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Everything is borrowed Daniel Loick über "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" von David Graeber und "The Making of the Indebted Man" von Maurizio Lazzarato

88_loick Karikatur von Honoré Daumier, 1838, „Mein lieber Freund, tun Sie mir doch den Gefallen und borgen Sie mir 15 Francs - Mit Freuden, aber ich habe nur 10. - Teufel, Teufel... ganz egal, geben Sie sie mir trotzdem, Sie schulden mir dann eben noch 5."

Ob leere Kassen der Kommunen, Kündigungswellen bei insolventen Großunternehmen oder Griechenlandkrise – die Schulden anderer und die, an denen wir unfreiwillig Anteil haben, scheinen in der öffentlichen Diskussion allgegenwärtig, und meist klingt die mediale Schelte mehr nach moralischem Vorwurf als nach pragmatisch ökonomischer Forderung.

Nun sind zwei Bücher in Übersetzung erschienen, die die Verbindung von finanzieller und moralischer Schuld in ihrer gegenwärtigen Dimension untersuchen. Sowohl der italienische Philosoph und Soziologe Maurizio Lazzarato als auch David Graeber, bekannt geworden als theoretischer Kopf der Occupy-Bewegung, haben sich des Themas angenommen – in sehr unterschiedlicher Qualität.

„Ein Tier heranzuzüchten, das versprechen darf“ – so heißt für Nietzsche die „paradoxe Aufgabe, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat“ [1] . Damit ist zweierlei gemeint: Erstens ist das Versprechen für das menschliche Zusammenleben fundamental, und zweitens stellt es dennoch keine biologische oder natürliche Anlage, sondern eine geschichtlich-soziale Leistung dar. Fundamental ist das Versprechen, weil die Aussicht einer späteren Begleichung eingegangener Verpflichtungen sowohl die politisch-rechtliche als auch die ökonomische Stabilität sicherstellt. Dass es erst „herangezüchtet“ werden muss, verweist aber auch auf den Preis, der für die Austreibung des Glücks der natürlichen Vergesslichkeit zu zahlen war: Das Versprechen macht jeden einzelnen vor einer höheren Autorität verantwortlich und erzeugt auf diese Weise ein System moralischer Disziplinierung, das seinen psychischen Niederschlag im „schlechten Gewissen“ findet. Ein Beispiel dafür sieht Nietzsche in der nicht nur sprachlichen, sondern inhaltlichen Verwandtschaft der Begriffe „Schuld“ und „Schulden“: Jemandem etwas schuldig zu sein hat nie nur eine ökonomische, sondern immer auch eine moralische Konnotation. Dies macht sich wiederum in der Subjektivität des versprechenden Tieres bemerkbar: Das fürchterliche Gefühl, der Welt gegenüber im Minus zu sein, kennt nicht nur jeder, der eine Kreditkarte besitzt oder noch einen überfälligen Artikel abschicken muss, sondern für Nietzsche jeder, der im abendländischen Kulturkreis überhaupt am Leben ist.Auf Nietzsche und seine Erkenntnis vom inneren Zusammenhang von Schulden und Schuld beziehen sich zwei etwa zeitgleich verfasste Bücher, welche sich eine radikale Analyse und Kritik der andauernden Schuldenkrise zur Aufgabe setzen. Das erste ist Maurizio Lazzaratos Essaysammlung „The Making of the Indebted Man“, die 2011 auf Französisch und nun auf Englisch erschienen ist (eine deutsche Übersetzung erscheint im Dezember 2012 bei b_books, Berlin). Lazzarato historisiert Nietzsches Analyse und spricht in Hinsicht auf die gegenwärtige Ökonomie von einer universellen Schuldenökonomie: Nie in der Geschichte haben Schulden in den privaten und den öffentlichen Haushalten eine so große Rolle gespielt wie heute. Lazzarato rekonstruiert systematisch, wie diese neue Konstellation durch ein Zusammenwirken ökonomischer Prozesse, staatlicher Entscheidungen und dem Kräftespiel politischer Akteure entstanden ist. Den Hauptgrund für den Paradigmenwechsel sieht er darin, dass die in den letzten Jahrzehnten sinkenden Löhne und Pensionen durch einen leichteren Zugang zu Krediten gewissermaßen kompensiert wurden. Dies verändert nicht nur die faktischen ökonomischen Beziehungen der Gesellschaftsmitglieder untereinander, sondern auch die allgemeine Subjektivität: Von Verkäufern/Verkäuferinnen der Ware Arbeitskraft verwandeln wir uns in verschuldete Kunden/Kundinnen, von Inhabern/Inhaberinnen von Rechten zu Antragstellern/-stellerinnen bei Banken: Wir haben kein Recht auf Bildung, aber Zugang zu student loans, kein Zugang zu einer öffentlichen Gesundheitsversorgung, aber zur privaten Krankenversicherung. Schon mit der Geburt erben wir, so der hegemoniale Diskurs, gigantische Schuldensummen, die wir unser ganzes Leben lang abzuzahlen versuchen; das kapitalistische Schuldenbewusstsein hat auf diese Weise die christliche Vorstellung von der Erbsünde abgelöst.

Das neue Schuldenregime sieht Lazzarato dabei in Abgrenzung zum fordistischen Arbeitsregime, das noch von einem Tauschhandel zwischen Arbeit und Kapital geprägt war. An die Stelle der Ideologie der Arbeit und dem ihr zugrunde liegenden Begriffspaar Anstrengung – Belohnung ist die durch das Paar Versprechen – Verfehlung gekennzeichnete Schuldenbeziehung getreten. Wer seine Schulden nicht zahlen kann, stellt nicht nur ein ökonomisches, sondern ein moralisches Problem dar, wie nicht zuletzt im deutschen Mediendiskurs um die sogenannte Griechenlandkrise zu spüren ist, die als Schuldenkrise bezeichnet wird, wobei genauer von Bankenkrise die Rede sein müsste. Wie die Moral der Arbeit, so beruht auch die der Schulden auf einer Fiktion von Freiheit: Ebenso wie der Arbeiter „aus freien Stücken“ (nämlich weil er nicht verhungern wollte) einen Arbeitsvertrag einging, so geht man heute „aus freien Stücken“ einen Kreditvertrag ein. Genau durch diese Freiheitsfiktion erscheint es als ebenso unmoralisch, seine Schulden nicht zu begleichen, wie ein Versprechen zu brechen, das man der besten Freundin gegeben hat. Dabei ist aber die neoliberale Schuldenökonomie eben kein System der Freiheit, gerade der Kredit und das durch ihn erzeugte Schuldbewusstsein fungieren als disziplinierende soziale Stratifikationen: Die gouvernementale Mnemotechnik, die Nietzsche als das „Heranzüchten“ des verantwortlichen Subjekts beschrieben hat, rekonstruiert Lazzarato als die Erfindung eines ständig das eigene Selbst evaluierenden und optimierenden Blicks, der, weil er internalisiert ist, die gesamte menschliche Existenz erfasst. Der politische Kampf, der sich effektiv gegen das Schuldenregime richten könnte, schlussfolgert Lazzarato, muss ein kollektiver sein, und er darf sich nicht auf den Bereich staatlicher Politiken beschränken, sondern muss ebenso auf dem moralischen, also auf dem existenziellen Terrain geführt werden.

Hat Lazzarato eine durch Nietzsche, Deleuze und Foucault inspirierte marxistische Analyse des Schuldenregimes vorgelegt, ist bei David ­Graeber ein anarchistischer Ansatz zu finden. In der Tat ist Graeber zurzeit wohl der erfolgreichste Anarchist der Welt: „Schulden“ hat ihm die breit geteilte Anerkennung im bürgerlichen Feuilleton eingebracht, allein 2012 erschienen von ihm gleich vier Bücher in deutscher Übersetzung. Die Stärke von Anarchisten/Anarchistinnen ist meistens die moralische Agitation, ihre Schwäche die gesellschaftstheoretische Analyse. Das ist auch bei Graeber nicht anders. Moralische Agitation funktioniert bei ihm durch die anthropologische Perspektive: Er beschreibt die undurchsichtigen Regeln der Wall Street auf eine Weise, die wir sonst nur von Dokumentarfilmen über die exotischen Rituale unbekannter Stämme gewohnt sind. Indem er die eingespielten Routinen des Westens exotisiert, entlarvt er sie als so bizarr, wie sie eben sind: Dass in den USA täglich Tausende Menschen obdachlos werden, weil einmal zu viele Häuser gebaut wurden (aufgrund von wirtschaftlichen Vorgängen, welche den Menschen völlig intransparent sind, und zwar einschließlich der dafür bezahlten „Wissenschaftler“, deren Kindergartenbilderbuch-Narrative von Graeber konzise widerlegt werden), ist eine Kulturpraxis, die letztlich auf die Selbstzerstörung dieser Gemeinschaft hinauslaufen wird.

Die Stärke des Buches ist zugleich aber auch seine Schwäche. Die anthropologische Herangehensweise verstellt Graeber leider oft den Blick auf die gesellschaftliche Spezifik der von ihm analysierten historischen Situationen. Dies zeigt sich auch schon im sicher kokett gemeinten Untertitel des Buches – wer „die ersten 5000 Jahre“ der Institution der Schulden zu beschreiben versucht, legt eine transhistorische Kontinuität zugrunde, welche die eigentliche Erkenntnis vom eben nicht natürlichen, sondern sozialen Charakter dieses Konstrukts letztlich wieder dementiert. Graeber beginnt seine Rekonstruktion der Schuldengeschichte mit den frühen Zivilisationen in Mesopotamien und Ägypten um ca. 3500 v. u. Z. und spannt sie über die „Achsenzeit“ und die mittelalterlichen Gesellschaften bis hin zur Aufgabe des Goldstandards 1971 durch den US-amerikanischen Präsidenten Nixon. Das ist imponierend, blendet aber notwendig die gesellschaftliche Spezifik des jeweiligen historischen Kreditregimes aus. Dies zeigt sich am deutlichsten an Graebers (Miss-)Verständnis des Kapitalismus: Der von Marx als Grundmerkmal kapitalistischer Produktion beschriebene Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und privater Aneignung kommt bei Graeber ebenso wenig vor wie der Begriff der Klassen oder der der Entfremdung [2] – Marx wird auf den 534 Seiten des Buches ganze zwei Mal erwähnt. Bei Graeber fehlt daher genau das, was Lazzarato durchaus leistet: die nicht nur historische, sondern systematische Analyse der politischen und ökonomischen Prozesse innerhalb des kapitalistischen und, noch genauer, des neoliberalen Verschuldungsparadigmas und der damit zusammenhängenden Subjektivität.

„Streicht alle Schulden und verteilt das Land neu“ – Graeber geht mit dem Historiker Moses Finley davon aus, dass diese Forderung schon in der Antike und seitdem immer wieder die Losung revolutionärer Bewegungen geworden ist. Gegenwärtig gibt es stärker werdende Kampagnen, Studienkredite nicht zurückzuzahlen oder die Schulden von Entwicklungsländern zu streichen. Im Oktober 2008 gingen Berichte von US-amerikanischen Polizisten durch die Presse, die sich weigerten, die Häuser von verschuldeten Bewohnern und Bewohnerinnen zu räumen. Dass Arbeiter/innen, die ihr ganzes Leben lang geschuftet hatten, nach 30 Jahren aus ihren eigenen Häusern vertrieben werden sollten, erschien jenseits aller philosophischen oder politischen Analyse, sondern auf einer ganz lebensweltlichen Ebene unplausibel geworden zu sein. Vielleicht sind solche Situationen erste Anzeichen dafür, dass das neoliberale Schuldenregime doch nicht so lückenlos funktioniert, wie es zunächst den Anschein hat. Die „freiwillig“ eingegangenen Versprechen können auch wieder „vergessen“ werden. Dieses „Vergessen“ ist wohlgemerkt kein Abzahlen oder Abarbeiten, auch keine Stundung und kein gnädiger Erlass der angesammelten Kredite, sondern der rigorose Abbruch des Verschuldungszusammenhangs insgesamt. Das beinhaltet aber auch, gesellschaftliche Verhältnisse einzurichten, in denen nach einem solchen Schuldenschnitt nicht, wie Marx warnte, „die ganze alte Scheiße“ [3] wieder von vorne losgeht. Nur dann können wir erreichen, was selbst für Nietzsche schwer vorstellbar gewesen ist: „eine Art zweiter Unschuld“ [4] .

  • David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart: Klett-Cotta, 2012;
  • Maurizio Lazzarato, The Making of the Indebted Man. Essays on the Neoliberal Condition, Los Angeles: Semiotext(e), 2012.

Anmerkungen

[1]Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, Berlin 1999, S. 291.
[2]Vgl. ausführlicher zur fehlenden Kapitalismusanalyse bei Graeber die luzide Abrechnung von Ingo Stützle, „Schuld und Sühne. In David Graebers Buch ‚Schulden – Die ersten 5000 Jahre‘ fehlt die Kapitalismusanalyse“, in: ak – Analyse und Kritik, 572, 19.5.2012.
[3]Friedrich Engels/Karl Marx, Die deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 35.
[4]Nietzsche, a. a. O., S. 330.