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Verlorene Lebensspuren Ein Gespräch über Indexikalität in analoger und digitaler Fotografie zwischen Isabelle Graw und Benjamin Buchloh

Google-Bildersuche zu "Thomas Ruff Portraits“

Keine Fototheorie ohne die Frage der Indexikalität: Die einflussreichen Arbeiten von Roland Barthes, Susan Sontag und Rosalind Krauss hallen in diesem Medium zweifellos nach. Und während heute kaum noch jemand tatsächlich an die Wahrheitsbehauptung der Fotografie glaubt, erneuert sie doch jeden Tag ihr falsches Versprechen der Authentizität.

Wie kann man heute also über das Verhältnis der bildlichen Darstellung zu ihrem externen Referenten sprechen? Blickt man aus heutiger Sicht anders auf die Fotografiegeschichte, auf die ikonischen Werke der Bechers oder des Neuen Sehen? Und sind es andere Fragen, die sich im Zeitalter der wuchernden Bilder, der routinierten Abbildung (und Beschönigung) des Selbst und des Anderen stellen mögen? Im Folgenden spricht Isabelle Graw mit Benjamin Buchloh nicht nur über die semiologische Deutung des fotografischen Bildes, sondern auch über seine Möglichkeiten der Subjekt­konstitution.

Isabelle Graw: Ich denke, es könnte zunächst einmal hilfreich sein, in einem ersten Schritt den Begriff der Indexikalität zu klären wie auch unser jeweiliges Verständnis von ihm. In einem zweiten Schritt könnten wir dann der Frage nachgehen, ob fotografische Bilder tatsächlich einen indexikalischen Bezug zur Wirklichkeit haben. Der Index ist ja ein Fachbegriff der Semiotik und bezeichnet ein Zeichen, dessen Besonderheit darin besteht, dass es eine physische Verbundenheit zu den Dingen, über die es etwas zeigt, aufweist. Rauch als Hinweis auf Feuer wird hier gerne als Beispiel genannt. Charles S. Peirce hat diesen Aspekt der physischen Verbindung stets hervorgehoben: „Der Index ist physisch mit seinem Objekt verbunden, sie bilden ein organisches Paar“ [1] , heißt es bei ihm. Als Beispiel für diese Zeichenklasse nannte Peirce jedoch unter anderem Fotografien, da diese „Punkt für Punkt“ dem Original entsprechen würden.  [2] Peirces Erwähnung der Fotografie an dieser Stelle war meines Erachtens ­ausgesprochen folgenreich. In der Kunstwissenschaft gilt sie seither als die indexikalische Kunstform par excellence. Denn durch den Lichtabdruck, der in der Aufnahme genommen wird, scheint das fotografische Bild tatsächlich kausal mit seinem Objekt verbunden zu sein. Der Eindruck von Unmittelbarkeit, den fotografische Bilder erzeugen, ist jedoch meiner Meinung nach, und deshalb sage ich scheint, ein medialer Effekt. Durch den fotografischen Aufzeichnungsmechanismus von Lichtverhältnissen wird ein authentischer Lebensbezug suggeriert, der so natürlich nicht gegeben ist. Folglich würde ich den Eindruck, dass fotografische Bilder Lebensspuren mit sich führen, auf Indexeffekte zurückführen wollen, die sich sowohl einer technischen Apparatur verdanken, sich also automatisch einstellen, als auch von den Fotografinnen/Fotografen oder den Künstlerinnen/Künstlern bewusst erzeugt und getriggert werden können. Wärest du mit einer solchen Akzentverschiebung von Indexikalität auf Indexeffekte  [3] in der Fotografie einverstanden?

Benjamin Buchloh und Isabelle Graw

Benjamin Buchloh: Ich glaube, wenn ich dich richtig verstehe, dass du die semiologische Definition der Fotografie etwas zu kurz gefasst hast; denn schließlich war es das Geheimnis oder die Verführung der Fotografie bis zur Ankunft der digitalen Produktion, dass sie eben gleichzeitig indexikalisch wie auch hochgradig ikonisch repräsentierte, das heißt, in ihr operierten beide Grundbegriffe von Peirce in tandem. In diesem Kontext ist es natürlich sehr produktiv, sich daran zu erinnern, dass diese Dualität der fotografischen Abbildung in den Hochzeiten der Fotografie, also in der Mitte des 19. Jahrhunderts und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, im Zentrum der Reflexion und der Praxis stand: Anna Atkins und Fox Talbot waren zum Beispiel gleichermaßen von den rein indexikalischen wie von den ikonischen Dimensionen der Fotografie fasziniert. So betonte Fox Talbot beide Dimensionen der Fotografie als gleichwertig und konstitutiv für das fotografische Abbild. Diese Dualität wiederholt sich dann z. B., allerdings in weit ausgeführteren Argumenten, in den zwanziger Jahren in der Debatte zwischen László Moholy-Nagys deklariertem Neuen Sehen und Albert Renger-Patzschs Neuer Sachlichkeit. Moholy beanspruchte, dass der Verismus der indexikalischen Lichtspur Garant für eine neue, unvermittelte Materialität sei, und argumentierte für einen neuen, technologischen und nicht subjektiv vermittelten Realismusbegriff, der weit über die traditionellen Konzepte der Darstellung hinausweise. Bei der Neuen Sachlichkeit hingegen, wie wir schon in Benjamins „Kleiner Geschichte der Photographie“ lernen konnten, war der Realismusbegriff schon wieder viel traditioneller und auf die ikonische Dimension der Bilder und ihrer narrativen Strukturen reduziert worden, die eben längst nicht mehr an einer direkten Aktivierung des Betrachters durch indexikalische Konfrontation und Teilnahme interessiert waren, sondern vielmehr auf die piktorialen Ressourcen eines früheren darstellenden und narrativen Realismus zurückgriffen, eben einer rein ikonografischen Konzeption des fotografischen Bildes. Man kann diese Bewegung hin zur Konventionalisierung sehr gut in einer dritten Geschichte der Fotografie nachvollziehen, die sich in Düsseldorf zwischen 1960 und 1980 ereignet hat. Die Systematik der Bechers und die Stringenz ihrer radikalen Beschränkung auf sehr spezifische und bestimmte historische Architekturstrukturen hatten durchaus eine Dimension, in der das Indexikalische der Fotografie als ein aufzeichnendes Korrelat dieser Strukturen noch zentral fungierte. Erst im Werk der Becher-Schüler wird dann das Narrative und Traditionelle der Ikonizität (z. B. in Form eines Wiederaufgreifens der Genres „Porträt“ oder „Landschaft“) wieder voll mobilisiert.

Graw: Sicherlich war Fotografie immer schon mehr als eine Sache der Indexikalität – daher mein Vorschlag, von „Indexeffekten“ zu sprechen. Und ich würde argumentieren, dass die Genres „Porträt“ und „Landschaft“ auch in den Foto­serien der Bechers latent mitschwingen. Anders als du würde ich die Geschichte von den Bechers zur sogenannten Becher-Schule nicht als eine Verfallsgeschichte schreiben wollen, sondern vielmehr zeigen, dass und wie bestimmte ikonische Tendenzen in der Arbeit der Bechers bereits angelegt waren, die ihre Schüler dann allerdings isolierten und zuspitzten. Es stimmt zwar, dass die Bechers mit ihren Fotos eine Art industrielle Archäologie betrieben haben, dass sie mehr noch Serialität und Systematik großschrieben und grundsätzlich sehr spezifische Typen von immer menschenleeren Industrieanlagen in unspektakulären Landschaften bei zumeist grauem Himmel fotografierten, was eine Neutralisierung bewirkt, so als sollte das aufzeichnende, bloß registrierende Moment dieser Fotografie unterstrichen werden, so als habe sich das Künstlersubjekt in ihr ausgestrichen. Bei genauerer Betrachtung liegen die Dinge jedoch komplizierter, denn die Industrieanlagen, ich denke hier an die Serie der Förder- und Wassertürme, steigen gleichsam zu den Hauptakteuren dieser Bildserien auf – nichts lenkt von ihnen ab, sodass sie auch in ästhetischer Hinsicht zu ihrem Recht zu kommen scheinen. Man kann eben auch ihre Physiognomie studieren, vergleichbar den Porträts eines August Sander. Für diese personifizierende Sicht auf die Industrie­anlagen spricht auch die Wortwahl der Bechers, die vorgaben, zum „Wesen“ ihrer Objekte vordringen zu wollen, und einzelne Gebäude „besser kennen lernen“ und dann vergleichen wollten. [4] So spricht man gewöhnlich von Personen – sie machten gleichsam ein Porträt von ihnen. Und dieses Moment des Porträts, das wie bei Sander um Klassifizierung und Typologisierung bemüht ist, wird später, etwa von Thomas Ruff, isoliert, monumentalisiert und mit der antiexpressiven Ästhetik des New Wave verknüpft. Wo du Brüche siehst, sehe ich die Fortführung von etwas, was bereits angelegt war. Das Genre „Porträt“ und das auktoriale Künstlersubjekt, das bestimmte Einstellungen vornimmt, kehren doch auch im Werk der Bechers durch die Hintertür zurück?

Bernd und Hilla Becher, „Wassertürme“, 1965–1982

Buchloh: Ich sehe die Bechers doch in einer anderen Weise, obwohl mir dein Argument höchst interessant erscheint. Eben in ihrer radikalen Beschränkung auf sehr spezifische Architekturen und menschenleere Räume hatte ihre Fotografie ja gerade diese extreme Dialektik erzeugt, in der sowohl der neusachliche Anspruch als auch der Anspruch der Dokumentarfotografie historisch relativiert, wenn nicht sogar völlig aufgehoben worden waren. Das heißt, ihre konzeptuelle Radikalität resultierte aus der Einsicht, dass weder Sander noch Renger-Patzsch noch das Neue Sehen von Moholy in der Nachkriegszeit in Deutschland und Europa noch Gültigkeit beanspruchen konnten. Die Starre der Bechers in ihrer doppelten Verneinung ist es ja gerade, was ihrer Arbeit eine ungemein komplexe epistemologische Differenz zu den vorausgegangenen fotografischen Praktiken in Deutschland verliehen hatte. Darin sind sie aber auch mit der fotografischen Praxis von Ed Ruscha vergleichbar, der ja auch die vermeintlich transhistorische Relevanz aller fotografischen Konventionen und fotografischen Sujets in seinen Büchern seit 1962 völlig erledigt hat. Im Vergleich dazu haben die Becher-Schüler sich eben doch einer beträchtlichen Konventionalisierung hingegeben; sie sind eben sehr gute Fotografen geworden, deren künstlerisches Potenzial im Rückblick vergleichsweise weniger radikal erscheint.

Graw: Aufgrund ihres Automatismus wird die Fotografie in der Kunstwissenschaft gewöhnlich als eine Kunstform angesehen, die die Bedeutung der Autorschaft relativiert. Zuletzt hat Robin ­Kelsey ihre Wirkungsmacht mit Adam Smiths Metapher der unsichtbaren Hand umschrieben und mehr noch den Zufallscharakter dieses Mediums, „the chance nature of the medium“, hervorgehoben. [5] Auch der Index läuft auf eine automatische, physische Selbsteinschreibung des Objekts hinaus, die nicht notwendigerweise die Anwesenheit eines Autors voraussetzt und deshalb eine Leerstelle der Subjektivität und Intentionalität anzeigt. Entsprechend wurde der Index, etwa von Rosalind Krauss in „Notes on the Index“, als antisubjektives Verfahren aufgefasst, das die geisterhaften Spuren verschwundener Objekte festhält.  [6] Würdest du an diesem autorkritischen Indexverständnis auch heute noch festhalten wollen?

Marcel Duchamp, „3 stoppages étalon“ (3 Standard Stoppages, Detail), 1913/14

Richard Serra, „Splash Piece: Casting“, Jasper John’s Studio, New York, 1969/ 70, Installationsansicht

Buchloh: Nein, natürlich kann man das nicht mehr aufrechterhalten, obwohl die Gründe für das Verschwinden der indexikalischen Radikalität als antisubjektiver Operation wohl noch weiter ausgeführt werden müssten. Die ganz großen Momente einer performativen Indexikalität, angefangen von Marcel Duchamps „3 stoppages étalon“ im Jahre 1913 über Robert Rauschenbergs „Tire Print“ (den er mit John Cage ausführt) bis hin zu Richard Serras „Splash Pieces“ ab 1968, hatten doch in der Tat eine wichtige Agenda, die man nicht unterschätzen sollte, auch wenn diese Projekte nun im Nachhinein als völlig obsolet erscheinen möchten. Deren Entsubjektivierung der malerischen und plastischen Produktionsgesten beinhaltete ja nicht nur eine antiauktoriale und im höchsten Sinne partizipatorische Antiästhetik, sondern in allen drei Fällen wurde auch die (post)surrealistische Hoffnung, eine Befreiung durch und mit den Mitteln der vermeintlichen Freisetzung des Unbewussten im Sinne André Bretons außerhalb der Register der technischen Kontrollregime anzusiedeln, als falsches Versprechen disqualifiziert. Dies allerdings sind nicht mehr unsere Fragen oder Herausforderungen in einer Gegenwart, in der die vermeintlich radikale Reduktion auf den performativen Index purer Präsenz oder purer Produktion längst zum Standardarsenal der Spektakelkultur gehört.

Graw: Kann man die Arbeiten dieser Künstler wirklich einer antiauktorialen Ästhetik zurechnen, wo sie doch ihre künstlerischen Versuchsanordnungen in allen drei Fällen jeweils selbst initiiert und angestoßen haben? So hat z. B. Robert Rauschenberg in der von dir erwähnten Arbeit „Tire Print“ (1953) durchgehend Regie geführt, also die Papierblätter zusammengeklebt, schwarze Farbe besorgt und seinen Freund John Cage darum gebeten, mit seinem Ford Modell A vorbeizukommen, um über diese auf der Straße ausgelegte Blattreihe zu fahren. Das daraus resultierende Motiv der Reifenspuren ist nicht nur Resultat einer spezifischen Versuchsanordnung, die der Künstler veranlasst hat. Es trägt mehr noch die Spuren von John Cage, einer renommierten und einflussreichen Künstlerfigur in sich, oder genauer, seiner Fahrweise und seines Autos. Könnte man nicht sagen, dass der autorkritische Zug dieser Arbeit kompensiert wird, und zwar durch die geisterhafte Präsenz von John Cage in ihr?

Buchloh: Aufregend schön, dass wir solche Differenzen haben: Man muss aber schon die Umstände berücksichtigen, die notwendig waren, um den „Tire Print“ auszuführen – so etwa die damals vorherrschenden Konventionen der postautomatischen Malerei –, um die spezifischen Qualitäten der Rauschenberg/Cage-Intervention zu situieren. Das heißt, man muss diese Intervention im ausdrücklichen Gegensatz zur Mythologie und den heroischen Ambitionen von Pollock oder Barnett Newman verstehen, die zu dieser Zeit investiert worden waren. Es wäre ebenso falsch, die willentlich komplizierten (und zutiefst ironischen) Vorbereitungs-, Ausführungs- und Ausstellungsakte von Duchamps „3 stoppages étalon“ als neuerliche Affirmation der Autorenschaft und der Produktion zu lesen, statt sie vor allem anderen als einen brillanten dekonstruktiven Kommentar zum hohen Anspruch des Kubismus zu erkennen.

Albert Renger-Patzsch, „Aluminiumtöpfe, Warenhaus Schocken, Zwickau“, 1926

Graw: Ich habe „Tire Print“ nicht als Affirmation von Autorschaft gelesen, sondern vielmehr argumentiert, dass das Prinzip Autorschaft in dieser Arbeit gleichsam verschoben und indirekt wieder auftaucht, und zwar in Form der Farbspuren, die das von John Cage gefahrene Auto hinterlassen hat. Was deinen anderen Punkt betrifft, gebe ich dir Recht: Das, was in einer künstlerischen Arbeit auf dem Spiel steht, kann man nur angemessen nachvollziehen, wenn man sie historisch situiert. Heute leben wir jedoch in einer digitalen Welt. Würdest du der Beobachtung zustimmen, dass es in dieser Welt keine Indices mehr gibt, weil deren Existenz analoge Aufzeichnungstechniken voraussetzt? Oder könnte man die Datenspuren, die digitale Bilder hinterlassen, auch als Indices charakterisieren?

Buchloh: Da bin ich wohl etwas überfragt, da ich mich wirklich in keiner Weise mit dem Einfluss der Digitalisierung auf fotografische Theorie und Praxis beschäftigt habe, und ich sollte wohl vorsichtig sein, wenn ich diese Frage überhaupt zu beantworten versuche. Aber eines scheint sicher, dass mit der Digitalisierung die materielle Basis, welche die analoge Fotografie noch vorausgesetzt hatte, sich völlig gewandelt, wenn nicht sogar aufgelöst hat. Um bei den Düsseldorfer Beispielen zu bleiben: Was an der Arbeit von Andreas Gursky so widerwärtig verführerisch ist und seinen ungeheuren Erfolg in der Welt erklärt, ist natürlich primär die Strategie, eine Verbindung oder gegenseitige Aufhebung der indexikalischen, der ikonischen und der postanalogen fotografischen Semiologie des fotografischen Bildes zu leisten. Somit wird uns eine Welt ohne Kritik und ohne analytische Widersprüche präsentiert, in der das Regime des Spektakels in einer naiven Feier als unwiderstehlich und als unüberwindbar vorgeführt wird, durchaus ähnlich dem naiven Maschinen- und Technologiefetischismus, mit dem Renger-Patzsch seinerzeit die Welt neusachlich verklärt hatte.

August Sander, „Architektenpaar. Der Architekt Hans Heinz Lüttgen und seine Frau“, 1927/ 28

Graw: Es ist sicherlich zutreffend, dass uns Gurskys Bilder eine Welt ohne Kritik präsentieren. Ich bin nur nicht sicher, ob man es seinen Bildern zum Vorwurf machen kann, dass sie die Spannung zwischen dem Indexikalischen, Ikonischen und Postanalogen aufheben, zumal sie ja die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz all dieser Zeichenformen demonstrieren. Jeder weiß zudem heute um die Konstruiertheit des digitalen Bildes und vermag seinen authentischen Lebens- und Realitätsbezug routiniert anzuzweifeln. Dennoch stellen sich, etwa beim Selfie, im ersten Moment doch Authentizitätseffekte ein. So sehr ein Selfie auch manipuliert und nachbearbeitet worden sein mag, zielt es doch darauf, Präsenz zu beglaubigen nach dem Motto: Es gibt mich noch, und hier bin ich gewesen. Selfies zehren meines Erachtens vom indexikalischen Potenzial der Fotografie, zumal sie von einem Subjekt vor der Kamera veranlasst wurden. Vielleicht geht es bei der Bearbeitung und Verschönerung dieser Bilder eben darum, ihnen Leben einzuhauchen und sie zu beseelen, und zwar in dem Moment, wo ihr Lebensbezug lockerer geworden ist?

Buchloh: Die Frage, ob am Selfie noch Indexikalität auszumachen ist, ist schwer zu beantworten, obwohl diese technisch gesprochen durchaus noch gegeben ist. Aber Indexikalität setzte auch ein material- und produktionsbewusstes Subjekt voraus, das vielleicht noch keinen Nutzen für das Bild seines Selbst kannte, wie Walter Benjamin über das Porträt der jungen Pioniere der Sowjet­union sagte, aber zumindest war es eben doch eine Konfrontation eines möglichen Selbst der Zukunft mit den technologischen Möglichkeiten gegenwärtiger fotografischer Produktion. Dieser Horizont eines möglichen neuen Selbst der Zukunft ist unserer Gegenwart wohl in großem Maße abhanden gekommen, und von daher würde ich sagen, dass die materielle Indexikalität des digitalen Bildes eben auch unbedeutend ist – sie war ja schon manifest unbedeutend geworden, als sich Künstler des Surrealismus und später Andy ­Warhol unausgesetzt in die Photomaton-­Automaten setzten. Diese Künstler wussten halt ganz genau, dass die Stunde eines noch indexikalisch und ikonisch reproduzierbaren Subjekts ein für allemal geschlagen hatte, weil die Auslöschung des Subjekts und die Macht der neuen Technologien der Selbsttäuschung aufs intensivste Hand in Hand arbeiteten.

Kanye West und Kim Kardashian, via Instagram, 2015

Graw: Wieso gehst du eigentlich von einer „Auslöschung“ des Subjekts in der Mediengesellschaft aus? Speziell in den 1960er Jahren ging es doch darum, das Subjekt unter medialen Bedingungen neu zu bestimmen – als entfremdetes, gespaltenes, medial vermitteltes, nichtauthentisches Konsumsubjekt –, so etwa bei Warhol, der sich für jedes Detail dieses Subjekts und seiner Lebenswirklichkeit interessierte. Die Mitglieder seiner Factory waren zwar in vielerlei Hinsicht den Bedingungen der Celebrity Culture unterworfen, erkämpften sich darin aber auch neue Handlungsräume, Selbstverständnisse und sexuelle Identitäten. Auch für das Selfie würde ich sagen, dass es sich zwar noch weiter als der Fotoautomat von der Idee des authentischen bürgerlichen Subjekts entfernt hat, da es jetzt möglich ist, das eigene Aussehen radikal zu verbessern und zu beschönigen. Das Subjekt, das sich im Selfie ständig neu selbst erfindet und verändert, ist aber durchaus souverän. Es behauptet sich in ihm, ruft sich in Erinnerung und verweist auf sein Leben, das es sich eben nicht gänzlich von den Bedingungen einer neuen Ökonomie aus der Hand nehmen lassen will, um diesen Bedingungen doch ausgesetzt zu bleiben und ihnen zuzuspielen.

Buchloh: Die Frage der Aufhebung des Subjekts hat doch inzwischen etwas Antiquiertes angenommen, da keines der Versprechen einer emanzipatorischen Erfahrung nach der Auflösung bürgerlicher Subjektkonventionen auch nur die geringste Glaubwürdigkeit behalten hat. Hier würde ich mich den Prognosen der Frankfurter Schule immer wieder zuwenden, die eigentlich genau jene Auflösungsprozesse, denen wir gegenwärtig voll unterworfen werden, bis ins Detail vorhergesagt haben: Das einzige Subjekt, das uns öffentlich noch vorgestellt wird, ist das spektakularisierte Substitut des Subjekts, demgegenüber alle Formen traditioneller Subjektformation völlig obsolet und lachhaft erscheinen. Die gegenwärtige Kunstwelt ist der beste Beweis für diese Entwicklung, siehe etwa die kürzlich vorgeführte Symbiose zwischen Kanye West, Steve McQueen und den Kardashians am Los Angeles County Museum of Art. Das ist das neue Subjekt unserer Gegenwart in Fragen kultureller Praxis.

Anmerkungen

[1]Charles S. Peirce, „Die Kunst des Raisonnierens“, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. von Christian J. W. ­Kloesel/Helmut Pape, Frankfurt/M. 2000, S. 191–201.
[2]Ebd., S. 193.
[3]Den Begriff verdanke ich Diedrich Diederichsen, der ihn in der ersten seiner Adorno-Vorlesungen am 17.6.2015 in Frankfurt/M. verwendete.
[4]Vgl. Bernd und Hilla Becher, Die Architektur der Förder-und Wassertürme, München 1971, S. 11–18.
[5]Vgl. Robin Kelsey, Photography and the Art of Chance, Cambridge/Mass. 2015, S. 311f.
[6]Vgl. Rosalind Krauss, „Notes on the Index: Seventies Art in America“, in: October, 3, 1977, S. 68–77.