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Im Sog der Zeit Ein Gespräch zwischen Joseph Vogl und Philipp Ekardt über Spekulation

93-vogl-1 Claire Fontaine, „Sell your debt“, 2012

Ob in der Finanzwirtschaft oder in der Theoriebildung: Spekulative Ausgriffe in den Bereich des Potenziellen finden nicht im leeren Raum statt. Sie werden durch Medien und Institutionen ermöglicht, und sie zeitigen reale Folgen. So ist das aktuelle Finanzgeschehen ohne digitale Technologien undenkbar, und ebenso bedarf dieses der Rahmung durch bestimmte Vertragsformen. Eine der Auswirkungen dieser intensivierten spekulativen Zukunftsöffnung, die sich in Gesellschaft, Wissen, Biografien und Arbeit bemerkbar macht, ist ein Erodieren der Gegenwart.

Der Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaftler Joseph Vogl hat sich eingehend mit den Konsequenzen und Vorbedingungen von ökonomischer wie theoretischer Spekulation befasst. Im folgenden Gespräch mit ihm geht es um die Neuordnung der temporalen Regime, die unsere Lebensweisen, Ästhetiken, ökonomischen und politischen Verfasstheiten durchziehen. Und auch die neueren Gründungsbemühungen des Spekulativen Realismus kommen zur Sprache. In dessen Anzestralitätsanstrengungen erkennt man vielleicht zwei alte Bekannte wieder: Humanismus und Verdinglichung.

Philipp Ekardt: Spekulation als wirtschaftliches, vielleicht aber auch generelles Operieren mit dem Möglichen oder dem Zukünftigen ist durch eine besondere Unsichtbarkeit gekennzeichnet. Spekulation sieht man nicht. Andererseits sind spekulative Operationen in der Wirtschaft nicht ohne Medien denkbar. Deshalb stellt sich die Frage nach der Mediatisierung, aber auch der Darstellbarkeit von Spekulation, über die Du viel nachgedacht hast. [1] Kann man Spekulation aufzeichnen und wenn ja, wie?

Joseph Vogl: Zunächst ist Spekulation eine bestimmte Vertragsform, die sich auf ungewisse Zukünfte bezieht. Herkommend vom Römischen Recht müsste man sagen, dass der Wettvertrag solch eine Angelegenheit ist, eine vertragliche Bindung, bezogen auf ungewisse künftige Ereignisse. Auf den Finanzmärkten ist diese Vertragsform zum Normalfall geworden, jede Transaktion, jeder Kauf/Verkauf von Finanzprodukten bezieht sich auf künftige Preisentwicklungen, vollzieht gegenwärtige Zahlungen künftiger Preise. Unter neuesten Medienbedingungen bedeutet das erstens die Beschleunigung der Operationen (bis hin zum High Frequency Trading) und zweitens die Implementierung von Algorithmen, die ungewisse Zukünfte bzw. Preise erwartbar oder wahrschlich machen sollen. Es geht um die systematische Transformation von Ungewissheiten in Erwartbarkeiten, es geht um die Zähmung der Zeit.

Ekardt: Das heißt, wenn man heute von der Spekulation im wirtschaftlichen Sinn spricht, dann kann man von der Digitalisierung nicht schweigen?

Vogl: Ja, sie ist ein mediales Apriori der aktuellen Finanzmärkte. Was nicht heißt, dass diese Dinge nicht auch in der Vergangenheit passierten, aber eben unter anderen technischen, aber auch institutionellen Bedingungen. Die Geschichte der Börsenschauplätze gibt darüber Auskunft.

Ekardt: Haben die Börsen von heute nicht genau diesen räumlichen Schauplatzcharakter verloren?

Vogl: Es lässt sich in mehrfacher Hinsicht eine Transformation in der Verortung und Verzeitlichung und auch eine Wandlung im institutionellen Format verzeichnen. Noch im 16. Jahrhundert fanden spekulative Geschäfte auf den sogenannten Messen statt, die viermal jährlich abgehalten wurden, das heißt also räumlich und zeitlich begrenzt. Das wurde verstetigt durch die ersten Börsen. Die erste Börse, an der tatsächlich auch Finanzprodukte wie Aktien und damit entsprechende Zukunftskontrakte gehandelt wurden, war die Börse von Amsterdam, seit Anfang des 17. Jahrhunderts. Also ein „Chronotopos“ eigener Art. Die jüngste Entwicklung war nun in mehrfacher Hinsicht eine Deinstitutionalisierung dieser spekulativen Geschäfte. Beispielsweise das, was man in den letzten Jahrzehnten Over-the-Counter-Handel nennt, also die Loslösung von Finanzgeschäften von den eingehegten, auch streng kontrollierten Börsenplätzen.

Ekardt: In Bezug auf diese Spekulation mit elektronisch-digitalen Medien verwendest Du in Deinem Buch „Das Gespenst des Kapitals“ die Parole vom „Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit“. [2] Anfang der 80er hatte Alexander Kluge bereits über die elektronischen Medien unter dem Schlagwort „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ nachgedacht. Hat es in der Geschichte der elektronischen Medien eine graduelle Verstärkung in ihrem Zugriff auf Zeitlichkeit gegeben?

Vogl: Auch der „Angriff der Gegenwart“ lässt sich auf Mediensituationen beziehen. Etwa auf die Geschichte des Fernsehens: Das war zunächst – wenigstens bis zur Entwicklung von Speichertechniken, also Videoformaten – nichts als momentane, ausgestrahlte, vorbeiströmende Gegenwart. Gedächtnislose Aktualität. Das Vergehen der Gegenwart wird zum Drama des Gezeigten. Im Zusammenhang von digitalen Medien – und das heißt erstens digitalen Netzwerken, zweitens bestimmten Berechnungsverfahren und drittens den entsprechenden Speichertechniken – wird etwas anderes in Aussicht gestellt: Nämlich dass tatsächlich künftige Ereignisse, also ungewisse Zukünfte in bestimmte Wahrscheinlichkeitshorizonte verwandelt werden können und dass diese selbst wiederum durch Kontrakte verkauft und damit „gehedgt“ oder gesichert werden können. Zukunft soll durch die Replikation vergangener Verlaufsprozesse berechenbar werden. Der „Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit“ wird überall dort manifest, als Attacke, wo diese Zukunft, das heißt künftige Renditen, das Gegenwartshandeln bestimmt und diese Gegenwart deaktualisiert. Dramatisch wird das in Krisen, die nichts anderes als eine Verwerfung von Zeithorizonten sind.

Ekardt: Du hast auch die Formulierung vom „Gespenst des Kapitals, das aus der Zukunft zurückkehrt“ bzw. „das uns aus der Zukunft heimsucht“ geprägt. Sind diese beiden Figuren verknüpft, also das Ausbluten der Gegenwart in Richtung der Zukunft und die zunehmende Verpflichtung, die man gegenüber der Zukunft eingeht, qua Kontrakt, finanziell, aber vielleicht auch in den Biografien und Lebensweisen?

Vogl: Ja, der Sog der Zeit und der futurischen Bedingungen ist eine Geschichte, die man am Leitfaden des Wirtschaftssystems erkennen kann. Gerade in der Finanzökonomie wird das an einem Punkt in einer fast trivialen Weise sichtbar, nämlich dort, wo man eine stillschweigende Umstellung unserer Gesellschaftsverträge konstatieren muss. Ein Gesellschaftsvertrag, der auf Gegenseitigkeit gründet, kann, wie fiktiv auch immer, doch noch Gründungsurkunde von republikanischen Gesellschaften sein. Das ist das Erbe politischer Theorien seit dem 18. Jahrhundert. Das wurde durch einen neuen Gesellschaftsvertrag ersetzt, der durch Kredit- und Finanzökonomie bestimmt wird: Die strukturelle Insolvenz des Systems wird kompensiert durch die immer weiter fortlaufende „Verzukünftigung“ von Schulden. Die Gesellschaften werden von Schulden zusammengehalten, die niemand bezahlen kann, durch Kredite, die nicht eingelöst werden können. All das nötigt zu einer systematischen, zukunftsfixierten Unaufhörlichkeit des Betriebs.

93-vogl-2 Jeffrey C. Chandor, „Margin Call“, 2011, Filmstill

Ekardt: Gibt es da Parallelen zu anderen Formen der Verpflichtung der Subjekte auf ihre jeweiligen Zukünfte, z. B. in Form der Projektökonomie, wie sie für das Kunstsystem und die sogenannte Kulturindustrie bis hin in den Wissenschaftsbetrieb inzwischen typisch sind? Auch hier soll ein Antizipiertes verwirklicht werden, während diese Realisierung aber nicht mehr für den Aufbau oder die Stabilisierung eines Gegenwärtigen einsteht. Im Projekt arbeiten bedeutet stattdessen, dass man das damit Verwirklichte sofort verlässt, um die nächste Verwirklichungsarbeit in Angriff zu nehmen. Entsprechend werden auch zunehmend Individualbiografien, z. B. in Einstellungskonstellationen, genau dahingehend abgeklopft, welches das „Entwicklungspotenzial“ des Kandidaten oder der Kandidatin ist. Es wird also immer weniger eine präsentische Summe gezogen.

Vogl: Diese Projektarbeit ist ein Seitenstrang der Entroutinisierung von Gegenwarten, die eine gewisse Artistik im Umgang mit kurzen Fristen verlangt. Ich würde aber auch überhaupt danach fragen, an welchen Stellen so etwas wie Zukunftswitterung auftaucht, also wo ein Selbstverständnis der Zeitgenossenschaft gerade dadurch hergestellt wird, dass man sich hier und jetzt nur nach dem richtet, was kommen wird. Unsere Leitwissenschaft ist die Meteorologie, wir sind an Trends und am Geschäft der Vorhersagen orientiert. Die Lebenswelt ist ein Notationssystem von Konjunkturdaten. Und die Mode ist nicht nur ein Konfektions- und Ausstattungsressort. Vielmehr verlangt man von uns, dass wir uns heute – konformistisch oder extravagant – nach den Trends von morgen verhalten.

Ekardt: Stimmt – die Mode arbeitet tatsächlich an einer bestimmten Form der Gegenwartsaufzehrung. Schon Benjamin hat diese Zukunfts­witterung ja für die Modekollektive veranschlagt, und Simmel hat in seiner Philosophie der Mode beschrieben, dass die Mode ihrer Zerstörung entgegenwächst. Moden sind sich ausbreitende Phänomene, die, sobald ein System mit ihnen saturiert ist, aufhören, als solche zu existieren. Dann muss die nächste Differenz eingetragen werden. Die starke Präsensemphase, das „Jetzt“ der Mode, ist ein Effekt dessen, dass hier parallel im System zahllose Differenzen eingezogen werden, sowohl gegenüber der Vergangenheit als auch gegenüber der Zukunft. Dementsprechend gibt es keine volle Gegenwart der Mode, sondern sie ist immer schon in eine differenzielle Zeitökonomie eingebunden, in der sie kommt, geht, in die Zukunft stürzt und sich in diesem Zukunftssturz selbst aufzehrt.

Vogl: Wir sind – irgendwie – in frenetische Existenzweisen geraten und finden nicht heraus.

Ekardt: Als ein weiteres Kennzeichen von Spekulation könnte man auch die mit ihr verbundene Problematisierung von Referenzialität konstatieren, die häufiger mit der Abschaffung des Goldstandards in Verbindung gebracht wird. Ist das plausibel?

Vogl: Das hat zunächst nichts damit zu tun. Spekulative Geschäfte sind Termingeschäfte, also eine alte Geschäftspraxis, bei der man heute bezahlt, was man morgen erhält. Man sichert sich ab, etwa wenn man künftige Preissteigerungen vermutet. Und das kann schiefgehen, wie bei Thomas Buddenbrook, der mit großer Geste eine künftige Getreideernte kaufte, die dann verhagelt wurde.

Ekardt: Es existiert also die Antizipation, dass der kommende Referent irgendwann, sagen wir, aufgefüllt wird durch ein materielles Substrat oder durch ein Objekt, das den Wert deckt. Hier wäre die Antizipation die falsche gewesen.

Vogl: Ja. Und was den Goldstandard betrifft: Den hat es in reiner Form nie gegeben. Alle modernen Bankensysteme sind Teilreservesysteme; in allen modernen Währungen war immer mehr „Papier“ im Umlauf, als direkt mit Bargeld gedeckt werden konnte. Wahrscheinlich hatte der Goldstandard zwei Seiten: eine mythologische, wo die Vorstellung des funkelnden Schatzes wie eine vertrauensbildende Maßnahme wirkt; und eine technische, wo man – wie im Abkommen von Bretton Woods – das Verhältnis der Währungen zueinander durch den stets möglichen Umtausch von Dollars in Gold hegen wollte. Das hat am Ende nicht funktioniert.

Ekardt: Hängt dies damit zusammen, dass, wie Du schreibst, Spekulation die Grundform jeglicher Finanztransaktion sei?

Vogl: Wenn Kapital in einer sehr verkürzten Definition bedeutet, dass man es hier mit einer verwertbaren Wertsumme zu tun hat, die die Hoffnung auf künftige Renditen in sich birgt, dann ist natürlich jede Investition spekulativer Natur.

Ekardt: Das heißt, die aktuelle Entwicklung ist keine kategorische Transformation dessen, was Kapitalismus einmal war, sondern einfach die Eskalation eines Zugs, der dem System von Anfang an inhärent war?

Vogl: Ja. Man braucht „Wachstum“, weil die Logik des Kapitals die heutige Realisierung morgiger Erträge diktiert. Das muss erwirtschaftet werden.

Ekardt: Du beginnst „Das Gespenst des Kapitals“ mit Bezug auf einen Roman, nämlich Don DeLillos „Cosmopolis“, dessen Hauptfigur, Eric Packer, ein Währungsspekulant ist. Hätte man diese Information nicht, würde man ihn gar nicht mehr als klassischen Spekulantentypus identifizieren. Er hat nichts mehr gemeinsam mit dem Personal, das man aus neueren Börsenfilmen kennt, wie „Wall Street“ z. B., oder noch aus den Schilderungen im realistischen Modus, etwa in Zolas Roman „L’Argent“. Packer existiert in der Isolation seiner Limousine, die ihn durch Manhattan fährt, und Informationsströme dringen nur über vereinzelte Kanäle und Interaktionen zu ihm. Nirgends sieht man mehr die typischen dramatischen Massenszenarien vom Trading Floor.

Vogl: Aber er hat alle Merkmale der anderen, extravaganten Spekulantenfiguren seit dem 19. Jahrhundert geerbt, das Wölfische, das Dandyartige, das Nervöse, das Junggesellentum, die Schlaflosigkeit. Und einen seltsamen Spiritualismus, der sich nach einer Art Eucharistie, nach einer Verwandlung des Schwerfälligen ins Immaterielle sehnt. Neu ist seine Bürolimousine, mit der er wie ein Odysseus durch den Verkehr von Manhattan schwimmt. Auf deren Bildschirmen hat sich eine letzte Verwandlung des Währungsstandards vollzogen, die Verwandlung von Geld in Information. Packer weiß, dass man heute Geld mit Informationen kauft.

Ekardt: An einigen Stellen tritt bei DeLillo, der hier auch, was die Kunst angeht, einen guten Riecher hat, noch einmal die ganz klassisch modernistische Ästhetik auf. Eric Packer wird von seiner Kunsthändlerin Didi Fancher geraten, einen Rothko zu kaufen. In seiner Wohnung hängt abstrakte Malerei, monochrom und leer und, darauf wird hingewiesen, nicht neu. Dann gibt es diese sehr lustige Schilderung, dass Packer, wenn er sich unausgeglichen fühlt, Fahrstuhl fährt mit dem Viertel der Geschwindigkeit, während Satie läuft. Einerseits ist das ein Witz, weil Satie ja tatsächlich als Vater der Fahrstuhlmusik angesehen wird. Andererseits steht Satie, wie auch bestimmte Abstraktionsspielarten, für ästhetische Programme, die einerseits verwandt scheinen, andererseits aber eben doch auch abweichend von den spekulativen Modi, über die wir gesprochen haben: Sie entgegenständlichen, schaffen Referenzialität ab und lassen „Farbe“, „Malerei“ oder meinethalben auch „die Sprache“ sich selbst mitteilen. Diese Form von Ästhetik kommt in der aktuellen Spekulationskonstellation nur noch zur Stabilisierung vor: Modernistische Entleerungs- und Reduktionsstrategien dienen jetzt als letzte ästhetische Puffer, die den Spekulanten eine auslevelnde Affizierung bieten.

Vogl: Gäbe es eine Ontologie für diesen Typus, wäre sie mit der Frage verbunden, wie man schwebende Existenzen herstellen kann. Akkumulation von Optionen, Minimierung von Bindungen; Anhäufung von Zukunft, Löschung von Vergangenheiten. Da interveniert auch das Ästhetische, es schafft eine Art von Möglichkeitsbiotop. Das moderne Finanzwesen liebt moderne Kunst. Man kann sich Optionen an die Wand hängen. Das verweist auch auf einen anderen, noch direkteren Zusammenhang von Kunst und Finanzwelt. Kapital- und Kunstmärkte folgen derselben Logik. Kunsthändler sind mit derselben Witterung wie Broker ausgestattet, mit der Witterung für Trends und Konjunkturen. Die wissen nicht nur, dass russische Oligarchen eine Vorliebe fürs Großformatige haben, dass sich Picassos aus der Blauen Phase teurer verkaufen, aus Dekorationsgründen. Sie wissen vielmehr genau, dass nichts einen „realen“ Preis hat, dass Nachfragen Nachfragen auslösen, dass hohe Preise zu höheren Preisen führen, dass der Geschmack eine Sache des Wettbewerbs ist. Und dass sich jede Finanzkrise als Krise auf dem Kunstmarkt ankündigt.

93-vogl-3 David Cronenberg, „Cosmopolis“, 2012, Filmstill

Ekardt: Diese spekulative Tendenz greift auf verschiedene Weise in das Kunstsystem ein. Zum Beispiel hat sich der Charakter des Sammelns verändert, weil heute häufig, und zwar bis in die Reihen der Kleinstsammler/innen hinein, unter der – oft übrigens falschen – Annahme gesammelt wird, dass Kunst eine Wertanlage ist und man sie potenziell mit Gewinn verkaufen kann.

Vogl: Ja, der Begriff der Sammlung hat sich verändert. Sie tritt gewissermaßen aus ihrem archivarischen Kontext heraus und wird zur Bank.

Ekardt: Ist diese Kombination von Kunst und Spekulation, wie man sie in der Figur Packer findet, verallgemeinerbar?

Vogl: Ich weiß es nicht. Denn einerseits ruft die Verbindung von Kunst und Spekulation in Erinnerung, dass sich hier wie dort Autonomiehoffnungen verdichten. Die autonome Kunst und das autonome, von allen sozialen Bindungen befreite Kapital können wohl zuweilen gewisse verwandtschaftliche, brüderliche Neigungen füreinander empfinden. Andererseits darf man nicht vergessen, dass die meisten Finanzakteure doch nichts anderes als recht biedere Leute sind.

Ekardt: Ich würde noch mal zur Temporalität zurückgehen wollen: Interessanterweise wird das Verhältnis von Zeit und Spekulation aktuell bei einigen Spekulativen Realisten, z. B. bei Meillassoux, anders gedacht als in den Fällen, über die wir gerade gesprochen haben, etwa wenn er in „Metaphysik, Spekulation, Korrelation“ [3] von der „Antinomie der Anzestralität“ spricht. Damit meint er die wissenschaftlich-empirische Datierbarkeit von Prozessen und damit Zeitstrecken, die vor der Menschheit gelegen haben. Meillassoux stellt sich die Frage, wie diese Form von Zeitlichkeit spekulativ eingeholt werden kann. Während die finanzspekulative Futurisierung ja einerseits, in Deinen Begriffen, auf einen Versuch hinausläuft, die Zeit zu zähmen bei gleichzeitiger Erosion der Gegenwart, haben wir es hier doch eher damit zu tun, dass ein Anker geworfen werden soll.

Vogl: Die Frage nach der Bedeutung des Prähumanen für das Denken ist keineswegs neu. Michel Foucault hat in „Die Ordnung der Dinge“ ähnliche Fragen gestellt. Wenn er von der „empirisch-transzendentalen Doublette“ spricht, meint er nichts anderes: die Bezogenheit des Menschen auf ein ihm konsequent Entzogenes, auf Sprache, Leben, Arbeit. Foucault hat das als epistemologische Intrige der Humanwissenschaften, der Anthropologie, analysiert. Oder man könnte Meillassoux eine Erzählung von Max Frisch empfehlen, „Der Mensch erscheint im Holozän“, wo eine schwindende Humanexistenz dem Massiv einer Gebirgsgeologie gegenübersteht. Aber mir scheint, dass Meillassoux weniger Fragen als Antworten hat. Das prägt eine neue Form von Scholastik oder Dogmatik. Oder einen philosophischen Absolutismus im wörtlichen Sinn, der gegen das, was Meillassoux „Korrelationalismus“ nennt, wieder auf ein unbezweifelbares Absolutes, auf feste „Tatsachen“ und „Realitäten“ pocht. Man könnte vielleicht sagen, dass das in philosophischer Hinsicht der Versuch ist, auf so etwas wie einen intellektuellen Goldstandard zurückzukehren. Etwas zugespitzt würde ich diese Versuche alchemistische Experimente auf dem Gebiet der Philosophie nennen.

Ekardt: Spielt das technische und mediale Instrumentarium, mit dem diese Datierbarkeit hergestellt wird, hier eine Rolle?

Vogl: Der Text von Meillassoux hat wenig Interesse daran, sich mit der Verfertigung derjenigen Daten (wie der Datierung des Erdalters) zu beschäftigen, auf die er sich beruft. Sie sind für ihn schlicht Datum, Gegebenes. Meillassoux interessiert nicht, wie man die Vergangenheit technisch dazu bringt, Zeichen zu produzieren, Signale zu geben, die sich an uns adressieren – insofern gibt es hier einen Zug, den man schlicht positivistisch nennen muss. So kommt er dazu, ganz hartnäckig empirische Bedingungen in transzendentale zu verwandeln, also Metaphysik zu betreiben.

Ekardt: Das würde auch mit Meillassoux’ Versuch zusammengehen, eben nicht nur die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt bzw. deren Denkbarkeit zu denken, sondern tatsächlich jenseits dieser eingezogenen Grenzen vorzustoßen. Einerseits spekulativ, andererseits aber auch empirisch. Er sagt relativ offen, dass es ihm darum geht, wie man philosophisch Sinn aus dieser wissenschaftlichen Datierbarkeit schlagen kann, was auch einen Unterschied zu Projekten markiert, die zuvor über eine solche Datierbarkeit nachgedacht haben. Kittler hätte ja genau das Datierbare und das Sinnhafte geschieden. Unternimmt der Spekulative Realismus hier also den Versuch, den Sinn wiederum auf das zu beziehen, was die Medientheorie schon einmal als davon Differierendes beschrieben hatte? Ist das letztlich ein Rollback?

Vogl: Da bin ich nicht sicher. Ich habe nur den Eindruck, dass es in dieser eigentümlichen Anordnung eine philosophische Xenophobie gibt. Diese besteht darin, dass ein empirisches Subjekt – nicht zuletzt eines, das auch einen Eigennamen hat, sich über den Schreibtisch beugt und schreibt und eventuell auch Philosophie betreibt – definitive Fremdheiten, mit denen dieses Subjekt ausgestattet ist, die, wenn man so will, auch zur anthropologischen Ausstattung gehören, ins konsequent Nicht-Humane, Nicht-Anthropomorphe auslagert. Das empirische Subjekt repräsentiert das Gattungswesen, das Gattungssubjekt wurde anthropologisch gesäubert, und die ganze Veranstaltung ist sozusagen clean. Da gibt es kein Befremden, keine Fremdheitsintarsien mehr. Diese werden in dieser kühnen Volte ins Anzestrale, in die fremde Welt jenseits und vor dem Menschen, vorverlegt. Das Fremde wird kurzerhand expatriiert; frühe hätte man gesagt: „verdinglicht“.

Ekardt: Also ein aggressiver, ausscheidender Humanismus?

Vogl: Ja. Es gibt hier einen philosophischen Humanismus, der sich mit den Zumutungen und Aporien des Humanismus nicht mehr weiter beschäftigen will. Man darf übrigens nicht vergessen, dass bestimmte Schockerfahrungen dieses Fremden schon seit Ende des 18. Jahrhunderts bekannt sind, spätestens von dem Augenblick an, als man konzedieren musste, dass die Welt älter als 3000 oder 6000 Jahre, also älter als irgendeine Schöpfungsgeschichte, ist und dass in dieser Geschichte diejenige des Lebens und darin wiederum diejenige des Menschens nur einen winzigen Teil ausmachen. Angesichts dieser Fremdheitserfahrung, dieser „anzestralen“ Abgründe, ist das, was bei Meillassoux auftaucht, keineswegs neu. Neu ist nur die Radikalität, diese Verstörung nicht mehr als einen Sachverhalt einer schwierigen Selbstverständigung zu begreifen. Alles das, was Meillassoux unter Korrelationismus subsumiert, sind ja zudem Dinge und Positionen, die nur in einem sehr großen Kochtopf zusammengerührt werden können; die Unterschiede zwischen so verschiedenen Verfahren wie Hermeneutik, Diskursanalyse, Dekonstruktion, Strukturalismus etc. lassen sich da nicht mehr herausschmecken, sie sollen ganz konsequent nivelliert werden. Man ist nie modern gewesen. Was Meillassoux offenbar ungeduldig macht, ist das Hegen von Komplexitätsverdacht. Ihm ist angesichts so vieler Kompliziertheiten, hinsichtlich diverser Welt- und Subjektverwicklungen, hinsichtlich schwieriger Subjektgenesen, hinsichtlich der Verwerfungen von Außen- und Binnengeschichten des Menschen sozusagen das Ockham’sche Rasiermesser in der Hosentasche aufgesprungen.

Ekardt: Eine letzte Frage: Gibt es eine Komplementarität von Finanzspekulation und dem aktuellen spekulativen Denken dahingehend, dass quasi fundamentalisierende Spekulationsformen entstehen zu einem Zeitpunkt, an dem die andere Form von Spekulation in die Zukunft flüchtet und die Gegenwart potenzialisiert in dem Sinne, dass sie sie als einen Möglichkeitsraum redefiniert? Vielleicht ist das zu symmetrisch gedacht?

Vogl: Na gut, die interessantesten Vergleiche sind eben die zwischen Äpfeln und Birnen. Wenn „Spekulation“ von lat. speculari, „ausspähen“, „Ausschau nach Gefahren halten“ bedeutet und wenn sich im spekulativen Satz der Philosophie eine Überschreitung des Gemeinsinns und eine Vernichtung endlicher Phänomene vollzieht, so lassen sich in philosophischer und finanzökonomischer Spekulation Verfahren erkennen, die sich nicht auf die Repräsentation, sondern auf die Risiken einer De-Präsentation von Welt beziehen. Zugespitzt formuliert: Während ein „spekulativer Realismus“ Gefahr läuft, seine vorhandenen Realitäten spekulativ zu verlieren, kann sich die Finanzspekulation zugute halten, Realitäten, die nie vorhanden waren, spekulativ zu gewinnen.

Anmerkungen

[1]Joseph Vogl, „Taming Time. Media of Financialization“, in: Grey Room, 46, 2012, S. 72–83.
[2]Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Berlin/Zürich 2010.
[3]Quentin Meillassoux, „Metaphysik, Spekulation, Korrelation“, in: Armen Avanessian (Hg.), Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 23–56.