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Isabelle Graw über Violaine Huismans „Die Entflohene“ ("Fugitive parce que reine", 2018/ dt. 2019)

Dirk von Lowtzow, Jackie Thomae, Violaine Huisman, Brigitte Weingart und Isabelle Graw, Literaturhaus Berlin, Januar 2020

Dirk von Lowtzow, Jackie Thomae, Violaine Huisman, Brigitte Weingart und Isabelle Graw, Literaturhaus Berlin, Januar 2020

Im Januar veranstaltete Texte zur Kunst eine Podiumsdiskussion zur "Literatur"-Ausgabe (Sept. 2019) im Literaturhaus Berlin, um gemeinsam mit den Autorinnen Violaine Huisman, Jackie Thomae und dem Autor und Musiker Dirk von Lowtzow über "Autofiktion heute" zu diskutieren. Wir nehmen dies als Anlass um Isabelle Graws Rezension zu Huismans jüngster Publikation zu wiederveröffentlichen.

Dieses Buch schildert die tiefe Bindung einer Tochter an ihre destruktive Mutter. Genauer versetzt es uns in die Perspektive der Autorin, die ihre Mutter auch dann noch liebt, wenn diese sie ausgesprochen schlecht behandelt. Kinder haben in dieser Hinsicht offenkundig keine Wahl. Mitreißend und rasant geschrieben, geht dieser autofiktionale Bericht Huismans jedoch über die bloße Beschreibung des Lebens mit ihrer als „manisch depressiv“ diagnostizierten Mutter hinaus. Aus „Mamans“ unberechenbarem und zuweilen bedrohlich-gewaltätigem Verhalten macht die Autorin Literatur, indem sie deren Tiraden im O-Ton zugleich rekonstruiert und fiktionalisiert. Die von Kraftausdrücken durchzogene Sprache Mamans hat Rap-Potential. Als Leserin sieht man sich in einen Strudel aus Bösartigkeit und überzogenen Liebesbekundungen hineingezogen. Statt jedoch die stets für ihre Schönheit gepriesene Mutter zu einem literarischen Wesen zu stilisieren, zeichnet Huisman deren Möglichkeitsräume mit viel Empathie nach. Aus der Arbeiterklasse stammend, hatte diese Mutter von Anfang an schlechte Karten: selbst ohne Mutterliebe aufgewachsen und vom Vater missbraucht, suchte sie in die großbürgerlich-intellektuellen Kreise ihres Mannes, Huismans Vater, aufzusteigen. Der Habitus dieses lässig pariserischen Libertins wird auf besonders unterhaltsame Weise dargestellt. Mangels Bildung vermochte die Mutter in seinem Milieu jedoch nicht Fuß zu fassen. Sie war, wie zahlreiche Frauen ihrer Generation, finanziell und emotional abhängig von ihrem Mann und wollte doch von ihm loskommen. Es ist nicht nur die eigene (verstorbene) Mutter, der dieses Buch ein Denkmal setzt. Es ist auch eine Hommage an die in den 1940er Jahren geborenen (westlichen) Frauen. Denn ein wenig „Maman“ steckt in jeder von ihnen.

Diese Rezension erschien in kürzerer Version zuerst in der Süddeutschen Zeitung am 20. Dezember 2019, S. 13.

photo credit: Fenna-Louise Ackerstaff