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KUNST, KOMPLIZIERTE GEFÜHLE, KURDISTAN Elena Meilicke über die Duisburger Filmwoche 2021

Aleksey Lapin, „Krai“, 2021, Filmstill

Aleksey Lapin, „Krai“, 2021, Filmstill

Die Duisburger Filmwoche ist seit ihrer Gründung Ende der 1970er Jahre von einem diskursiven und zugleich dezidiert linken Zugang zum Dokumentarfilm geprägt. Nach einer pandemiebedingten Digitalversion 2020 fand die jüngste Filmwoche wieder in Kinos und Vortragsräumen statt. In ihrer Rückschau auf das unter Filmkenner*innen und -liebhaber*innen hochgeschätzte Festival hebt Elena Meilicke drei Filme hervor, die sich einfühlsam ihren ungleichen Protagonist*innen nähern, während diese über komplizierte Gefühle sprechen, über Kurdistan, über Kunst. Im Zuge andauernder Kontaktbeschränkungen sind solche Einblicke in scheinbar fremde Lebenswelten besonders aufschlussreich und bewegend.

Duisburg Mitte November, Nieselregen, es ist grau. In der Fußgängerzone ist ein Weihnachtsmarkt (2G) aufgebaut, an dem ich samstags gegen 16.00 Uhr eine Bratwurst esse; alle anderen Geschäfte sind schon zu, und mich hatte kurz Panik ergriffen, dass ich nichts mehr zu essen finden könnte. Von der Decke der Wurstbude in Holzoptik hängen Senf und Ketchup in unförmig-weichen, milchigen Plastikbehältern, zur Selbstbedienung. Vorsichtig platziere ich einen Senfstreifen auf meiner Bratwurst und mache mich auf den Weg zurück ins Kino, zurück in die Höhle, die die Welt bedeutet.

Das Programm ist eng getaktet: Film, Diskussion, Film, Diskussion, dazwischen kaum mehr Zeit als es braucht, um die 20 Meter zwischen Kinosaal und Diskussionsraum zurückzulegen, der in einem Gebäude der katholischen Studentenschaft Duisburg untergebracht ist. Wo andere Filmfestivals rote Teppiche ausrollen, bietet Duisburg neben Kinoplüsch auch Seminarraumatmosphäre. Das ist das Besondere an der Filmwoche, deshalb kommen viele seit Jahren immer wieder hierher: Filme schauen und darüber sprechen, das steht gleichberechtigt nebeneinander, das Festival ermöglicht Austausch über und Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Film.

Eine Besonderheit ist außerdem, dass die Gespräche zu den Filmen protokolliert und zum Nachlesen ins Netz gestellt werden. Duisburg hat das Protokoll zu einer eigenen Kunstform erhoben. Idiosynkratisch und auf schönste Weise subjektiv sind diese Mitschriften, die nie nur das Gesagte, sondern immer auch den Blick der Protokollierenden und die Ereignishaftigkeit der Debatte mittransportieren: Wie war die Stimmung im Raum, wer hat wann was gesagt, wie hat das Publikum reagiert? Zwischen Sehen, Sprechen, Hören und Lesen organisiert Duisburg Dokumentarfilm-Diskurs also immer in mehreren „Schichten“ (um an dieser Stelle das Motto der diesjährigen Filmwoche zu bemühen).

In diesem Jahr konnte sich diese Art besonderer Aufmerksamkeit wieder vor Ort und in Präsenz an Filmen abarbeiten (nachdem die Filmwoche letztes Jahr wegen Corona nur online stattgefunden hatte). An einem Film wie Zuhurs Töchter (2021) etwa, dem (fürs Fernsehen produzierten) Porträt von zwei transsexuellen Töchtern einer syrischen Geflüchtetenfamilie, die in Stuttgart lebt. In der Debatte nach dem Film war im Publikum Unbehagen spürbar, artikulierte sich das Gefühl, dass der Film von der vermeintlichen Gegensätzlichkeit dieser Konstellation (muslimische Flüchtlingsfamilie! Transsexuelle!) etwas zu sehr geflasht ist. Die Faszination der Filmemacher*innen für ihre Protogonistinnen entkommt nicht ganz dem Othering.

Krai (2021), von Aleksei Lapin, wurde hingegen im Filmgespräch von einigen abgesprochen, überhaupt auf ein Dokumentarfilmfestival zu gehören, während andere wiederum diesen Vorwurf anachronistisch fanden. Als „Film-im-Film“-Film, der in ein russisches Dorf reist und mit den Bewohner*innen in Kontakt tritt über die Fiktion, es solle ein Historienfilm gedreht werden, mäandert Krai zwischen Fiktion und Dokumentation, bricht bestimmte Illusionen, während er andere pflegt. Er bleibt als Film eine offene Frage, unvorhersehbar und betörend – zumindest für die erste halbe Stunde und dann immer noch für einzelne Momente.

Aus dem Programm herausgeragt haben ansonsten drei Filme, die eigentlich nicht viel mehr tun, als Frauen beim Reden zuzuschauen und zuzuhören; sie filmen alte, junge und ganz junge Frauen, die über komplizierte Gefühle sprechen, über Kurdistan, über Kunst.

Shelly Silver, „Girls | Museum“, 2020, Filmstill

Shelly Silver, „Girls | Museum“, 2020, Filmstill

So unternimmt die New Yorker Filmemacherin Shelly Silver mit Girls | Museum (2020) eine feministisch-filmische Institutionenkritik, indem sie ein paar junge Mädchen ins Leipziger Museum der bildenden Künste einlädt, um über die dort ausgestellten Werke zu reden. Da stehen die Mädchen vor Bildern von Cranach, Beckmann, Heisig usw. und beschreiben, was sie sehen: viele nackte Brüste und gespitzte Münder, Augen, die mal verführerisch, mal verschlagen dreinblicken. Sie begegnen Frauen fast ausnahmslos als Objekten der Darstellung, Künstlerinnen gibt’s kaum im Museum.

Dass Kanon und Kunstgeschichte hoffnungslos sexistisch sind, weiß man/frau natürlich, Silvers Film führt es am Beispiel eines einzelnen Museums noch mal vor Augen. Trotzdem könnte die Idee, Kinderaugen museale Ungleichheit entlarven zu lassen, Gefahr laufen, vor allem niedlich zu sein („Dingsda im Museum“ assoziierte ein Kritiker). Girls | Museum entgeht dem, was auch mit seiner filmischen Form zu tun hat. Präzise montiert der Film im zackigen Wechsel Szenen, in denen die Mädchen sprechen, mit Montagesequenzen aus den Ausstellungsräumen und unterlegt diese mit dissonant-aufbrausenden Klängen von Johanna Beyer (1888 bis 1943), einer Komponistin aus dem Kreis der amerikanischen Ultramoderne, die ursprünglich aus Leipzig stammt (und deren Werk nicht kanonisiert ist).

Was die Mädchen auf den Bildern sehen, ist oft gewitzt und luzide, manchmal nervt der identifikatorische Blick ein bisschen („Ich wäre am liebsten die Frau da in der Mitte!“). Andererseits macht er bewusst, wie sehr das in Universität und Kunstbetrieb gepflegte Sprechen ein formiertes und erlerntes ist, dessen Regeln denen, die es draufhaben, kaum mehr bewusst sind. Silvers Film hingegen entspringt der Sehnsucht nach einem unverstellten Blick jenseits von Rezeptionsroutinen und behandelt die Mädchen konsequent als Expertinnen, deren Perspektive zählt (so habe sie etwa, erzählt Silver im Filmgespräch, sorgfältig darauf geachtet, dass die Musik nie über die Stimmen der Mädchen gelegt wurde).

Im letzten Drittel lässt sich der Film von den Aussagen der Mädchen frustrieren und markiert diskret einen Abstand zu ihnen. Danach gefragt, was sie am Museum ändern würden, antworten die meisten – nichts. Stattdessen sprechen sie den Direktor*innen und Kurator*innen des Museums ihr vollstes Vertrauen aus, das seien ja Experten, die am besten darüber befinden könnten, welche Kunst wertvoll sei und welche nicht – ob von Männern oder Frauen gemalt, das sei ja egal. Dagegen montiert Silver ein Gemälde, das eine Gruppe selbstbewusst posierender Männer in weißen Hemden und mit schwarzen Brillen zeigt, Künstler vielleicht oder Intellektuelle, ganz in der Ecke des Bildes duckt sich eine nackte Frau: Montage als Widerspruch, Frage, Zweifel, Dissens.

Naama Heiman, „Picnic at Hanging Rock“, 2021, Filmstill

Naama Heiman, „Picnic at Hanging Rock“, 2021, Filmstill

Ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen Ton und Bild ist auch einem weiteren Duisburg-Highlight zu eigen: Picnic at Hanging Rock (2021), dem Filmdebüt von Naama Heiman, die an der Kunsthochschule für Medien in Köln studiert. Ihr während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 gedrehter Tagebuchfilm (sie nennt die in den 1980er Jahren entstandenen video diaries von David Perlov als Vorbild) ist die sehr lustige, aber auch messerscharfe Abrechnung mit einer Liebe, die zu Ende geht oder schon zu Ende gegangen ist: Es geht um Biniam, er hat seelenvolle braune Augen und einen rasierten Kopf, ist Kunststudent wie die Filmemacherin und zugleich ihr Mitbewohner. Zusammen leben sie in einer uncharmanten Neubauwohnung im noch uncharmanteren Kölner Stadtteil Bickendorf – im Film ausnahmslos als „fucking Bickendorf“ apostrophiert.

Im Bild ist die Filmemacherin nie zu sehen, aber der Film lebt von ihrem Voiceover, in dem sie das (einstige) Objekt ihrer Begierde auseinandernimmt, seine Künstlerambitionen, seine Eitelkeit, seine Selbstbezogenheit mit beißendem Spott überzieht: Wie Biniam einmal Thoreaus Walden las (bzw. ein Kapitel davon), danach allein in die schwedische Wildnis zog, aber nach einer Woche zurückkehrte, weil ihm langweilig wurde. Seine mit schöner Regelmäßigkeit vorgetragenen lebensverändernden Einsichten haben, so ätzt Heiman, eine Halbwertzeit von nicht mal drei Tagen.

Auf der Bildebene passiert wenig Spektakuläres, es gibt Stillleben häuslicher Semi-Verwahrlosung, irgendwo zwischen Bohème und ganz normalem WG-Elend: dreckige IKEA-Teller in der Spüle, eine halbtote Zimmerpflanze auf dem Schreibtisch, in der Ecke ein Berg Klamotten. Außerdem muss der Film damit klarkommen, dass sein Hauptdarsteller schon bald nicht mehr gefilmt werden möchte. Stattdessen ins Bild gesetzte Abweisung: minutenlanges Ausharren vor einer verschlossenen Zimmertür, während daneben, auf der Anrichte im Flur, eine goldene japanische Katze endlos mit der Tatze winkt – perfektes Sinnbild für eine asymmetrische Liebe, deren Dilemma durch die Mitbewohner-Konstellation verschärft wird: Wie sich trennen von jemandem, der im Zimmer nebenan hockt?

Den Schmerz und die Erniedrigung dieser verfahrenen Situation verwandelt Picnic at Hanging Rock in reinste Komödie. Die Persona, die über das Voiceover Gestalt annimmt, wirkt gleichermaßen stark und schwach, verletzt und verletzend, hochintelligent und ziemlich neurotisch (Zielscheibe des Spotts wird nicht nur Biniam, sondern auch die eigene Therapeutin). Dieses weibliche Sprechen, ja, Auftrumpfen aus einer unterlegenen Position der Abweisung und des Nicht-geliebt-Werdens heraus erinnert ein wenig an Chris Kraus’ autofiktionalen Briefroman I love Dick. Hier wie dort entsteht Befreiung dadurch, dass frau ihre Ablehnung ausstellt, anstatt sie schamhaft zu verstecken. Kraus und Heiman haben keine Angst, eine lächerliche Figur zu machen, und das ist ebenso ermächtigend wie erheiternd.

Serpil Turhan, „Köy“, 2021, Filmstill

Serpil Turhan, „Köy“, 2021, Filmstill

Eine ganze andere Tonlage schlägt der dritte Duisburg-Film an, der Frauen sprechen lässt. Köy (2021) von Serpil Turhan, die schon zum vierten Mal als Filmemacherin bei der Filmwoche zu Gast ist, ist ein unprätentiöser, auf den ersten Blick schlichter Film, der große Intensität entwickelt. Im Zentrum stehen Gespräche mit drei kurdischstämmigen Frauen aus Berlin, für die ihre Herkunft auf unterschiedliche Weise ambivalent besetzt ist. Es ist ein Film in gedeckten Farben und gedämpften Tönen, eine Traurigkeit oder besser Sehnsucht umkreisend, die schwer in Worte zu fassen ist: Wie sich ins Verhältnis setzen zu einem Ort, zu dem man nicht zurück will oder kann, den man vielleicht auch kaum kennt? Der mit einem zu tun hat, aber irgendwie auch nicht (mehr)? Der politisch umkämpft ist, ein Kriegsgebiet?

Turhans Film nennt diesen Ort dezidiert nicht Heimat, sondern eben „köy“, was Dorf bedeutet, und wählt damit einen Begriff, der offener, unbestimmter ist. Das Sprechen übers Dorf ist im Film oft unsentimental, nicht nostalgisch: „In unserem Dorf gab es keine Früchte. Nur so einen trockenen Berg“, sagt die Großmutter der Filmemacherin (die eine der drei Protagonistinnen ist), im grellen Licht einer Berliner Küche sitzend. Turhan selbst ist nie im Bild zu sehen, aber ihre Anwesenheit ist in jeder Einstellung zu spüren, als aufmerksames Gegenüber. Manchmal stellt sie Fragen aus dem Off, erklärt ihrer Großmutter, dass sie ihren türkischen Pass abgeben will, und empört sich darüber, dass Mädchen in der Familie als weniger wert angesehen werden.

Die großen Wechselfälle des Lebens – ein Aufbruch ins Ungewisse, eine Geburt, ein Tod –werden wie nebenbei ins Bild gesetzt, ohne großes Gewese. Köy bewegt sich fast ausnahmslos in Innenräumen, sitzt mit seinen Protagonistinnen an Küchen- und Schreibtischen. Die Räume sind eng, aber die Fenster sind offen. Sie geben den Blick frei auf Berliner Stadtlandschaften, auf der Tonspur hört man die Geräusche der Stadt: das Rattern der U-Bahn, Stimmen, Vogelzwitschern. Denn Kreuzberg ist auch ein Dorf.

Die Duisburger Filmwoche wiederum ist, um im Bild zu bleiben, ein Fenster, das Ausblicke in die Welt und Einblicke ins Leben anderer Menschen gibt. Das ist kostbar in diesem zweiten Corona-Winter, in dem der Bewegungsradius täglich enger, die Möglichkeiten zu Austausch und Begegnung weniger werden

Was den Duisburger Weihnachtsmarkt angeht, auf dem ich einmal zwischen zwei Filmen eine Bratwurst gegessen habe, so hat der sein „vorweihnachtliches Geschichtenerzählen“ mittlerweile gestrichen: „Leider müssen die Märchenstunden ausfallen.“ Gut, dass die Filmwoche stattgefunden hat.

Duisburger Filmwoche 2021, filmforum am Dellplatz, 10. bis 14. November 2021.

Elena Meilicke ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin und lehrt an der Universität der Künste Berlin (UdK). Zuletzt erschienen u. a. Paranoia und technisches Bild. Fallstudien zu einer Medienpathologie (2021).

Image credit: Duisburger Filmwoche, courtesy of the artists