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Vorwort

Ein Heft zum Thema Algorithmus in Zeiten der Pandemie zu realisieren, gleicht einem performativen Akt. Je unsicherer die Eindämmung des Virus ist, desto berechenbarer und steuerbarer muss unser Verhalten sein, um diese Eindämmung zu garantieren. Da Vorhersagbarkeit und Regulierung aber wesentliche Merkmale von Algorithmen im informationstechnischen wie sozialen Sinne sind und unser Leben dadurch bestimmen, dass sie Komplexität reduzieren und somit Problemlösungen antizipieren (etwa im Straßenverkehr, im Handel oder in der Kommunikation), bestätigt sich der Einfluss von Algorithmen umso mehr unter den Corona-induzierten Produktionsbedingungen des vorliegenden Hefts. So begeben wir uns dieser Tage auf virtuelle Streifzüge durch Galerien und Ausstellungsräume, erledigen unsere Einkäufe (erstmals, erst recht oder nun gerade nicht) im Internet und lassen unser Raumvolumen an den Eingangstüren der Supermärkte schätzen. Auch weiten wir die Rechenvorgänge und Datenspuren, die die obligatorische Selbst-Quarantäne der Recherche und des Schreibens mit sich bringt, auf soziale Praktiken aus, denen wir sonst im Kino, Theater, Museum oder Club nachgehen würden. All dies tun wir unter der Voraussetzung, dass unser Handeln damit (noch) kontrollier- und vorhersehbarer wird. Spielt Sozialität sich zudem in vermehrt digitalen, weniger von Unvorhersehbarkeit und Unschärfen geprägten Indoor-Öffentlichkeiten ab, wie dies zur Zeit der Fall ist, ähneln auch unsere Wahlmöglichkeiten und Erfahrungen immer mehr jenen Zeichenketten, mit denen Onlineshops auf die Vielfalt ihres Warenangebots verweisen: „Dieser Artikel könnte Sie auch interessieren“/„You might also like“.

Dabei ist der Zusammenhang, den Algorithmen beschreiben, ein grundlegend ambivalenter. Einerseits sind mit Algorithmen bestimmte Versprechen verbunden – sei es die Hoffnung auf Monetarisierung durch Sichtbarkeit in Social Media oder die demokratischen Anteile an der Idee des prosuming, wonach Mediennutzer*innen immer auch potenzielle Autor*innen sind. Andererseits stellen Algorithmen Herrschaftsverhältnisse nicht nur dar, sondern bringen sie auch mit hervor, wie die rassialisierte Segregation durch Suchmaschinen oder binär gegenderte Benutzer*innenoberflächen zeigen. Das Kunstfeld ist an diesen Ambivalenzen unmittelbar beteiligt. Beispielsweise greifen soziale Netzwerke auf genuin künstlerisches Wissen um performative Wirkung zurück, gleichzeitig werden künstlerische Strategien und Praktiken durch Online-Inszenierungen des Selbst massenhaft. Welche dieser Inszenierungen wie erfolgreich sein werden, ob und warum eine Ausstellung zum Beispiel auf Contemporary Art Daily Erwähnung findet und wie hoch das hieraus abschöpfbare (symbolische wie ökonomische) Kapital ist, entscheidet sich ohnehin andernorts: auf den Märkten der Kunst ebenso wie auf dem Schulhof der eigenen Blase, der damit einem sozialen Algorithmus gleicht.

Wenn Künstler*innen unter diesen Bedingungen als prototypische Informationsarbeiter*innen bezeichnet werden können, hat dies nicht zuletzt ökonomische Gründe. Chris Reitz stellt in seinem Beitrag die These auf, dass der Boom sogenannter erfahrungsbasierter Kunst auf die Tatsache zurückgeht, dass Daten und Informationen zu den zentralen Ressourcen der mit der Weltwirtschaftskrise der späten 2000er Jahre aufgewachsenen Generation gehören. Darüber hinaus lasse die Gig Economy speziell Kunstkurator*innen zu Manager*innen möglichst ,intensiver‘ und ,eigensinniger‘ Erfahrungen werden, wobei hier die Anhäufung und Auswertung von Daten höhere Kennzahlen zu erzielen versprechen: mehr Besucher*innen bei gleichzeitig steigender Attraktivität der betreffenden Kunstinstitution für Sponsoren. Die daraus resultierende Standardisierung durch Kapitalisierung stellt jedoch, wie Katharina Hausladen argumentiert, nicht nur ein ökonomisches Muster dar, sondern ist immer auch Ausdruck eines ganz bestimmten gesellschaftlichen Konsenses. Ob cloudbasierte Sprachassistenten oder Polygrafentests für Migrant*innen – die Asymmetrien, die Daten hervorrufen, sind weniger technologischen denn gesellschaftlichen Ursprungs.

Zu einem ähnlichen Befund kommt auch ­Simon Rothöhler in seiner Kritik der Algorithmenkritik. Gegen den Mythos digitaler Ontologien zeigt er an rezenten künstlerischen wie informationstechnischen Beispielen auf, dass eine kritische Datensatzforensik nottut, um die im Kategoriennetz des jeweiligen Datenmaterials enthaltenen Vorurteilsstrukturen als soziale, ästhetische, politische wie ökonomische Unterscheidungen kenntlich zu machen. Inwiefern solche Unterscheidungen in der Modebranche eine große Rolle gerade für nachhaltige und faire Produktionsweisen spielen und damit Kaufentscheidungen unmittelbar beeinflussen, führt uns Jessica Graves im Interview vor Augen. Als Programmiererin und Beraterin für die Fashionindustrie gibt Graves uns Einblicke in Prozesse wie den Einsatz von Künstlicher Intelligenz für computergestütztes Design und kritisiert Verzerrungseffekte, die der Markt produziert, wenn Algorithmen nicht auf Real-World-Data angewendet werden.

Weniger als Ausdruck der Verzerrung denn als einen solchen der Rückkopplung versteht Anke Dyes die Feedbackfunktionen von Medienanbietern und Verkaufsplattformen im Internet, die eine Individualisierung neoliberaler Kontrolle und daher eine Art Dialektik der Aufklärung von Kund*innen über ihre eigenen Datensätze implizieren. Besonders deutlich tritt diese Dialektik, so Dyes, im Blick auf die Logik des Coming-out hervor: Das Geoutet-Werden als Kundin droht dem Coming-out als queeres Subjekt durch Wiedereinführung von zu gestehenden Eigentlichkeiten die mühsam errungene Freiheit zur Veruneindeutigung zu nehmen und die eigene Wirkmächtigkeit auf Konsumentscheidungen zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund kann Lauren Lee McCarthys Vision einer buchstäblichen Ich-Werdung von technischen Apparaturen wie Zoom oder Alexa als feministische Appropriation patriarchal codierter Kontrollmechanismen gelesen werden: App werden, Algorithmus werden und auf diese Weise in das Leben fremder Menschen eindringen. Gleichermaßen abwegig wie verführerisch mutet dieses Szenario angesichts der aktuellen Situation an, in der wir einander nur mehr als Bedrohung wahrzunehmen scheinen.

Wenn der Einfluss von Algorithmen in diesem Heft entlang von sozialen Unterschieden analysiert und diskutiert wird, sind es folglich sehr unterschiedliche ästhetische Praktiken, die hier jeweils untersucht werden, um diese Unterschiede zu benennen. So wenig wie diese Praktiken dabei aber auf eine als High Art verstandene Kunst reduziert bleiben, so sehr machen alle der hier versammelten Beiträge deutlich, dass Gesellschaft in den Zahlen, Bildern und Begriffen, die von ihr kursieren, niemals gefangen bleibt.

Nadja Abt und Katharina Hausladen