivismus so gerne tut.“ Michael Trask, Camp Sites. Sex, Politics, and Academic Style in Postwar America, Stanford 2013, S. 13.
[7]Hier einige neuere Beispiele für Kunstkritik-Poesie-Theorie-Prosa-Memoiren-Melangen: „My 1980s“ (Wayne Koestenbaum), „White Girls“ (Hilton Als), die Neuauflage von „Chelsea Girls“ (Eileen Myles), „Torpor“ (Chris Kraus), „When the Sick Rules the World“ (Dodie Bellamy), „Fuck Seth Price“ (Seth Price), „Titani“ (Cecilia Corrigan), „10:04“ (Ben Lerner), „Natural Subjects“ (Divya Victor), „Rich Texts“ (John Kelsey), „The Quarry: Essays“ (Susan Howe), „Pitch of Poetry“ (Charles Bernstein), „The Life and Death of Psychoanalysis“ (Jamieson Webster), „Sex or the Unbearable“ (Lauren Berlant/Lee Edelman), „Man Alive“ (Thomas Page McBee), „What Would Lynne Tillman Do“ (Lynne Tillman), „Blue Fasa“ (Nathaniel Mackey), „Love Sounds“ (Masha Tupitsyn), „Is it My Body“ (Kim Gordon), „The Light of the World: A Memoir“ (Elizabeth Alexander), „Dear Alain“ (Katy Bohnic), „The Winter the Wolf Came“ (Juliana Spahr), „Black Gay Man“ (Robert Reid-Pharr), „Writing Entanglish“ (Kyoo Lee), „Creative Criticism: An Anthology and Guide“ (Stephen Benson/Claire Connors).
[8]Bieber wird von einem Schauspieler dargestellt.
[9]Merlin Carpenter/John Kelsey/Emily Sundblad, „WELCOME TO THE TATE CAFÉ“, Merlincarpenter.com (gesehen am 14.06.2016).
[10]Maggie Nelson, „The Rumpus Interview with Maggie Nelson“, in: The Rumpus, 6. Mai, 2015 (gesehen am 14.06.2016). http://therumpus.net/2015/05the-rumpus-interview-with-maggie-nelson/
[11]Jacques Derrida, zit. nach Anna Alexander/Mark S. Roberts, High Culture. Reflections on Addiction and Modernity, Albany, NY 2003.
[12]„Seine Autobiographie zu schreiben, sei es, um sich zu bekennen, sei es, um sich zu analysieren, sei es, um sich den Blicken aller […] auszusetzen, das ist vielleicht ein Versuch zu überleben, aber durch einen andauernden Selbstmord.“ Maurice Blanchot, Die Schrift des Desasters. Genozid und Gedächtnis, Paderborn 2005, S. 83.