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Konzeptueller Fehlschlag Fabio Cypriano über die 33. Biennale in São Paulo

Akion des Coletivo Aparelhamento während der Eröffnung der 33. São Paulo Biennale, 2018

Akion des Coletivo Aparelhamento während der Eröffnung der 33. São Paulo Biennale, 2018

Seit 1954 findet die Biennale in dem von Oscar Niemeyer entworfenen Gebäude im Park Ibirapuera (der meistbesuchte Park Lateinamerikas) statt, der damals noch am Stadtrand gelegen war und heute von elitären noblen Wohngebieten umgeben ist. In einem Land ohne starke historische Anbindungen zum zentralen Kreislauf moderner Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Biennale „die große Schule“, die vor allem in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens entscheidenden Einfluss auf das Publikum und die Kunstschaffenden Brasiliens ausübte. Jenseits des europäischen und nordamerikanischen Kunstmarkts diente die Biennale in São Paulo als Experimentierraum, in dem radikale Positionen für ein lateinamerikanisches Publikum sichtbar wurden.

In den letzten zwei Jahrzehnten, insbesondere ab 1998, wurde mit der von Paulo Herkenhoff kuratierten sogenannten Bienal da Antropofagia ein Ort für die Reflexion und Reformulierung des Biennalemodells konzipiert. Weitere gelungene Beispiele hierfür sind die von Lisette Lagnado 2006 kuratierte Biennale „Como viver junto“ („Wie zusammen leben“) und die von Charles Esche konzipierte Ausgabe „Como … coisas que não existem“ („Wie … Dinge, die nicht existieren“) von 2014.

Derzeit findet die 33. Ausgabe in einem gespaltenen Land statt, wovon auch die Kunstwelt betroffen ist. Einerseits stellte sich die Mehrheit der Künstler*innen und Kurator*innen gegen den „Putsch“ zur Entmachtung von Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 mit all seinen Konsequenzen, auf der anderen Seite gibt es Sammler*innen und Galerist*innen, die die konservative Folgeregierung unterstützten und die schnelle Verhaftung des linken Präsidentschaftskandidaten Lula da Silva kurz vor der Endphase des Wahlkampfs kaum anzweifelten. Inmitten dieser Streitigkeiten gelang es nun einem Kandidaten mit stark faschistischen Tendenzen, den Großteil der Bevölkerung von sich zu überzeugen und im ersten Wahldurchlauf fast 50 Prozent der Stimmen zu erhalten.

Dieser Kontext aus Konflikt, Angst, Unsicherheit und Krise wurde bei der 33. Biennale in São Paulo mit ihren fast 100 Künstler*innen und 600 Werken praktisch ignoriert.

Seit zwölf Jahren reinigt die Putzhilfe Rosângela Silveira Jerônimo die Männertoiletten des Biennalegebäudes, aber noch nie hat sie es gewagt, sich die Ausstellung anzuschauen. „Ich hätte mich dabei nicht wohlgefühlt“, erzählt sie dem Künstler Bruno Moreschi, der sie zur Teilnahme an seinem Projekt Outra 33ª. Bienal de São Paulo“ eingeladen hatte, einem alternativen Audioguide mit mehreren Stimmen“. Für diesen spricht Jerônimo über ein im Pavillon ausgestelltes Gemälde von Vânia Mignone, auf dem ein Brunnen zu sehen ist. Ich identifizierte mich mit dem Bild wegen meiner Kindheit, ohne Scham kann ich heute sagen, ich stamme aus der Favela; ich hatte kein Wasser, keine sanitären Einrichtungen, lediglich einen Brunnen“, erinnert sich Rosângela Silveira Jerônimo.

Von den vielen Arbeiten der Biennale nehmen leider die wenigsten direkten Bezug auf die aktuelle politische und soziale Lage in Brasilien, so wie diese es versucht. Nicht ohne Grund heißt ein weiterer Teil des virtuellen Projekts des Künstlers „Golpe“ [„Putsch“, Anm. d. Ü.].

In „Golpe“ geht Moreschi davon aus, dass „in Brasilien ein Staatsstreich im Gange ist“. „Offiziell begann der Prozess am 2. Dezember 2015“, so der Künstler, „als der damalige Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, eine Anzeige wegen Korruptionsverdacht akzeptierte, was mit der Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff endete, die wiederum zuvor mit 54 Millionen Stimmen demokratisch gewählt worden war.“

In diesem Teil des Projekts werden alle Aktionen gegen den Putsch während der Biennale dokumentiert, wie beispielsweise die „Lulaço“, eine Aktion, die von vier Kollektiven brasilianischer Künstler*innen (Sexta Valente, Cólera e Alegría, Aparelhamento und Jararaca) am Eröffnungstag organisiert wurde. So zeigt Moreschi auf der Website ein Video des Kollektivs Jornalistas Livres und Bilder des Kollektivs Aparelhamento, die für Lulas Freiheit plädieren. Damit steht diese Arbeit leider komplett isoliert neben den übrigen Exponaten der von dem in den USA lebenden Spanier Gabriel Pérez-Barreiro kuratierten Ausstellung.

Unter dem Titel „Afinidades Afetivas“ (frei übersetzt Spontanverwandtschaften“) − ein Verweis auf Goethes „Die Wahlverwandtschaften“ von 1809 und auf das Werk des Kritikers Mário Pedrosa von 1949, „Da natureza afetiva da forma na obra de arte“ [Über den affektiven Formencharakter des Kunstwerks, Anm. d. Ü.] − wäre diese Biennale allerdings zehn Jahre zuvor richtig und erforderlich gewesen.

Bereits im Jahre 2007 nutzte Pérez-Barreiro für die 6. Mercosur Biennale Literaturverweise als kuratorischen Ankerpunkt (in jenem Fall war es ein Zitat des brasilianischen Schriftstellers João Guimarães Rosa). Schon damals präsentierte er drei monografische Ausstellungen von Künstler*innen und eine Sektion namens „Conversas“, für die er neun Künstler*innen, u. a. Waltércio Caldas, dazu einlud, Ausstellungen zu organisieren, in denen sie wiederum selbst drei weitere Künstler*innen präsentierten. Zusätzlich zu diesen „Conversas“ realisierte Perez-Barreiro Auftragsarbeiten an der Grenze von Brasilien, Paraguay und Argentinien und lud drei weitere Kuratoren zu kleineren Ausstellungen ein – kurzum, das Projekt war gelungen komplex.

Rosângela Silveira Jerônimo neben Vânia Mignones Arbeiten

Rosângela Silveira Jerônimo neben Vânia Mignones Arbeiten

In São Paulo vereinfachte Pérez-Barreiro die Gleichung und wählte zwölf Künstler*innen für monografische Positionen und sieben Künstler*innen, die weitere Ausstellungen kuratieren sollten, um ein Modell gegen „die Krise der Biennalen“ zu schaffen – diese „Krise“ mag allerdings anzweifeln, wer die Berlin oder Istanbul Biennale, die Manifesta oder auch die Documenta in den letzten Jahre gesehen hat. Hier ließ sich auf teilweise eindrucksvolle Art erleben, wie poetische Interventionen in den Städten und kontextbasierte Arbeiten bedacht realisiert wurden. Auch kann man diese „Krise“ kaum auf die São Paulo Biennale beziehen, da hier in den letzten Jahren durchaus bereits kuratorisch gezeigt wurde, inwiefern mit der Krisensituation des Landes künstlerisch umgegangen wird.

Es gilt daher, die Rhetorik dieser 33. Ausgabe zu überprüfen, zumal vor dem Hintergrund ihrer vagen und schwachen Erscheinung, ohne jeglichen Kontextbezug und ohne jegliche Relevanz. Diese Biennale kommt absolut zeit- und ortsunbezogen daher, wie eines jener schnellen Konsumgüter, ob Limonade oder Zara-Klamotte.

Besonders die kuratorische Sektion Alvaro Razuks ist enttäuschend. Fast entsteht der Eindruck, als sei hier der Wunsch gewesen, die Kunst zu verbergen. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Präsentation der Arbeiten von Lucia Nogueira (1950–1998): Die gebürtige Brasilianerin, in ihrem Heimatland praktisch unbekannt, ist Autorin eines radikalen Œuvres, in dem sie die traditionellen Institutionsförderungen hinterfragt; hier allerdings wird ihr Werk eingeschlossen in kleine Käfige präsentiert und lässt so keinerlei Annäherung durch Besucher*innen zu. Auch ihre Arbeit „Step“ (1995), bestehend aus einem Teppich und zerbrochenem Glas, wird in konservativster Museologie gezeigt. Die Retrospektive mit fast 20 Werken endet so als verpasste Gelegenheit, die Poesie der Künstlerin in all ihren Facetten zu zeigen.

Ein weiterer wichtiger Künstler, dessen Auftritt als nicht gelungen zu bewerten ist, ist der guatemaltekische Aníbal López (1964−2014) oder auch A-1 53167 nach seiner Ausweisnummer genannt, eine emblematische Figur in der Karibik und wichtiger Performancekünstler. Seine Arbeiten, die sich unter anderem mit Gewalt, Vorurteilen und indigenem Genozid beschäftigen, verlieren im White Cube, zwischen raffinierten Rahmen und hinter Glas, vollkommen an Kraft.

Es bleibt die Frage, warum der Kurator lediglich bereits verstorbene Künstler*innen ausgewählt hat und keine lebenden, die sich unter Umständen radikalen Zeitfragen zugewandt hätten. Auch die Relevanz von Künstler*innen wie die der Brasilianer*innen Siron Franco und Denise Milan lässt sich in einem kuratorischen Konzept für eine Biennale des 21. Jahrhunderts weder formal noch konzeptuell rechtfertigen.

In der Tat verweist hier alles zurück auf die 1980er Jahre, als die Malerei und der Kunstmarkt, nach Jahrzehnten ihrer konzeptuellen Hinterfragung, wieder an Macht gewannen. Es ist die gleiche Tendenz, die heutzutage allgemein zu spüren ist: weniger Radikalität, mehr Konformität. Das Ensemble gleicht einem Museum mehrerer Ausstellungen ohne Dialog.

Darüber hinaus konnten auch die sieben weiteren Kurator*innen/Künstler*innen dem Biennale Konzept nichts Neues hinzufügen. Im Gegenteil, man befindet sich hier in einer Übung in Selbstbezogenheit, in der die eigenen Arbeiten den größten Stellenwert einnehmen und alle anderen Künstler*innen bewusst in den Schatten stellen. So leidet etwa Borges’ Raumkonzeption unter ihrer übertriebenen dramatischen Szenografie.

Im Audioguide endet die Rede der Reinigungskraft Rosângela Silveira Jerônimo optimistisch: „Sie können mit mir auch in der nächsten Biennale rechnen, denn von nun an bleibe ich mit der Kunst verbunden.“ Ihre Einbindung in dieses Ereignis hätte eigentlich von der Institution organisiert werden müssen, die in der Regel einen großen Teil ihres Budgets in den pädagogischen Dienst investiert. Nun gilt es sicherzustellen, dass die Biennale im übernächsten Jahr wieder an Relevanz für die Stadt zurückgewinnt, die sie, gerade in der heutigen politischen Lage und in naher Zukunft, bitter nötig hat.

Übersetzung: Nadja Abt

„33. Bienal de São Paulo: Afinidades Afetivas“, São Paulo, 7. September bis 9. Dezember 2018.