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Douglas Coupland

Bohemia = Utopia?

Angefangen mit dem popnihilistischen Klassiker „Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“ (1991), hat uns der Schriftsteller und bildende Künstler Douglas Coupland vor und seit der Jahrtausendwende mit Sprache versorgt, mit der sich die nahe Zukunft beschreiben lässt.

Im folgenden Essay filtert der kanadische Autor die Slacker-Bohème unseres jüngeren Selbst durch die hyperverlinkte Linse der Gegenwart.

Wann immer ich das Thema Bohemismus anspreche, ist die kollektive Reaktion durchweg: „Was heißt hier bohemistisch?! Was meinst du überhaupt damit? Ach, vergiss es, die Diskussion fange ich gar nicht erst an!“, sodass klar ist, ich muss auf etwas gestoßen sein. Wir alle wissen doch, was mit bohemistisch gemeint ist: ein Leben jenseits der Konventionen, eine Existenz, die nicht viel Stabilität bietet, uns aber dafür die Freiheit lässt, zu reisen und unter anderen Bohemians zu leben. Beschreibt das nicht die meisten Freiberufler in der Kunstwelt – all jene, die auf gelegentliche Verkäufe, Stipendien, Residencies, Billigflüge zwischen Berlin, London und New York, sporadische Lehraufträge und das Einkommen ihres Partners oder ihrer Familie angewiesen sind? Mir stellt sich die Frage, was uns an dieser geläufigen Definition so missfällt. Wenn ich da an etwas gerührt habe, ist es wohl die kollektive Erkenntnis, dass die bürgerliche Mittelschicht genau wie das antarktische Schelfeis mit schockierender Geschwindigkeit schrumpft und in 15 bis 20 Jahren höchstwahrscheinlich verschwunden sein wird. Stattdessen werden wir, wie es scheint, ein neues Klassengefüge haben, das die Vorstellung von bohemistischer Freiheit grundsätzlich verändern und zugleich deren Möglichkeiten deutlich beschneiden wird.

Eine voll vernetzte Welt kommt ohne ­Mittelschicht aus.

Dieses Szenario war Ende der 1980er leicht heraufbeschworen. In Echtzeit die Erosion der Mittelschicht zu beobachten, war etwas schwerer zu ertragen. Aber da kaum jemand vor dem drohenden Untergang der Mittelschicht die Augen verschließt, besteht die Magie des Moments darin, dass überall hektisch gerätselt wird, was als Nächs­tes kommt. Ich würde sagen, es ist die „Blank-Collar-Klasse“. Blue Collar war Fordismus. White Collar war „Hi! Wir schreiben 1978, und ich bin Reiseberater!“ Blank Collar bedeutet – und bitte gut hinhören, denn so sieht der Rest eures Lebens aus –, wenn du nichts Vernünftiges gelernt hast (Chirurg, Bäcker, Klempner), kannst du dich darauf gefasst machen, deinen Lebensunterhalt mit verschiedensten semigelernten Dienstleis­tungen wie Massieren, Rasenmähen, Babysitten zu verdienen, und zwar bei all denen, die wirklich etwas können, oder bei den Besitzern von Produktionsmitteln bzw. der Kupfermine oder bei den Schönen und Charismatischen. Und der Clou: Die eine Sache, die all das erträglich machen wird, ist ständiger ultraschneller W-LAN-Zugang. Im 21. Jahrhundert sind fast alle Daseinszustände tragbar, solange du mit diesem Ding verbunden bleibst, das aus dir mehr als einen Menschen macht.

Fliegt mit dem Flugzeug, solange ihr noch könnt.

In den 1990ern wurden Leute, die sich der Norm verweigerten, dämonisiert, weil sie sich nicht an die Spielregeln des Kapitalismus hielten: „Die suchen sich keine anständigen Jobs! Für wen halten die sich?!“ Solche Geißelungen wirken heute, wo wir uns kaum noch sicher sind, was Kapitalismus eigentlich ist, rührend nostalgisch. Regisseur Richard Linklater hat über Slackertum gesagt: „Sich angewidert abzuwenden ist nicht dasselbe wie Apathie.“ Und da hatte er Recht. Wenn wir uns nach den frühen 1990ern zurücksehnen, dann deshalb, weil wir uns eine Zeit zurückwünschen, in der das angewiderte Abwenden von der Main­streamkultur wie auf Knopfdruck funktionierte und keine gravierenden ökonomischen Konsequenzen hatte. Slackertum – Bohemismus – bedeutet, ein Ideal zu haben, dass einem einige Abstriche bei der Bequemlichkeit wert ist. Bohemismus bedeutet, keinen Achtstundentag zu wollen. Bohemismus bedeutet mehr Sex mit cooleren Partnern, Bohemismus bedeutet wachsbetropfte Chiantiflaschen. Bohemismus bedeutet Syphilis und sich Geld von den Geschwis­tern mit festem Job leihen zu müssen. Bohemismus bedeutet einen frühen Tod an Tuberkulose. Bohemismus ist extrem klischeebesetzt. Für den Mainstream ist Bohemia die Utopie, die Befreiung von hierarchischen Strukturen, ein Ort, an dem sich unser inneres und unser äußeres Selbst kaum unterscheiden, eine Welt, in der immer Halloween herrscht. Bohemia ist ein Stadtteil, den man besucht, wenn man sich unters Volk mischen will, um sich nach Mode­trends umzusehen, zweifelhafte Speisen zu essen und billigen Fusel zu konsumieren und wieder abzuhauen; ist eine Runde auf der Theme-Park-Ride „Klassenlose Gesellschaft“. Klassenlosigkeit hat man immer schon mit Bohème verbunden und rasch idealisiert. In den USA war sie für zwei Jahrhunderte ein weithin geteiltes Ideal, in England für etwa elfeinhalb Jahre; der frühere Ostblock hatte zwar nominell eine klassenlose Gesellschaft, aber in letzter Zeit wird es dort und überall ziemlich „one-percenty“.

Die Bohemians in Bohemia wissen, dass sie Insider sind, und amüsieren sich über die Slummer, die kommen und gehen. Aber vielleicht bist du in Bohemia, weil das Leben dich dort abgeladen hat; Bohemia ist nicht immer Wahlheimat. Vielleicht waren deine Schulnoten nicht gut genug, um es weiter zu bringen. Vielleicht fehlt dir soziale Kompetenz. Vielleicht trinkst du zu viel. Vielleicht hasst dich deine Familie und du sie. Vielleicht machst du gern Experimentalvideos, an denen man einfach nichts verdient. Andererseits vereinen wahrscheinlich alle, mit denen du zu tun hast, mehrere dieser Züge in sich, nehmen ihre schöpferische Arbeit sehr ernst und glauben, „es keinen Tag in der wirklichen Welt aushalten zu können“.

Die wirkliche Welt. Ahhh … da gibt es einen neuen Haken.

Das Dumme ist, dass die wirkliche Welt, der die Menschen entkommen wollen, sich so schnell ändert, dass wir nicht mehr sicher sind, wovor wir uns ins Bohème-Leben flüchten. Derweil wird der Zufluchtsort Bohemia immer kleiner und bekommt ein anderes Gesicht. In den Nischen wird es eng. Das Pärchen, das in dem Gebäude, in dem du arbeitest, am anderen Ende des Flurs wohnte, ist weggezogen. Die beiden verkaufen ihre Stricksachen jetzt über Etsy und wohnen auf Long Island, wo sie etwas Günstiges zur Miete gefunden haben. Der durchgeknallte Typ von unten, der immer diese großformatigen Color-Field-Bilder machte, nimmt neuerdings Effexor und macht Webdesign für Schering-Plough. Und die Kids mit der Pop-up-Galerie? Das sind Millennials. Es fällt ihnen schwer, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Sie vermischen locker die wirkliche Welt und das Internet und sehen zwischen beidem keinen großen Unterschied. Sie leben online. Sie haben Blogs, die monatlich von 277 exklusiven Besuchern gelesen werden, und zwar für eine durchschnittliche Verweildauer von sechs Minuten und vier Sekunden.

Douglas Coupland, “Always One Step Ahead of You Euroboy”, 2014

Millennials suchen sich eine Stadt aus, sagen wir San Francisco, besuchen die Websites sämtlicher Galerien dort und klicken sich dann akribisch und gefräßig durch jedes einzelne JPEG jedes Exponats jedes Künstlers, um sich anschließend ihre Favoriten zu kopieren. Dann pflügen sie sich durch sämtliche Galerien der nächsten Stadt und häufen schließlich ein stupendes Wissen darüber an, wer wo was macht, auf dessen Grundlage sie anschließend ihre eigene künstlerische Haltung zu Abstraktion, Performance oder Installation zu finden versuchen und sich in einer kleinen Branding-Nische einrichten, in der sie selbst JPEGs produzieren, die von wieder anderen Millennials konsumiert werden, die genauso sind wie sie. Eine gängige Sache. Diese Millennials mit der Pop-up-Galerie haben sich allerdings getrennt: Einer entwickelt jetzt freiberuflich Charaktere für eine koreanische Avatar-Fließbandproduktion; eine andere arbeitet für zwei Tage die Woche als Assistant Arts Administrator in einem kleinen Museum, dessen Budget im nächsten Monat per Volksentscheid um die Hälfte gekürzt werden wird, und die dritte verbringt nun die meiste Zeit mit Online-Gaming und wird finanziell von ihrer Schwester, der Zahnärztin, unterstützt. Das Leben dieser Millennials beginnt Ähnlichkeiten mit dem der japanischen Hikikomori zu zeigen – mit Kindern, die volljährig werden, zu Hause ausziehen und schnurstracks ins Elternhaus zurückkehren, um ihre Kinderzimmer nie mehr zu verlassen. Nie mehr. Es gibt in Japan rund 750 000 Hikikomori, die zu einem immensen, wenn auch faszinierenden Problem zu werden drohen. Wenn bei der Tokioter Polizei ein Anruf wegen häuslicher Gewalt eingeht, denkt man nicht zuerst an einen Mann, der seine Frau schlägt, wie in den USA. In Japan geht die Polizei davon aus, dass ein Hikikomori einen Elternteil misshandelt. Der Slacker von 1992, der in einer Souterrainwohnung haust und im nächsten Plattenladen arbeitet, scheint von den bizarren Entwicklungen auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die sich zurzeit in erschreckendem Tempo vollziehen, Milliarden Kilometer weit entfernt zu sein.

Und es wird schwerer, diese Ausgrenzung in ein glamouröses Licht zu tauchen, die Peripherie zu romantisieren, einen „bohemistischen“ Lebensstil zu idealisieren, der oft nichts anderem geschuldet ist als genetischer Disposition, krankhaften Veränderungen im Gehirn, obsolet gewordenen Qualifikationen, uneinheitlichen Einwanderungsbestimmungen, versagenden sozialen Sicherungssystemen, einem Kunstmarkt, der selbst nicht mehr so genau weiß, was er ist (Paddle 8!); dazu kommen Kunsttheorien, die wie alchemistisches Blei-zu-Gold-Gewäsch wirken gegen die endlosen Fluten von Flachheit, Neuzuordnungen und endlosen, unausgesprochenen Sticheleien aus dem Internet, die alle auf eins hinauslaufen: Was bedeutet es eigentlich, ein Mensch zu sein? Warum sind wir überhaupt hier? Camus sagte, wir seien das einzige Tier, das sich weigert, zu sein, was es ist. Während sich das Internet entwickelt, zeigt es uns im Schnellvorlauf so viele neue Wege, dass uns immer schleierhafter wird, wer oder was wir sind und warum wir existieren. Atomisiert uns das Internet in sieben Milliarden schwerelos herumschwebende Individuen? Oder ist ins Internet zu gehen eine einsame Tat, die den herrlich kontra-intuitiven Effekt hat, völlig neue Arten von Gruppen zu schaffen bzw. zu verstärken – nicht bloß die Flashmobs Mitte der Nullerjahre, sondern Sammler von Nazisuppentellern und religiöse Splittergruppen? Ich weiß, wo du bist. Ich weiß, wo ich bin … und wo ich war. Du weißt, dass ich letzten Monat ein Paar Lance-Armstrong-Nikes gekauft habe, weil es sie 70 Prozent billiger gab. Sie wissen, dass du aus irgendeinem Grund letzten Monat einen Flachbildfernseher zurückgegeben hast … Halt! – Sie kennen den Grund, denn deine Metadaten verraten, dass du gefeuert wurdest oder dich gerade von deinem oder deiner Ex getrennt hast.

Aber wer sind sie, und wer bist du? Und dann gibt es da diese ganzen verrückten Metadaten über dich und mich und sie, die allesamt zu faszinierenden kapitalistischen Überwachungsentitäten umgerechnet und umgemodelt werden, die uns mit uns selbst rückkoppeln. Und ist es nicht unheimlich, wie seltsam entbehrlich wir in unseren Jobs geworden sind? Ein Patzer, und du bist raus aus dem Spiel – aber Moment mal, wenn man raus aus dem Spiel ist, wohin dann? Den schönen Stadtteil Bohemia gibt es nämlich nicht mehr. Der Underground ist jetzt oben in der Cloud, und seine physischen Erzeuger unten auf der Erde tun alles, um nicht ins Raster zu geraten, während sie zugleich genauso internetsüchtig sind wie jeder andere auch, dessen Hirn durch dessen Interfaces und Muster neural strukturiert worden ist.

Douglas Coupland, “She’s A Good Girl Loves Her Boyfriend”, 2014

Jeder auf der Welt empfindet genauso wie du.

Eine der Fähigkeiten der Kunst ist es, die Welt, in der du lebst, auf eine neue Art zu ordnen, so dass das, was einst die alltägliche Welt war, zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Etwas, das zuvor unsichtbar war, zeigt sich. Wir können zu thingsorganizedneatly.tumblr.com gehen. Wir können uns unendliche viele Seiten mit originellen und schönen Gifs ansehen. Wir können auf unser Crohn-Diskussionsforum gehen. Wir können unsere Konversion zum Dschihadisten planen. Wir können uns unglaublich spezialisierte Pornos ansehen. Wir können uns Kätzchen anschauen, Skateboard-Gesichtsklatscher und Zugfahrten durch Norwegen in Echtzeit oder beschleunigt. Wir können uns aus uns heraus versetzen – überallhin. Wir können uns ein Netzwerk von Freunden und Intimfeinden und gewohnheitsmäßigen Must-See-Links anlegen. Klassendenken und Bohemismus verändern ihre Form im Tandem, aber eben nur in unseren Köpfen und in der Cloud, während jeder, den du draußen auf der Straße siehst, sauber und gepflegt ist und wahrscheinlich ein ironisches T-Shirt trägt, denn wo immer du heute Ironie siehst, hast du „Bohemia“ gefunden.

Übersetzung: Clara Drechsler