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Noit Banai and Sabeth Buchmann

KINO MIT / IN GESCHICHTE Techniken des Affekts, Strategien der Medialität und Prozesse multidirektionaler Erinnerung in der Gegenwartskunst

Keren Cytter, „Fashions“, 2019, Videostill

Keren Cytter, „Fashions“, 2019, Videostill

Multidirektionale Erinnerung ist dem Historiker Michael Rothberg zufolge ein affektiver Prozess kollektiver Erinnerung jenseits solitärer Eigentümer*innenschaft. Mehrdeutige und empathische Perspektiven auf Täter*innen-Opfer-Beziehungen treten hier an die Stelle hegemonialer Stellungskriege. Die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust stellt sich somit auch als eine Frage nach der Vorstellbarkeit alternativer Erzählungen von ihm: nach dem Unwahrscheinlichen, dem Imaginativen, das dem Nicht-Dargestellten nachträglich eine Möglichkeit einräumt. Am Beispiel der filmischen Arbeiten von Dani Gal, Keren Cytter und Roee Rosen legen die beiden Kunsthistorikerinnen Noit Banai und Sabeth Buchmann dar, inwiefern solidarische Verbindungen unterschiedlicher Trauma- und Erinnerungsformen Überschneidungen zwischen verschiedenen Historien notwendig machen.

I.

Die im vorliegenden Essay betrachteten künstlerischen Auseinandersetzungen mit historischen und gegenwärtigen Antisemitismen verweisen auf kinematische Modi der Wahrnehmung, die mit der Shoa assoziierte Erinnerungsästhetiken an rezeptionsästhetisch erweiterte Bedingungen und Möglichkeiten der Teilhabe knüpfen. Damit rufen sie jene Zäsur wach, die Adornos 1949 formuliertes, bis heute höchst kontrovers diskutiertes Verdikt, dass „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, […] barbarisch [sei]“ [1] , für moderne Ästhetikdiskurse darstellt. Die zwei Jahre später in seinem 1951 erschienenen Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ geforderte Neubewertung der Poesie war jedoch kein Plädoyer für ihre Abschaffung, sondern betraf vielmehr in einem grundlegenden Sinn jegliche (Ge-)Denkform, das heißt „auch die Erkenntnis […], die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute [nach Auschwitz] Gedichte zu schreiben“ [2] . Vor diesem Hintergrund sind unsere Betrachtungen exemplarischer Werke von der Annahme eines Bewusstseins um die Notwendigkeit geleitet, die Voraussetzungen für kommemorative Erkenntnisformen im Rahmen ‚autonomer‘ Kunstgenres zu befragen – eine Befragung, die sich bezeichnenderweise oftmals des kinematischen Nexus‘ aus dokumentiertem Zeugnis und fiktionaler Narration bedient, der das Opake, Determinierte, Begrenzte moderner Epistemologien und Ästhetiken exponiert.

Als ein in dieser Hinsicht hoch emblematisches Beispiel für die Bedeutung, die der ästhetischen Theorie für die seither entweder negierte oder aber wie etwa von Georges Didi-Huberman als konstitutiv erachtete Vorstellbarkeit [3] von Auschwitz zukommt, ist Alain Resnais’ Dokumentarfilm Night and Fog (Nuit et brouillard) [4] . 1956, also sieben Jahre nach Adornos Diktum (gegen deutschen Widerstand) erschienen, stellt der Film eine bis heute wirksame kinematografische Urszene dar: nicht nur bezüglich der Frage, ob die Barbarei des Holocaust den Wertekanon moderner Kunst schlechthin infrage stellt, sondern auch, ob und in welcher Form die an jüdischen resp. an als nicht arisch geltenden Menschen begangenen Verbrechen zumindest als didaktisches Dokument darstellbar seien. Diese Debatte setzte sich nicht zuletzt in Reaktion auf Didi-Hubermans 2007 erschienenes Buch Bilder trotz allem fort, in dem von Mitgliedern des Sonderkommandos im KZ Auschwitz-Birkenau gemachte Aufnahmen [5] von Hinrichtungen mit dem Anspruch analysiert werden, diese weder allein als „Ikonen des Entsetzens“ [6] noch als bloße visuelle Informationen [7] , sondern als in Bildern manifestierte „Handlungen“ zu betrachten. [8] Bekanntlich stellt Didi-Hubermans Buch in den Augen seiner Kritiker*innen eine Ästhetisierung und Fetischisierung jener Bilder des Grauens dar, die z. B. Claude Lanzmanns mehrteilige Dokumentation Shoah (1985) als Ausdruck einer „Logik der Beweisführung“ [9] verweigerte.

Demgegenüber stehen Positionen wie jene Marie-José Mondzains, deren Essay „The Shoah as the Question of Cinema“ (2010) in einer rezeptionsästhetisch verstandenen „Ethik der Passion“ Antworten auf die in die Kinobilder eingeschriebenen Grausamkeiten des Holocaust erkennt. [10] Ähnlich wie bei Mondzain hat ihre anhaltende Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen dem Bild und unserer zeitgenössischen „posttraumatischen Kultur“ Griselda Pollock dazu veranlasst, verschiedene visuelle Artefakte im Rahmen eines psychoanalytischen Ansatzes zu hinterfragen. Für Pollock umfasst diese Bezeichnung eine große Bandbreite künstlerischer Praktiken in einer Post-Holocaust-Welt, die gleichzeitig durch ihre reiche Bildproduktion und die Verhandlung diverser historischer Ereignisse (wie Siedlerkolonialismus, irische Hungersnot, ruandischer Genozid, 9/11) gekennzeichnet ist. Im Besonderen behauptet sie, dass die mit verschiedenen Spielarten der Psychoanalyse assoziierten Affekttheorien sich in Bezug auf historische Hinterlassenschaften politischer Gewalt, wirtschaftlicher Enteignung, Sklaverei und Kolonisierung als transformative politische Instrumente nutzen ließen und dass das Ästhetische uns dabei helfen kann, Zugang zum Trauma als das zu gewinnen, „was jenseits des fassbaren Wissens liegt“ [11] . Im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit Max Silverman dehnt Pollock ihre Analyse noch pointierter auf eine neue Form des concentrationary cinema aus, eine typisch europäische filmische Darstellungsform, die zwischen 1945 und 1955 in Erscheinung trat und die über die unheimliche Fähigkeit verfügt, ein concentrationary system sichtbar zu machen, das sich auf das Dritte Reich und den Nationalsozialismus gründet. [12] Für Pollock und Silverman ist das concentrationary system sowohl ein historisches als auch ein konzeptionelles Instrument: Es „bezieht sich auf einen spezifischen Raum und auf die Probleme, die sowohl mit der Darstellbarkeit dieses Raums und mit der Lesbarkeit der Bilder zusammenhängen, die als ihre Beglaubigung und Archivierung geschaffen werden, als auch mit einem System, das in einer historisch spezifischen Zeit und in einem historisch spezifischen Raum in Szene gesetzt wird, aber nicht mit diesem Moment allein identisch ist“ [13] . Ohne sich explizit der Sprache der Psychoanalyse zu bedienen, heben sie doch die radikalen Verfahren des Kinos hervor (wie Desorientierung und kontrapunktischer Kommentar), die über die Macht verfügen, „unsichtbares Wissen preiszugeben, das durch eine normalisierte, dokumentarische Präsentation eines Realen verborgen ist, das fade und opak werden könnte, sofern es nicht durch verstörende Gegenüberstellungen und anhaltende visuelle Aufmerksamkeit in Aufregung versetzt wird“ [14] . In dieser Form des concentrationary cinema verorten sie eine neue Politik der Darstellung.

Die hier nur grob skizzierten Konzepte stellen programmatische Leitmotive von künstlerisch-filmischen Produktionen im Kontext der Gegenwartskunst dar: Wie zu zeigen sein wird, liegt ihre Gemeinsamkeit in einer Verschiebung des mit Adornos Diktum assoziierten Problems der Produktion auf den Vorgang der Rezeption, wobei sich im Shoah-Kino gründende Ethiken der Empathie mit zeitgenössischen Rhetoriken der agency und des Affekts verbinden – Rhetoriken, die von einem durch intersektionale und postkoloniale Perspektiven geprägten Diskursklima zeugen, in dem bei aller historisch-theoretischen Differenz Adornos Zweifel an Erkenntnis als Grundlage ästhetischer Produktion fortzuleben scheint.

Roee Rosen, „Hilarious“ 2010, Videostill

Roee Rosen, „Hilarious“ 2010, Videostill

II.

In seiner Filmtrilogie Night and Fog (2011), As from Afar (2013) und White City (2018) imaginiert Dani Gal, was in den zentralen „blinden Flecken“ der Geschichte hätte passieren können, und schlägt vor, dass deren ästhetische Artikulation zu einem „komparativen Imaginieren“ führen könne, das die Grundlage dessen ist, was der Historiker Michael Rothberg als „multidirektionales Erinnern“ bezeichnet hat. [15] Dieses interkulturelle Modell tritt öffentlichen Artikulationen kollektiver Erinnerung entgegen, die auf einem bereits etablierten öffentlichen Raum und einem kompetitiven oder „Nullsummenspiel um eine Vormachtstellung“ basieren. [16] Als ein affektiver Prozess der Erinnerung, der sich von einzigartiger Eigentümerschaft weg- und auf einen transversalen, kollektiven Prozess zubewegt, „… ist multidirektionales Erinnern Gegenstand eines laufenden Verhandelns, Querverweisens und Entlehnens: also produktiv und nicht privat“. [17] Da dieser Gegenstand durch dialogische Interaktionen zwischen verschiedenen Zeiten und Orten entsteht, die häufig auf imaginative und kreative Weise miteinander verbunden sind, bleibt er stets offen für eine Umstrukturierung. In der Trilogie verleiht Gal unwahrscheinlichen historischen Episoden, die die Grundlage für die Produktion multidirektionalen Erinnerns geworden sind, Gestalt. Hierzu zählen Adolf Eichmanns Einäscherung und das Verstreuen seiner Asche im Meer, eine Begegnung des Holocaustüberlebenden und Nazijägers Simon Wiesenthal mit dem Naziarchitekten Albert Speer sowie ein Gespräch zwischen dem deutschen Eugeniker Hans F. K. Günther und dem Zionistenführer, Soziologen und Gründer der jüdischen Siedlungsbewegung Arthur Ruppin. In diesen Konstellationen legt Gal eine reziproke Beziehung nahe, die Verbindungen zwischen dem strukturellen und affektiven Vermächtnis, palästinensischen Gedenktraditionen rund um die Nakba und vergleichbaren historischen Traumata und Tragödien, deren Erinnerungen die Gegenwart durchziehen, herstellen.

Auffällig ist hierbei Gals Interesse an mehrdeutigen Perspektiven auf Täter-Opfer-Beziehungen. So sind beispielsweise in der ersten Szene von Night and Fog [18] Darsteller zu sehen, die mit der Beseitigung von Eichmanns Asche beauftragte israelische Polizeibeamten vor einem Krematoriumsofen mimen – eine Szene, die an Jean-Luc Godards nicht unproblematische Behauptung erinnert, die Täter*innenperspektive sei Bedingung für den „einzige[n] wahre[n]“, aber „niemals gedreht[en], weil nicht tolerierbaren Film über die Konzentrationslager“ [19] . Gals Film lässt uns genau diese undarstellbare Perspektive imaginieren, dabei allerdings von der Warte israelischer Polizeibeamter, deren Aufgabe es ist, Eichmanns Asche zu beseitigen. Durch die angeschrägte Obersicht zu Beginn seines Films, die jener der Wachtürme der Lagerkommandanten entspricht, erscheint diese zwar als Pendant der panoptischen Perspektive, deren fragmentarischer Charakter in einer späteren, horizontalen Kameraeinstellung derselben Szene zutage tritt. Aus der Weise, in der Gal uns gleichsam die Täterperspektive auf die dargestellte Szene einnehmen lässt, spricht indes keine revisionistische Relativierung, sondern die Ersetzung konventionalisierter Täter-Opfer-Beziehungen durch eine Positionierung ihrer Blicke und der ihnen zugeschriebenen Erinnerungen. Die von Gal vorgenommene Perspektivverschiebung erfolgt auf Basis der bis 2011 undokumentierten, nur durch Michael Goldman, einem Holocaustüberlebenden und ehemaligen israelischen Polizeibeamten, bezeugten Beseitigung von Eichmanns Asche. Das szenografische enactment historischer, der Öffentlichkeit unbekannter Ereignisse der von Goldman erinnerten Nacht- und Nebelaktion, mit der die damalige israelische Regierung unter Ben Gurion versuchte, sich der sterblichen Überreste eines der übelsten „Verbrecher an der Menschheit“ (Hannah Arendt) zu entledigen, erinnert an Arendts Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen (1964): Demzufolge tagte das Gericht in einem Theater. [20] Laut Arendt war es der erklärte Wunsch des damaligen (und ersten) israelischen Staatspräsidenten, die Öffentlichkeit somit zu Zeug*innen eines historischen Ereignisses zu machen, bei dem erstmals den Opfern die Gelegenheit zur Zeug*innenaussage gegeben wurde. Wie der Vorspann von Gals Film nahelegt, verfügten die zuständigen Richter, die von Resnais gemachten Aufnahmen in den Lagern und die verwendeten Dokumente der britischen Armee ohne Ton – das heißt ohne Jean Cayrols Kommentar, dafür mit den Aussagen der aufgerufenen Zeug*innen – auf die Rückwand des Gerichtssaals zu projizieren. Nacht und Nebel erschien so als Stummfilm und die Zeugnisse der Opfer als eingesprochene Voiceover. [21]

Die Verschränkung von Gerichts-, Theater- und Kinosaal, mithin von Dispositiven des Zeugnisses und der Fiktion, erweist sich in Gals Reenactment demzufolge als eine durch die ‚nachgestellte‘ Täter*innenperspektive ermöglichte Bedingung empathischer, dabei kinematisch gebrochener Erinnerung an das Nicht-Dargestellte. Gals Reenactment impliziert also eine mehrfache, weil gerichtlich dokumentierte, bildliche und orale Zeugnisse überblendende Perspektive. Dies entspricht der laut Godard unüberwindlichen Unmöglichkeit, die Täter*innenper­spektive darzustellen – eine Unmöglichkeit, die Gal mit der Erinnerung Goldmanns als eines ihrer ehemaligen Opfer konfrontiert: Begründet sich laut Godard die Nicht-Repräsentierbarkeit der Täter*innenperspektive in dem von den Naziverbrecher*innen erlassenen Verbot, den Lageralltag, mithin die bürokratisch-industrielle Ermordung von Opfern und die Entmaterialisierung ihrer Leichen, zu dokumentieren, wird diese strukturell unmögliche Perspektive in Gals Film bezeichnenderweise durch ein der kollektiven Erinnerung unzugängliches Zeugnis eines Holocaustüberlebenden am Beispiel von „Eichmanns Auschwitz“ (Gal) vorstellbar, das von der Beseitigung der in einer Milchkanne transportierten Asche Eichmanns jenseits der israelischen Mittelmeergrenzen handelt.

Die Weise, in der Gal die stumme Bootsfahrt bei Nacht und Nebel ins Bild setzt, taucht das Meer in schwarzes Licht und ruft so jenen mit Paul Celans Todesfuge (1944/48) assoziierten, auf das mörderische Grauen in den Konzentrationslagern gemünzten Topos der „Schwarzen Milch“ in Erinnerung. Das Motiv der Milchkanne exponiert dabei auch das Behältnis, in dem sich vermutlich jener Fotoapparat befand, mit dem verbotenerweise die von Didi-Huberman analysierten Bilder aus Auschwitz-Birkenau aufgenommen wurden. Zudem verweist die Kanne auf ein berühmtes Archiv über das Warschauer Ghetto, das von einer von dem jüdischen Historiker Emanuel Ringelblum geleiteten Gruppe mit dem Codenamen Oyneg Shabbes angelegt und in Milchkannen versteckt wurde.

Das Motiv der Milchkanne als multidirektionaler Bedeutungsträger konfrontiert zum einen den notorisch unterbewerteten jüdischen Widerstand. Zum anderen tritt hierin ein der offiziellen Erinnerung entzogenes ‚Monument‘ zutage, das einst als Urne diente und in das kinematische Gedächtnis als ein Requisit eingeht, das den Aufmerksamkeitsfokus von Eichmann in seiner (nicht nur durch Arendts Bericht) unsterblich gemachten Hauptrolle auf die erstmals durch Nacht und Nebel zu Gehör gebrachten ‚Nebendarsteller*innen‘ verschiebt: etwa die für einen kurzen Moment ins Bild geratenden palästinensischen Fischer, die zu zufälligen Zeugen der Nacht- und Nebelaktion avancieren und die auf die arabisch-jüdische Konstitution Israels rekurrieren. Dem Konzept der (com-)passion entspricht eine dialogische Montage, die in Differenz zu entweder identifikatorischen oder provokativen Rhetoriken eine multiperspektivische Erweiterung von Darstellungskonflikten durch Konfrontation divergierender Wahrnehmungen betreibt.

Keren Cytter, „Fashions“, 2019, Videostill

Keren Cytter, „Fashions“, 2019, Videostill

III.

Auch in Keren Cytters für die Ausstellung „Tell me about yesterday tomorrow“ [22] im NS-Dokumentationszentrum München produziertem Film Fashions (2019) treffen inkompatible, zugleich inhärent zusammenhängende Wahrnehmungsmodi aufeinander, hier indes mit Rekurs auf eine zwischen moralischen Ansprüchen und politischer Agonie zerrissenen Gegenwartsbewältigung. Wie schon French Film (2003) oder The Victim (2004) zeichnet sich auch Fashions durch eine metanarrative Verwebung von reproduziertem Skript, performativem enactment und medialer Repräsentation aus, die Cytter einmal mehr in der Sphäre des Privaten und Intimen verortet. Genauer: in einem von sozialen und erotischen Affekten durchdrungenen Raum, der zugleich als Resonanzmedium fragmentierter, durch Fernsehen, Instagram und Handy verbundener Außenwelten dient. Das von obsessivem Aktionismus, apathischer Teilhabe und abrupten Stimmungswechseln ausgefüllte Zusammenleben von weißem Coming-of-age-Girl, umtriebiger Mutter und stoischer Großmutter erscheint wie eine weibliche Ödipuskomplex-Variante, dem die durch die alte Frau verkörperte ‚Vergangenheit‘ zum Opfer fällt. Zwischen mal erregt, mal beiläufig konsumierten TV-Shows und Newsfeeds verharrend, besteht der von uns, den Zuschauer*innen, geteilte ‚Inhalt‘ im mehr oder weniger systemischen Konsum von Horrorbildern: etwa in Gestalt von Berichten über die Fleischindustrie, über chinesische Häftlinge, die als Humanressource für internationalen Organhandel dienen, oder in Form eines TV-Interviews mit Ramsan Achmadowitsch Kadyrov, dem tschetschenischen Präsidenten, in dem er seine Homophobie mit antisemitismuskompatiblen Argumenten zum Besten gibt („Schwule verseuchen das Volk“). Von diversen Plattformen appropriiert, beinhalten die Bild-in-Bild-Montagen eine Verschiebung jenes von Pollock/Silverman sogenannten concentrationary cinema in die Aufmerksamkeits- und Affektökonomie ihrer Rezipient*innen. Als solche stellen die disruptiven Bildmontagen Verbindungen und Unterbrechungen zwischen den Perspektiven der Bilder und der Blicke, mithin zwischen „Sehen und Wissen“ (Siegfried Kracauer) her. Den Essayfilmen Chantal Akermans und Yvonne Rainers vergleichbar, nehmen wir die Darstellerinnen als archetypische, durch identitäts-, milieu- und generationenspezifische Interessen und Affekte geformte, zugleich ihre Lifestyles (Ernährung, Outfit, Tierschutz, Sex, Beziehungen etc.) sezierende und verfremdende Charaktere wahr. So sehr sie sich über ihre moralischen Überzeugungen definieren, so wenig verbinden sich diese zu einer geteilten gesellschaftlichen Realität. Während die Mutter, eine auf Fisch- und Fleischgerichte spezialisierte Kantinenköchin, Falun-Gong-Anhängerin ist, ist die Tochter Vegetarierin und scheint in repetitiv aufgerufenen Schlachthausbildern negative Befriedigung zu finden. Zugleich treten in Cytters Mashup aus narrativem Genre, TV-Coaching und Performancevideo soziale Segregationsmechanismen zutage, wie etwa in den von Tochter und Mutter unternommenen Versuchen, die ihnen lästig gewordene Großmutter loszuwerden. So zeigt die erste Einstellung einen markigen, „Daniel Plum“ genannten Body-Performer, der in seiner Morning Exercise Show Anweisungen an Zuschauer*innen gibt: „look at my face“, „now turn your face“ etc. Der freundliche Gestus, mit dem Plum den Bizeps durchexerziert und den Hals einer gecasteten Teilnehmerin mit eisernem Würgegriff umfasst, kippt sodann in ein bedrohliches Szenario, das sich gegen Ende des Films, als er den Griff an der gecasteten Großmutter wiederholt, als buchstäbliche Vergangenheitsverdrängungsmaßnahme erweist.

So plakativ Cytters Entertainmentfake daherkommt, so rekursiv erweist sich dessen Form, etwa durch die semantische Umprogrammierung der Handlungsanweisungen und Gebrauchsanleitungen (im Fall der Mutter in Gestalt obsessiver Kochrezeptsammlungen) in biopolitisch codierte Lebens-, Sexual- und Todestriebe. Insofern wir den Protagonistinnen dabei zusehen, wie sie sich fortwährend durch immer neues Footage erregen und/oder beruhigen, erfahren wir sie in einer prosumistischen Mischung aus „acting and being acted upon“ [23] . Die vorgeführten Darstellungs- und Sprechakte erscheinen dabei ebenso ambivalent wie Plums Körperübungen, nämlich als ein graduelles Oszillieren zwischen Handlungsermächtigung und Machtausübung, das jeden Moment in Gewalt umzuschlagen droht. Harte Schnitte zwischen Bildern und Blicken, Dialogen und Handlungen erscheinen wie disparate Plug-ins von inter- und externalisierten Wahrnehmungsperspektiven. Bezeichnend hierfür ist das an zwei Stellen auftauchende Swastika-Symbol – einmal auf einer von der Mutter nach Hause gebrachten Werbebroschüre der von der chinesischen Regierung unterdrückten Falun-Gong-Sekte, ein zweites Mal auf dem Jackenrücken des von der jungen Frau mit erfolgloser Unterwäscheerotik angebaggerten Nachbarn, dem sie ihre „passion“ gesteht. „It’s just fashion“ lautet seine Antwort auf ihre Frage, was das Zeichen bedeute. Aus der scheinbar lapidaren Geste, in der hier ein lächerlicher Reim das wohl bedeutungsträchtigste Symbol des Judenhasses entleert, spricht nicht so sehr jener ethische Blick, den Mondzain anführt, als vielmehr die Einsicht in jene dynamischen Widersprüche zwischen Sehen und Wissen, Affekt und Bewusstsein, die das concentrationary cinema in die Wahrnehmung von zwischen Horror und Spektakel oszillierenden Bildern eingeschrieben hat.

Dani Gal, „Night and Fog“, 2011, Videostill

Dani Gal, „Night and Fog“, 2011, Videostill

IV.

Roee Rosens Multimediapraxis bringt die Beziehungen zwischen der europäischen Moderne und dem europäischen Modernismus sowie den zeitgenössischen Komplexitäten der israelischen öffentlichen und privaten Sphären zur Sprache. Insbesondere hat er der Art und Weise Gestalt verliehen, wie Subjektivierungsprozesse in der israelischen Gesellschaft mit einem Spektrum intellektueller und künstlerischer Vektoren, Historien und Mythen sowie den nach wie vor aktiven intergenerationellen Belastungen durch den Holocaust verbunden sind. Es ist kein Zufall, dass Rosen Franz Kafka, und zwar gezielt Die Verwandlung, 2018 als Rahmen der mehrteiligen Performance Kafka for Kids für das Festival Steirischer Herbst wählte. Die Geschichte des Handlungsreisenden Gregor Samsa, der über Nacht in ein „ungeheueres Ungeziefer“ verwandelt wird, ist seit ihrer Veröffentlichung 1915 in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie Gegenstand zahlreicher fruchtbarer Analysen geworden. [24] Obwohl sie zu verschiedenen Deutungen Anlass gibt, wurde die Metapher des Ungeziefers nichtsdestoweniger als ein „Symbol der Moderne schlechthin“ [25] verstanden und Gregors „opaker Körper“ als eine Form der Formlosigkeit, durch die er „ohne Sprache oder intelligible Geste in der Einsamkeit eines unentzifferbaren Zeichens“ aufrechterhalten wird. [26] In einem Brief an seinen Verleger verfügte Kafka, dass das Ungeziefer niemals abgebildet werden dürfe: „Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. Es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.“ [27] Die Trope des ,jüdischen Parasiten‘, die sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und ihre Vorläufer in der mittelalterlichen Vorstellung vom „Wucherjuden“ [28] hat, wurde zu einer der offenkundigsten Anspielungen auf antisemitische Stereotypien in Kafkas Werk und bildet einen Widerhall auf die Kontexte, Praktiken und Diskurse seiner Zeit, darunter der zunehmende Nationalismus, der im Entstehen begriffene Zionismus sowie eine Welle antisemitischer Ereignisse in ganz Europa. [29]

Was bedeutet es, heute diese Genealogie wiederzubeleben? Unter dem scheinbar unverfänglichen Vorwand, Kafka (Kafkas Verwandlung) als Plot für eine Kindersendung zu verwenden, vertiefte sich Rosen in einige der wirkmächtigsten Themen, von denen unsere zeitgenössische Öffentlichkeit durchdrungen ist, sprich Rassismus, Antisemitismus und die israelische Besatzung. Auch wenn das vermutlich ,jugendliche‘ Publikum mit einer musikalischen Darbietung Igor Krutogolovs und seines Spielzeugorchesters, die einzelne Episoden aus Kafkas Verwandlung in Lied­chen präsentierten (Apples, The Merry Vermin und What Is a Child?), in das Unterhaltungsprogramm des Abends hineinglitt, möchte ich mich hier den beiden folgenden Teilen widmen: der live aufgeführten Comedynummer Hilarious und dem Video Military Occupation and the Legal Constitution of Childhood. In diesen beiden Werken stützt Rosen sich auf die Unentzifferbarkeit des Zeichens und seiner anhaltenden Instrumentalisierung, um spezifische Körper in öffentlichen Einrichtungen als „geothered“ zu kennzeichnen und zu materia­lisieren. Die phantomatischen Signifikanten Rassismus und Antisemitismus fließen und mutieren auch weiterhin durch den Körper des als Nervensystem konzipierten Nationalstaats und kommen öffentlich und privat in verschiedenen Momenten und Situationen erratisch und erotisch zum Ausbruch. [30] Obwohl sie keine intrinsische Bedeutung haben, gewinnen die Zeichen, um die herum Rassismus und Antisemitismus sich etablieren, an Macht, während sie sich zugleich an andere Diskurse heften und nationale Zugehörigkeitsgefühle stärken. Mit Foucault wissen wir, dass die Konstitution des Nationalstaats von der gesellschaftlichen Fabrikation und Distribution von Rasse als einem Ausschlussmechanismus abhängig ist, der hegemoniale Machtbeziehungen aufrechterhält. Rosen bringt in seiner Arbeit zum Ausdruck, wie Biopolitik das Sensorium des individuellen und des kollektiven Körpers durch Wiederholungen des Rassismus und des Antisemitismus ergreift, verwandelt und diszipliniert.

Mit Hani Furstenberg in der Rolle einer Stand-up-Comedian wurde Hilarious (2010) zunächst als Videoarbeit vor einem lokalen Publikum in Tel Aviv produziert. Als es dann beim Steirischen Herbst zum ersten Mal zu einer Liveaufführung kam, wurde es aus einem Medienformat in ein öffentliches Forum übertragen und dem in das Geschehen eingebettete Publikum nahegelegt, sich das Programm so anzusehen, als ob es Teil einer TV-Sitcom sei. Im Rückgriff auf die typischen Konventionen einer Sitcom, die sich traditionell auf eine separate Tonspur mit Gelächter aus der Konserve oder auf ein Livepublikum im Studio stützt, das auf ein Stichwort hin lacht, ließ Rosen das Publikum bestimmten Anweisungen folgen, die auf einer Leinwand hinter Furstenberg zu lesen waren (darunter Stichworte wie „jubeln“, „lachen“, „Ooh sagen“ oder „klatschen“). Dann folgte eine Reihe abwechselnd unvorbereiteter und provokanter unlogischer Aussagen, Geschichten und Behauptungen, die auf Jüd*innen, Araber*innen, Deutsche, Schwed*innen, 9/11-Opfer, Barack Obama, den Tod, Geld, Sex und die israelische Besatzung abzielten und diese miteinander verbanden. Diese Entgleisungen gingen mit einem Lexikon körperlicher Gesten einher, bei dem Furstenberg sich die Ohren krault, sich auf den Hintern schlägt und ihn kreisen lässt oder sich im Krebsgang über die Bühne bewegt. [31] Unter dem Deckmantel des Humors stützt sich dieses ,Gleichberechtigungsprogramm‘ aus Alltagsrassismus, schlechtem Geschmack und der Artikulation von Tabus auf Sterotype („jüdische Ärzte“), den Einsatz der Hautfarbe als Waffe („… und was ist eigentlich mit Barack Obama? Schwarz! * Das ist lustig, weil *black auf Deutsch schwarz bedeutet“) sowie auf politische Polemik wie das Folgende:

„Es ist zum Beispiel ungebührliches Verhalten, die israelische Okkupation mit den [Taten der] Nazis zu vergleichen. Das ist schlichtweg falsch – schlichtweg falsch. Es mag ja sein, dass Ihnen die Okkupation nicht passt, aber die Nazis waren viel, viel schlimmer … also sehen Sie, das lassen Sie mal besser bleiben. Schon die Begriffe Nationalsozialismus und israelische Besatzung im selben Satz zu verwenden, ist obszön, ist nicht mal lustig – Nationalsozialismus und die israelische Okkupation – die israelische Okkupation ist viel besser als die Nazis […]“

Rosen zufolge untersucht Hilarious „die Möglichkeit dysfunktionalen Humors und Gelächters, das erregt wird, wenn es eigentlich keinen Grund gibt zu lachen“ [32] . Wie diese Performance deutlich macht, hat der dünne Grat zwischen lustig/nicht lustig viel mit größtenteils impliziten kollektiven Normen und Vereinbarungen zu tun; doch zugleich hat er weitreichende Folgen für die Instanziierung und Legitimierung von Biomacht durch die Produktion von Rasse. Der unausgesprochene Konsens wird in diesem doppelten öffentlichen Forum – einem Live-Event und einer TV-Sitcom – dekuvriert, indem es mittels einer bestimmten Anzahl künstlicher gesellschaftlicher Gepflogenheiten der Identifizierung und Anonymisierung eine mediatisierte Logik des Öffentlichwerdens reproduziert. Bei jedem von Furstenbergs Gags wird das Publikum aufgefordert, in Übereinstimmung mit den vorbereiteten Stichwörtern zu reagieren, doch während der Strom des ,rassialisierten‘ Humors nicht abreißt, muss jede und jeder Einzelne für sich entscheiden, was es heißt, sich aktiv, sichtbar und lautstark an der Unterstützung oder Ablehnung der jeweiligen Trope, Stereotypen oder politischen Situation zu beteiligen. Klatscht oder lacht man, wenn man dazu aufgefordert wird? Verurteilt man seine Nachbar*innen, wenn sie dies tun oder aber nicht tun? Lässt man sich unter dem Eindruck eines kollektiv erlebten Spektakels und seiner Affekte ,davontragen‘, indem man sich selbst sagt, das sei ja gar nicht das ,wirkliche Leben‘ und man sei ja gar nicht rassistisch oder antisemitisch?

Indem die in die Comedy eingebaute ,Lach­erlaubnis‘ als ein Sicherheitsventil fungiert, vermittels dessen man gesellschaftliche Codes und Strukturen in Szene setzt und über sie nachdenkt, rührte Hilarious an Österreichs problematischer Geschichte hinsichtlich seiner Beteiligung am Holocaust und seiner Verdrängung und Leugnung der Rolle, die es darin spielte, aber auch an zeitgenössische Wiederholungen von Rassismus und Antisemitismus. Doch durch die Einbeziehung von Military Occupation and the Legal Constitution of Childhood als Teil der Performance insistiert Rosen darauf, dass das Nervensystem aller modernen Nationalstaaten als biopolitische Disziplinierungstechnik Formen von Rassismus fabriziert. Der Vortrag, den Furstenberg in der Rolle der fiktiven Rechtsgelehrten Dr. Ada Binyamini hält, basiert auf dem echten Fall eines zwölfjährigen palästinensischen Mädchens, das nach einem Messerangriff in den Siedlungen in einem Gefängnis für Erwachsene interniert wurde. Es werden verschiedene Befehle zitiert, die uns zu verstehen geben, dass die Rechtskategorie der ,Kindheit‘ unter der militärischen Besatzung einen anderen Status hat als Kindheit in der israelischen Zivilgesellschaft. [33] Mit Frantz Fanons Schriften zum Kolonialismus könnten wir diese Beobachtung erweitern und uns fragen, ob die Besatzung selbst, ganz ähnlich wie die Kindheit, als ein vager ,Zwischenstaat‘ konstruiert ist, der durch die paternalistische Führung des Kolonisators und seines Rechtsapparats mandatiert wird. [34] Binyaminis Rechtsanalyse, die so tut, als wende sie sich an „Kwame Ashanti, einen jungen Mann aus Ghana, in von heute aus betrachtet siebzig Jahren“, ist von wolllüstigen erotischen Fantasien und dem Versuch durchsetzt, herauszufinden, ob die Düfte in der Luft von ihrem eigenen Körper oder aus der Umgebung stammen. Auch hier wieder macht der singuläre, performative Körper die strukturelle Verbindung zwischen Biopolitik, Rassismus und dem Nationalstaat-mit-Nervensystem sichtbar. Laut Rosen, und wie bereits in den 1980ern von Jeschajahu Leibowitz diagnostiziert, ist der strukturelle Rassismus, der den Nationalstaat Israel durchzieht, nicht nur dazu angetan, die entrechtete palästinensische Bevölkerung und die große Gemeinschaft nicht dokumentierter afrikanischer Fremdarbeiter in rassialisierte ,Andere‘ zu verwandeln, sondern er infiziert auch den Körper der kolonisierenden jüdischen Bevölkerung und mutiert innerhalb desselben. [35] Tatsächlich werden wir angesichts des intensiven Spektrums von Affekten, die von Binyamini und ihrem Publikum vorgeführt werden, zu Zeugen eines Nationalstaats, der seine eigenen Mechanismen und Momente der inneren Konstitution, Regulierung und des Exzesses enthüllt.

Dani Gal, „Night and Fog“, 2011, Videostill

Dani Gal, „Night and Fog“, 2011, Videostill

V. Schluss

Während es zahlreiche zeitgenössische Formen von Rassismus und Antisemitismus gibt, von denen einige aktiv, andere momentan inaktiv oder verborgen sind, sind die Strukturen und Prozesse der postmemory zweifelsohne in Gang. Während die auf eigenen Erfahrungen beruhende Erinnerung derjenigen, die den Holocaust selbst erlebt haben oder Zeug*innen desselben wurden, im Schwinden begriffen ist und die zeitliche Entfernung zur Schoah, die sie ermöglichte, zunehmen mag, arbeiten Cytter, Gal und Rosen an Mitteln und Kanälen der affektiven, kommunikativen und kulturellen Erinnerung. Ihre von uns als concentrationary media complex umrissenen Praktiken exponieren Probleme der Darstell- und Lesbarkeit der Bilder des „concentrationary system“: Indem sie diese Probleme auf ein multiperspektivisch gedachtes Betrachter*innensubjekt übertragen, erscheint dieses als Voraussetzungsbedingung von Widerstand gegen die Wiederholungsmechanismen des concentrationary universe: Das Konzept der Multidirektionalität hält, so die Hoffnung, konstitutive und strukturell solidarische Verbindungen unterschiedlicher Trauma- und Erinnerungsformen innerhalb des sich weiter entwickelnden transgenerationellen Prozesses bereit. Bezeichnenderweise bringen Cytters und Gals filmische sowie Rosens multimediale Praktiken ein der (westlichen) Moderne immanentes ,Nervensystem‘ zum Vorschein, in dem Kapitalismus, Antisemitismus, Faschismus und Kolonisierung weiter permutieren und auf Basis hergebrachter Klischees und Vorurteile immer wieder neue Bilder, Typologien und Körper des ,Anderen‘ generieren. Heute, so die Quintessenz der von uns besprochenen Werke, besteht die paradoxe Aufgabe der Erinnerungs- und Wissenspraxis darin, sich einem symbiotischen Mandat zu stellen, nämlich weiter daran zu arbeiten, mit dem nationalsozialistischen Genozid an den europäischen Jüd*innen ,ins Reine zu kommen‘ und dabei sorgfältig auf seine Überschneidungen mit jenen anderen Historien zu achten, die (nicht nur) unsere Gegenwart konstituieren.

Übersetzung: Nikolaus G. Schneider

Anmerkungen

[1]Theodor W. Adorno, „Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt/M. 1977, S. 3.
[2]Ebd.
[3]Vgl. George Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007, S. 75.
[4]Der Film entstand auf Basis von Recherchen und im Rahmen einer Ausstellung der Historiker*innen Olga Wormser und Henri Michel sowie dem Dichter Jean Cayrol, der aufgrund seiner Aktivitäten in der französischen Résistancegruppe im Rahmen des sogenannten Nacht- und Nebelverfahrens (siehe FN 18) entführt und ins KZ Mauthausen gebracht wurde.
[5]Eine dieser Aufnahmen ist auch in Nuit et brouillard zu sehen.
[6]Didi-Huberman, Bilder, S. 58 und S. 65.
[7]Ebd., S. 62.
[8]Ebd., S. 61.
[9]Siehe Sylvie Lindeperg, „Nacht und Nebel“. Ein Film in der Geschichte, Berlin 2010, S. 139.
[10]Marie-José Mondzain, „The Shoah as a Question of Cinema“, in: Cinema and the Shoah: An Art Confronts the Tragedy of the Twentieth Century, hg. von Jean-Michel Frodon, Albany, NY: State University of New York Press, 2010, S. 9–16. Dank an Dani Gal für diesen Hinweis.
[11]Griselda Pollock (Hg.), Visual Politics of Psychoanalysis: Art and the Image in Post-Traumatic Cultures, London: Bloombsbury, 2013, S. 13.
[12]Ebd.
[13]Griselda Pollock/Max Silverman (Hg.), Concentrationary Cinema: Aesthetics as Political Resistance in Alain Resnais’s „Night and Fog“, Oxford: Berghahn, 2012, S. 8.
[14]Ebd., S. 1f.
[15]Michael Rothberg, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford, CA: Stanford University Press, 2009.
[16]Ebd., S. 3.
[17]Ebd.
[18]Der Titel nimmt die Referenz von Resnais’ Film auf den Keitel-Erlass (das sog. Verfahren NN [Nacht und Nebel] vom Dezember 1941 auf. Laut Sylvie Lindeperg „sah [er] vor, die in ihrem Herkunftsland festgenommenen Widerstandskämpfer nach Deutschland zu bringen, wo niemand mehr von ihrem Schicksal Kenntnis haben würde. Damit verschwänden sie spurlos, in Nacht und Nebel.“ Siehe Lindeperg, Nacht und Nebel, S. 94.
[19]Zit. nach Ralph Buchenhorst, „Der Fotograf in der Gaskammer. Zu einer Debatte über die bildliche Darstellung der Shoa“, in: Josef Früchtl/Maria-Moog Grünewald, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 53/2, 2008, Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 231–258, hier: S. 237.
[20]Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (auf Deutsch: 1964), Reinbek bei Hamburg 1978, hier insbesondere das Kapitel I: „Der Gerichtshof“, S. 26–47.
[21]Der Film wurde zuvor Eichmann vorgeführt.
[22]Die von Nicolaus Schafhausen kuratierte Ausstellung lief vom 28. November 2019 bis 30. August 2020 im Münchner NS-Dokumentationszentrum.
[23]Brian Massumi, „The Birth of the Affective Fact: The Political Ontology of Threat“, in: Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham, NC: Duke University Press, 2010, S. 52–70, hier: S. 52.
[24]Kafka schrieb Die Verwandlung zwischen dem 17. November und dem 6. Dezember 1912. Siehe Richard T. Gray u. a., A Franz Kafka Encyclopedia, Westport, CT: Greenwood Press, 2005, S. 281.
[25]Iris Bruce, „The Cultural and Historical Context of Kafka’s Metamorphosis: Anti-Semitism, Zionism, and the Yiddish Plays“, in Critical Insights: The Metamorphosis, hg. von James Whitlark, Pasadena, CA: Salem Press, 2012, S. 54.
[26]Stanley Corngold, „Kafka’s The Metamorphosis: Metamorphosis of the Metaphor“, in: Franz Kafka, The Metamorphosis, hg. von Stanley Corngold, Nortion Critical Editions, New York: Norton, 1996, S. 89.
[27]Franz Kafka in einem Brief vom 25. Oktober 1915 an den Kurt Wolff Verlag, in: Franz Kafka, Die Briefe, Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2005, S. 121.
[28]Alexander Bein, „Der jüdische Parasit“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2, 196 5, S.121–149.
[29]Vor allem schrieb der zionistische Dichter Chaim Nachman Bialik als Reaktion auf das Pogrom von Kischinjow in Russland (April 1913) das Gedicht In Schchite Stot (In der Stadt des Gemetzels, 1904): „antlofen, wi die majss, bahalten sich, wi wanzen / un, wi di hint, gestorben“ (sie liefen davon wie Mäuse / sie blieben und versteckten sich wie Ungeziefer / und sie starben wie Hunde) (Bruce, S. 73). Nicht nur kannte Kafka das Gedicht, sondern er wusste auch, dass Bialik selbst es als Aufruf zum Widerstand aus „dem Hebräischen in den Jargon herabgelassen“, also ins Jiddische übertragen, hatte (Franz Kafka, Tagebücher 1909–1912, hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt/M.: Fischer, 1994, S. 72 [Eintrag vom 20. Oktober 1911]. Alle drei Tierarten – Mäuse, Ungeziefer und Hunde – finden sich in Kafkas Werk, und Ungeziefer, Wanzen und Schaben zählten zu den meistverwendeten antisemitischen Tropen der Nazipropaganda.
[30]Michael Taussig, The Nervous System, New York: Routledge, 1992.
[31]Video von Hilarious (2010, 24 Min.), https://www.roeerosen.com/hilarious.
[32]Siehe ebd.
[33]Military Order 1651 „… legt das Volljährigkeitsalter für Palästinenser auf 16 Jahre fest und unterteilt palästinensische Kinder in drei unterschiedliche Kategorien – diejenigen unter 12 gelten als Kinder, diejenigen zwischen 12 und 14 gelten als ,Jugendliche‘, und diejenigen zwischen 14 und 16 werden als ,junge Erwachsene‘ definiert.“ Siehe „Israeli Military Orders Relevant to the Arrest, Detention and Prosecution of Palestinians“, Addameer Prisoner Support and Human Rights Association, Juli 2017, https://www.addameer.org/israeli_military_judicial_system/military_orders.
[34]Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M.: Syndikat, 1980; französisches Original 1952; Erica Burman, „Fanon and the Child: Pedagogies of Subjectification and Transformation“, in: Curriculum Inquiry, 3, 2016, S. 265–285.
[35]Yeschayahu Leibowitz/John P. Egan, „Yeshayahu Leibowitz: Liberating Israel from the Occupied Territories“, in: Journal of Palestine Studies, 2, 1986, S. 102–108.