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BLACK DEUTSCHLAND Oliver Hardt über James Gregory Atkinson im Dortmunder Kunstverein

James Gregory Atkinson, „6 Friedberg-Chicago“, 2021

James Gregory Atkinson, „6 Friedberg-Chicago“, 2021

Lebendiges Archiv. In seiner ersten institutionellen Einzelausstellung im Dortmunder Kunstverein verbindet James Gregory Atkinson autobiografische mit gesellschaftspolitischen Geschichten und adressiert afrodeutsches Leben ebenso wie rassistische Gewalt im postnationalsozialistischen Deutschland. Neben einem neuen, eigens für die Ausstellung produzierten Film enthält die Schau viele Leihgaben aus privaten und öffentlichen Archiven, darunter auch künstlerische Artefakte und Werke anderer zeitgenössischer Künstler*innen, die Atkinson durch Neuanordnung appropriiert und neu bewertet. Das Ergebnis ist ein vielschichtig lesbares, nonlineares und nichthierarchisches Archiv Schwarzer deutscher Geschichte, das Filmemacher und Autor Oliver Hardt hier nachzeichnet.

Vier Vitrinen strukturieren den zentralen Raum des Dortmunder Kunstvereins, ihr Inhalt ist von allen Seiten betrachtbar. James Gregory Atkinson nennt sie Zeitkapseln. Jede von ihnen enthält, lose thematisch geordnet, Dokumente und Artefakte der afrodeutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: aktivistische linke Flugblätter aus den 1960er Jahren, Bücher afrodeutscher Autor*innen, Zeugnisse anti-Schwarzer Propa­ganda der Zeit zwischen den Weltkriegen in Form von Münzen und Plakaten. Aus dem Preußenarchiv stammt die Abbildung eines Gemäldes von 1890, das einen jungen Schwarzen in preußischer Militäruniform zeigt, den Militärmusiker Gustav Sabac el Cher; neben ihm eine junge weiße Frau, seine Verlobte, die sich zärtlich an ihn schmiegt. Er hat den Arm schützend um ihre Schulter gelegt, beider Blicke gehen selig und entrückt ins Leere. Preußisches Liebesglück nannte der Königsberger Künstler Emil Doerstling dieses seltene Bild der Harmonie, das sich heute im Besitz des Deutschen Historischen Museums in Berlin befindet. Unterhalb der Abbildung und des dazugehörigen Archivtextes platziert Atkinson das Polaroidfoto eines anderen jungen Paares, das in ähnlicher Haltung verharrt, gleichwohl es anders als das historische Vorbild eher schüchterne Verunsicherung ausstrahlt. Aufgenommen wurde dieses Foto 1980 in einem Musikclub im hessischen Friedberg. Es zeigt die Eltern des 1981 geborenen Künstlers, seine damals noch nicht volljährige Mutter aus Friedberg mit seinem Vater, einem afroamerikanischen Soldaten, der dort stationiert war.

Atkinsons künstlerische Arbeit ist sich der historischen Zusammenhänge bewusst. Seine Arbeitsweise ist kollaborativ, inklusiv und zugleich radikal subjektiv. Der Mangel an Möglichkeiten, Schwarze deutsche Identitäten im hiesigen Kunstbetrieb angemessen zu verhandeln, haben ihn zu einer Art kuratorischer Praxis in Notwehr geführt, mit deren Hilfe er sich seinen Kontext selbst schafft. Im Falle der Ausstellung „6 Friedberg-Chicago“ in Dortmund geschieht dies unter anderem durch Leihgaben aus privaten und öffentlichen Archiven, darunter auch künstlerische Artefakte und Werke anderer zeitgenössischer Künstler*innen, die er durch Neuanordnung appropriiert und neu bewertet. So präsentiert er im Dortmunder Kunstverein ein vielschichtig lesbares, nonlineares und nichthierarchisches Archiv Schwarzer deutscher Geschichte, das er zusammen mit der Kunsthistorikerin Mearg Negusse und dem Politikwissenschaftler Eric Otieno Sumba erarbeitet hat. Ästhetisch sensibel und zeitgeschichtlich präzise zeigt das Team die historischen Bruchlinien dieser lange vernachlässigten Geschichte auf. Dass dieses Archiv neben haarsträubenden Zeugnissen des anti-Schwarzen Rassismus in seiner besonders abstoßenden deutschen Prägung auch Momente der reflektierten und aufrichtigen Solidarität mit Schwarzen Emanzipationsbewegungen aufspürt, trägt viel zur differenzierten Betrachtung des historisch belasteten Verhältnisses bei. Im Aufeinandertreffen von Historie und persönlicher Geschichte, von history und story, entstehen Erkenntnismomente von brutaler Direktheit.

James Gregory Atkinson, „Zeitkapsel Whity“, 2021

James Gregory Atkinson, „Zeitkapsel Whity“, 2021

Das dichte Netz von Verweisen beginnt bereits mit dem Titel der Ausstellung: „6 Friedberg-Chicago“ bezieht sich auf die gleichlautende Postleitzahl des Geburtsortes des Künstlers und der Herkunftsstadt des Vaters. Zugleich verweist er auf Lothar Lamberts Spielfilm 1 Berlin-Harlem von 1974, in dem der Regisseur die von sexuellen Eskapaden und rassistischen Übergriffen geprägten Erlebnisse eines Schwarzen Ex-US-Soldaten in Westberlin schildert. Ein Detail der Eingangsinstallation CST/CET Office (2021) bietet den Besucher*innen einen Schlüssel zur Lesbarkeit der Ausstellung an: Zwei Wanduhren aus US-amerikanischer Herstellung verweisen auf die Zeitzonen Central Standard Time und Central European Time, in denen die beiden titelgebenden Orte liegen. Das Prinzip, verschiedene Orte und Zeitebenen durch biografische Ankerpunkte miteinander zu verbinden, strukturiert die Arbeit am Archiv als Ganzes.

Nun besteht das Archiv, wie es sich im Ausstellungsraum entfaltet, keineswegs nur aus Dokumenten und Artefakten. Die eigens für die Ausstellung produzierte, titelgebende Videoarbeit 6 Friedberg-Chicago (2021) katapultiert afroamerikanisch-deutsche Geschichte mithilfe lebendiger Schwarzer Körper in die Gegenwart. Die affirmative Ästhetik des Musikvideos zitierend (Kamera und Schnitt: Marcel Izquierdo Torres), zeigt das Video eine Gruppe junger Schwarzer Männer in verschiedenen Posen, aufgereiht zu lässigen Tableaus im Schwarzlicht oder in verlangsamter Bewegung (Choreografie: Josh Johnson). Aufgenommen wurde es auf dem Gelände und in den Räumen der Ray Barracks, einer ehemaligen US-Kaserne in Friedberg. Alle 17 Darsteller sind, wie der Künstler selbst, Söhne Schwarzer US-Soldaten, die hier stationiert waren. In der bloßen Präsenz ihrer Körper im Kader der Projektion kulminieren die Themen der Ausstellung zu einer knapp sechsminütigen history lesson von sinnlicher Zugewandtheit. Ihr Auftritt, ihr Look, ihre Körpersprache werden im Kontext des Films als Artefakte historischer Verbindungslinien lesbar, als zeitlich versetzte Zeugenschaft der Anwesenheit der US-amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland, deren Auswirkungen bis in die feinen Verästelungen privater und sexueller Beziehungen reicht.

Der Soundtrack der Videoarbeit ist Teil dieser Kulmination. Es handelt sich dabei um das Titellied des deutschen Spielfilms Toxi von 1952, neu eingesungen von der afroamerikanischen Harfenistin Ahya Simone, mit der Atkinson bereits bei seiner Videoarbeit The day I stopped kissing my father (2019) zusammengearbeitet hat. Toxi war der Versuch, die sich weiß imaginierende deutsche Nachkriegsgesellschaft gnädig zu stimmen angesichts der Vielzahl der Kinder, die aus den Verbindungen afroamerikanischer Soldaten mit deutschen Frauen hervorgegangen und nun ins schulreife Alter gekommen waren. Für die Hauptfigur, das kleine Mädchen Toxi, hält der Film ein vermeintliches Happy End bereit: Der Schwarze Vater kommt aus den USA angereist und nimmt sie mit „nach Hause“. Das Toxi-Lied wurde im Original von der afrodeutschen Sängerin Marie Néjar gesungen, der Atkinson seine Videoarbeit zueignet. Der Text des Liedes kreist um die von der weißen Mehrheitsgesellschaft infrage gestellte Zugehörigkeit der Schwarzen Protagonistin zur deutschen Gesellschaft und nimmt damit ein Thema vorweg, das in anderer Form und unter anderen Vorzeichen ab den 1980er Jahren von afrodeutschen Communities und Initiativen aufgegriffen wurde. Auch hier verdeutlicht die Ausstellung im Spiel mit verschiedenen Medien und Zeitebenen die historischen Kontinuitäten der afroamerikanisch-deutschen Beziehungen.

„James Gregory Atkinson: 6 Friedberg-Chicago“, Dortmunder Kunstverein, 2021, Ausstellungsansicht

„James Gregory Atkinson: 6 Friedberg-Chicago“, Dortmunder Kunstverein, 2021, Ausstellungsansicht

Dass Atkinson im Zuge seiner künstlerisch-kuratorischen Arbeit an der Selbstkontextualisierung radikal subjektiv und zugleich multiperspektivisch vorgeht, hängt auch mit den berechtigten Vorbehalten gegenüber bestehenden Wissens- und Kunstinstitutionen und deren oftmals hegemonial weißer Perspektive zusammen. Bereits in früheren Arbeiten dekonstruierte der Künstler auf diese Weise stellvertretend die Autorität einer Kunstgalerie (Re: Re: Black Macho. Unleash the Queen, Philipp Pflug Contemporary, Frankfurt/M. 2018) oder einer Bibliothek (Show me your Shelves!, Detroit Public Library 2019), indem er sie mit queeren Schwarzen Ästhetiken konfrontierte. Ein wichtiger Einfluss ist dabei der US-amerikanische Filmemacher und Gay-Rights-Aktivist Marlon Riggs (1957–1994), der auch in Dortmund mit einem Interviewausschnitt als Wandtext präsent ist. Ähnlich wie Riggs arbeitet Atkinson konsequent gegen das monolithische Bild einer black community, wie es als Folge von Generalisierung und Stereotypisierung bis in die Gegenwart fortbesteht.

Als afroamerikanisch-deutscher Künstler profitiert Atkinson von der verstärkten Nachfrage nach Schwarzen Positionen in der Kunst, die zwar schon vor 2020 eingesetzt hatte, die aber durch die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten und die massenhaft wahrgenommene Präsenz der Black-Lives-Matter-Protestbewegung auch hierzulande einen weiteren Schub erhielt. Doch während man andernorts in Deutschland nach wie vor auf (zu Recht geschätzte) afroamerikanische und Schwarze britische Perspektiven setzt und die lokale Kontextualisierung ins Rahmenprogramm auslagert, geschieht im Dortmunder Kunstverein unter der Leitung von Rebekka Seubert etwas anderes: Die komplexe Geschichte Schwarzer Identitäten in Deutschland wird innerhalb der Ausstellung selber verhandelt, und auch das begleitende Filmprogramm, das zusammen mit dem Künstler erarbeitet wurde, konzentriert sich weitgehend auf die deutsche Historie. Hier zeigt sich eine neue Qualität in der Ausstellungspraxis in Bezug auf Schwarze Perspektiven in der Kunst. Anstelle der auch im größeren gesellschaftlichen Kontext gängigen Auslagerung Schwarzer Diskurse und Ästhetiken an vor allem US-amerikanische Sichtweisen wird mit „6 Friedberg-Chicago“ einer künstlerischen Position von innen Raum gegeben, die sich zugleich des Einflusses von außen zutiefst bewusst ist. Atkinson nutzt seine an der Vielfalt afroamerikanischer Perspektiven geschulte Sensibilität, um Modifikationen an der deutschen Selbstwahrnehmung vorzunehmen. Die breite und positive Rezeption der Ausstellung gibt Anlass zur Hoffnung, dass damit ein genuiner Diskurs über das Schwarzsein aus deutscher Perspektive, den es in vielen anderen Bereichen seit Langem gibt, auch in der Kunstwelt angekommen ist.

„James Gregory Atkinson: 6 Friedberg-Chicago“, Dortmunder Kunstverein, 11. Dezember 2021 bis 13. März 2022.

Oliver Hardt ist Regisseur, Autor und Filmemacher. Sein Interesse gilt zeitgenössischer Kunst, Architektur und Design mit besonderem Augenmerk auf die hybride Kultur der afrikanischen Diaspora.

Image credit: 1. Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, photo Jens Franke; 2. Courtesy of the artist, Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, MARCHIVUM, The Lisbet Tellefsen Collection, UB TU Dortmund and Dortmunder Kunstverein, photo Roland Baege; 3. Courtesy of the artist and Dortmunder Kunstverein, photo Jens Franke