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Aus Liebe zum Theater Fiona McGovern über siren eun young jungs „Deferral Theatre“ im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf

„siren eun young jung: Deferral Theatre“, Installationsansicht

„siren eun young jung: Deferral Theatre“, Installationsansicht

Mit dem „Yeoseong Gugkeuk Project“ setzt die Künstlerin siren eun young jung sich mit dem Erbe des südkoreanischen Theatergenres Yeoseong Gukgeuk auseinander. Im Nachklang der japanischen Besatzungszeit Ende der 1940er Jahre entstanden, zeichnet sich dieses Genre vor allem dadurch aus, dass alle Figuren von Frauen gespielt werden. Der Düsseldorfer Kunstverein zeigt noch bis Ende Juli eine Auswahl der zwischen Theater, Bewegtbild und Artistic Research angesiedelten Arbeiten von siren eun young jung, die westlich geprägte Genderdiskurse eindrücklich zu durchkreuzen weiß, wie die Kunsthistorikerin und Kuratorin Fiona McGovern befindet.

Ein Theater der Abgrenzung? Ein Theater der Verschiebung? Oder der Verzögerung? „Deferral Theatre“, der Titel von siren eun young jungs Ausstellung im Düsseldorfer Kunstverein, lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen. Schon im Englischen klingt er etwas schräg, grammatikalisch nicht ganz korrekt. Der Titel erzeugt einen kurzen Moment der Irritation, von dem aus sich ein ganzes Spektrum an Assoziationen eröffnet.

Die hier gezeigten Videoarbeiten und Collagen sind Teil des Yeoseong Gukgeuk Project, dem sich die Künstlerin seit über zehn Jahren widmet. Das namensgebende südkoreanische Theatergenre Yeoseong Gukgeuk erlebte seine ‚goldene Zeit‘ in den späten 1940er und 1950er Jahren und zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass alle Figuren von Frauen gespielt werden. Entstanden ist es im Nachklang der japanischen Besatzungszeit, als viele der damals dem Amüsement der Soldaten verpflichteten Frauen ihre Arbeit verloren. [1] Zu seinen Kernmerkmalen zählt die musikalische Form des Geschichtenerzählens, „Pansori“ genannt, ihr Gegenstand ist das Melodram. Im Verlauf der 1960er Jahre begann das Yeoseong Gukgeuk an Bedeutung zu verlieren und ist heute kaum noch existent. Mit dem Yeoseong Gukgeuk Project verfolgt siren eun young jung ein sehr überzeugendes Beispiel künstlerischer Forschung, wodurch sie – zusammen mit ihrer hierzu parallel verfassten Dissertation – maßgeblich zur Aufarbeitung und Bewahrung der Geschichte dieses Theatergenres beigetragen hat.

Ähnlich wie den Ausstellungsbesucher*innen mit dem Titel muss es der Künstlerin mit dem Foto gegangen sein, das den Auftakt ihrer ersten Einzelpräsentation in Europa bildet. Es ist das Foto einer Hochzeitsgesellschaft, auf den ersten Blick nichts Besonderes. Und doch eröffnete sein Fund im persönlichen Archiv der inzwischen verstorbenen Schauspielerin Geum-aeng Cho eine neue Perspektive auf einen siren eun young jung an sich vertrauten Gegenstand. [2] Was sie in den Händen hielt, war das Dokument einer inszenierten Hochzeit zwischen einem nimai, der männlichen Hauptrolle des Yeoseong Gukgeuk (hier gespielt von Cho), und seinem bzw. ihrem (weiblichen) Fan. Das Ensemble und die restlichen Mitarbeiter*innen des Theaters bilden die Hochzeitsgesellschaft. Eine Inszenierung in Drag, das Abbild einer (un-)möglichen Liebschaft, die Darstellung einer Familie auf der Basis der Wahlverwandtschaft. Und damit das Indiz dafür, dass es sich um mehr als ein reines Rollenspiel gehandelt haben mag. [3]

Gezeigt wird das Foto in Form des nur wenige Minuten andauernden, geloopten Ein-Kanal-Videos The Wedding (2012). Mit der Zoombewegung hin zu einem Close-up des Hochzeitspaares werden wir als Betrachter*innen direkt an dieses Moment des Perspektivenwechsels herangeführt, um von hier aus in den vielschichtigen Kosmos des Yeoseong Gukgeuk Project entlassen zu werden.

Die in Düsseldorf präsentierte Auswahl von insgesamt 19 Arbeiten stellt unterschiedliche Momente von siren eun young jungs Auseinandersetzung mit der Tradition und dem Erbe des Yeoseong Gukgeuk dar: sei es in Form eines Reenactments zentraler schauspielerischer Gesten, sei es in Form von Interviews mit Schauspielerinnen unterschiedlicher Generationen, von Archivmaterialien oder der Rezitation einer vor langer Zeit einstudierten Rolle.

Farblich bestimmt ist das Display durch einen breiten Streifen neonpinker Wandfarbe und ein damit korrespondierendes, ebenfalls pinkes Neonlicht. In der Mitte des Raumes steht eine quadratische leere Bühne auf Spiegelfolie, auf die verschiedenfarbige Spotlights gerichtet sind. Während einige hierauf abgelegte Publikationen zu den Arbeiten der Künstlerin zur Lektüre einladen, verstärken die weißen Vorhänge an den beiden Kopfseiten des Raumes den Eindruck einer Aufführungssituation. Nicht zuletzt durch dieses Display schafft die Ausstellung es, trotz aller Videolastigkeit, überzeugend zwischen unterschiedlichen Rezeptionsmodi und Aufführungspraktiken hin und her zu switchen, Theater, Bewegtbild und theoretische Auseinandersetzung immer wieder neu ineinander zu verschachteln. Die Besucher*innen müssen sich ihre eigenen Wege durch die Ausstellung und somit auch durch unterschiedliche Erzählstränge bahnen.

siren eun young jung, „A Performing“, Installationsansicht

siren eun young jung, „A Performing“, Installationsansicht

Das titelgebende Video Deferral Theatre (2018) beispielsweise, das in einem relativ klassischen Black-Box-Setting hinter einem der Vorhänge gezeigt wird, eröffnet einen intergenerationellen Blick auf die Geschichte des Yeoseong Gukgeuk von seinem Höhepunkt bis zu seinem Untergang. Dies geschieht anhand von drei in der Ausstellung auch separat gezeigten, hier neu montierten Arbeiten (Sorry, the performance will be delayed; No more Gagok_beat/less und I am the King, alle 2018). Während eine Vertreterin der ersten Generation von Schauspielerinnen des Yeoseong Gugkeuk wehmütig von jener Zeit spricht, die ihr Leben bedeutet hat – einer Zeit, in der Frauen auf der Bühne, aber auch im Alltag zu ‚Männern‘ wurden und sich auch mal ineinander verliebten, weil das „der Weg der Natur sei“ –, sehnt sich die jüngere Generation nach mehr Solidarität mit der damaligen feministischen Bewegung. Dragking AZANGMAN etwa hebt das Freiheitsgefühl hervor, das die Bühnenperformance bieten kann, gerade für Menschen, die sich nicht im binären Geschlechterverhältnis verortet sehen. Schauspielerinnen wie Cho gelten heute als „living monuments“ für die junge LGBTQIA*-Szene in Südkorea. [4]

Die immersiv angelegte audiovisuelle Installation A Performing by Flash, Afterimage, Velocity, and Noise (2019) auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes geht noch einen Schritt weiter. In ihr werden keine direkten Bezüge zum Yeoseong Gukgeuk mehr artikuliert, sondern Elemente aus der Theaterpraxis und Clubkultur virtuos ineinander verblendet. Für diese künstlerische Praxis hat siren eun young jung mit „Performing“ einen Neologismus gewählt, der durch seine Nähe zu „Performance“ einen weiteren Irritationsmoment erzeugt. Die in der Drei-Kanal-Videoarbeit nacheinander auftretenden Protagonist*innen sind die Schauspielerin Yii Lee, die von der mangelnden familiären Akzeptanz ihres lesbischen Outings berichtet; die im Rollstuhl sitzende Performerin Seo Ji Won, die auch als Mitglied der Disabled Women’s Theatre Group Dancing Waist bekannt ist; die im Rahmen der Eröffnung auch live spielende transgender Soundkünstlerin KIRARA und der bereits erwähnte Dragking AZANGMAN. Strobo-Effekte, schnelle Schnitte und der laute, treibende Technobeat von KIRARA (der nur dann durch melodischere Sounds unterbrochen wird, wenn sie selbst als Performerin auftritt) schaffen eine von Melancholie und Ekstase gleichermaßen bestimmte Intensität, die in ihrer physischen und akustischen Präsenz außerordentlich einprägsam ist.

Gezeigt wurde diese Arbeit zuerst auf der Venedig-Biennale 2019. Dort vertrat siren eun young jung zusammen mit Jane Jim Kaisen und Hwayeon Nam unter dem Titel History Has Failed Us, but No Matter [5] den Koreanischen Pavillon und mag damit einem europäischen Publikum erstmals aufgefallen sein. Der von Hyunjin Kim kuratierte Pavillon warf die Frage auf, wer an den Kanonisierungsprozessen von Geschichte beteiligt ist und wessen Körpern es in dieser Geschichte nach wie vor an Sichtbarkeit mangelt. [6] Mit dem Yeoseong Gugkeuk Project spürt siren eun young jung vor allem einer queeren Geschichte nach, die im Rahmen dieses Projekts auch als solche benannt wird, und sucht, wie besonders ihre jüngsten Arbeiten zeigen, nach Anschlussmomenten für die Gegenwart. Durch die wiederholte Zusammenarbeit mit denselben Performerinnen* wie AZANGMAN und KIRARA schafft siren eun young jung nicht zuletzt ein neues Ensemble und mit jeder Ausstellung eine neue Bühne für eben jene Körper, die noch in die Geschichte einzuschreiben sind und zugleich immer schon da waren.

Sie selbst hat als Studentin zu Zeiten des sogenannten campus feminism in Seoul Anfang der 1990er Jahre ihren Geburtsnamen durch „siren“ ersetzt. Dies geschah einerseits, um sich Festschreibungen in Bezug auf Gender und Klasse zu entziehen, andererseits ist es als klares feministisches Statement zu verstehen: Galt der betörende Gesang der Sirenen in der griechischen Mythologie schließlich dazu, vorbeifahrende Seefahrer zunächst anzulocken und dann zu töten. So gelingt es der Künstlerin immer wieder, westlich geprägte Genderdiskurse mit den ‚Outlaws‘ der südkoreanischen Gesellschaft und Kultur auf produktive Weise zusammenzubringen. [7] Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch, dass die bislang umfassendste Monografie zu siren eun young jungs Yeoseong Gukgeuk Project, in die sie auch Teile ihrer Dissertation einfließen ließ, 2016 unter dem Titel Trans-Theatre veröffentlicht wurde. Stärker noch als der Begriff „trans“ und anders als „anomalous“, wie die Künstlerin ihn im Titel einer ihrer Performances verwendet, [8] zeichnet sich der in Düsseldorf titelgebende Begriff „deferral“ durch eine stärker zeitliche Dimension aus: Neben der „Abgrenzung“ und „Verschiebung“ ist es das Moment der Verzögerung im Sinne einer Unterbrechung, das für die Ausstellung maßgeblich ist. Insofern scheinen alle drei eingangs vorgeschlagenen Übersetzungsmöglichkeiten dieses Begriffs ihre Berechtigung zu haben, mehr noch: Der hier vertretene Theaterbegriff wehrt sich gegen jede Form von Festschreibung und markiert zugleich ein nicht lineares Verständnis von Geschichte.

„siren eun young jung: Deferral Theatre“, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 28. Februar bis 26. Juli 2020.

Fiona McGovern ist Kunsthistorikerin, Autorin und Kuratorin. Sie lehrt als Juniorprofessorin für Kuratorische Praxis und Kunstvermittlung an der Universität Hildesheim.

Image credit: Katja Illner

Anmerkungen

[1]Dazu zählen auch die sogenannten Comfort Women, um deren Entschädigung es einen bis heute anhaltenden Streit zwischen Südkorea und Japan gibt. Japan hat mit dem bereits 1914 gegründeten und noch heute aktiven Takarazuka Revue ein eigenes, nur von Frauen besetztes Theatergenre. Auch wenn dieses einige Parallelen zum Yeoseong Gukgeuk aufweist, unterscheidet es sich zugleich in seiner Entstehungsgeschichte und weiteren Entwicklung.
[2]siren eun young jung, „Preface“, in: Trans-Theatre, Seoul: Art Space Pool/Forum A, 2016, S. 185f.
[3]„I felt in my bones that there are certain things that only clearly rise to the surface of a space that is jumbled and uncertain due to this ,rupture‘“, schreibt siren eun young jung über diese Entdeckung, in: Trans-Theatre, S. 186.
[4]Vgl. Hyunjin Kim in ihrer Onlinepräsentation anlässlich des „Afterall Journal Issue 49 Launch“ am 25.06.2020.
[5]Der Titel geht zurück auf den ersten Satz aus Min Jin Lees Roman #KPachinko#K, New York 2017.
[6]Vgl. http://www.korean-pavilion.or.kr/19pavilion/exhibition.html (gesehen am 20.06.2020).
[7]Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass siren eun young jung einen MA in Feminist Art Theory bei Griselda Pollock abgeschlossen hat und im Zuge der Ausstellung während des Lockdowns eine von Mi You zusammengestellte Literaturliste zum Thema „Gender in Ostasien: Momentaufnahmen zu Gesellschaft, Performance und Ontologie“ erschien, https://kunstverein-duesseldorf.de/veranstaltungen/literaturliste/2020-05-08_175/ (gesehen am 22.06.2020).
[8]Anomalous Fantasy (2016–18) ist der Titel einer Performance, in dem das Yeoseong Gukgeuk durch die Perspektive zeitgenössischer Kunst reimaginiert wird. Vgl. auch Hyunjin Kim, „Anomalous Tradition, Queer Enchantment: On the Work of siren eun young jung“, in: Afterall, 49, 2020), S. 49–57.