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Für Okwui Enwezor von Markus Müller

Okwui Enwezor (1963-2019)

Okwui Enwezor (1963-2019)

Ich hatte das Glück und das Privileg, fast 20 Jahre in unterschiedlichen Funktionen mit Okwui zusammenarbeiten zu können. Seiner Meinung nach hatten wir uns bei der Ausstellung „Skulptur. Projekte in Münster 1997“ kennengelernt. Sicher ist, dass Rob Reynolds im Juli 1999 die Idee hatte, mit Okwui ein Gespräch für Feed zu machen. Tatsächlich fand das auch wenige Tage später, am 4. August 1999 im Thread Waxing Space statt. Das war in meiner Erinnerung meine erste berufliche Begegnung mit Okwui, der am 26. Oktober 1998 als designierter Documenta-Leiter vorgestellt worden war.

Am 2. Mai 2000 bekam Kasper König den CCS Bard Curatorial Excellence Award, und ebendort fragte Okwui mich, ob ich jemanden kennte, der mit ihm, für ihn, Öffentlichkeitsarbeit für die Documenta machen würde. Nach einer Nacht Bedenkzeit sagte ich, ich hätte selbst Interesse. Das habe er gehofft, war seine Antwort. Am 24. Mai 2000 waren wir zum ersten Mal gemeinsam in Kassel, und danach gingen die Vorbereitungen los. Ab dem 2. Januar 2001 waren Angelika Nollert und ich die ersten Mitarbeiter*innen der Documenta11 und vor Ort. Okwuis Ko-Kurator*innen Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer, Susanne Ghez, Sarat Maharaj, Mark Nash und Octavio Zaya wurden im Oktober 2000 der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die erste Plattform eröffnete am 15. März 2001 in Wien, die zweite am 7. Mai in Neu Delhi, der zweite Teil der ersten Plattform am 9. Oktober in Berlin, die dritte Plattform am 15. Januar 2002 auf St. Lucia, die vierte Plattform am 16. März 2002 in Lagos, die fünfte Plattform am 8. Juni 2002 in Kassel. Eine meiner Aufgaben war die Organisation und Dokumentation dieser Plattformen mit unseren Partner*innen vor Ort. Wir hatten insgesamt 79 Beitragende. In Neu Dehli gab es außerdem eine gut dreiwöchige Ausstellung mit 32 Filmen und Videos zu sehen. Alles das steht jetzt wie ein Relief in Lichtgeschwindigkeit bei gleichzeitiger Zeitlupe im Erinnerungsraum. So erinnere ich mich, wie Okwui mir Anfang Mai 2000 bei einem Treffen im Veselka im New Yorker East Village sehr präzise und bis ins Detail erklärte, was geplant und was zu tun war. Abschließend zählte er dann die Publikationen auf, die zu erstellen waren und kam auf 16 – 16 Bücher in anderthalb Jahren! Wir lachten beide laut auf. Mir war damals noch nicht klar, dass Okwui Maximalist war und er nicht etwa lachte, weil es ihm unmöglich erschienen wäre, so viele Bücher zu produzieren, noch dazu im akademischen Kontext – sondern weil er sich über die Herausforderung und die Möglichkeit freute, all dies zu realisieren. Es wurden dann letztlich „nur“ elf Bücher. Im Sommer 2000 produzierte Okwui zugleich auch „The Short Century“, eine Ausstellung, die im Februar 2001, genau einen Monat vor der ersten Plattform in Wien, in der Villa Stuck in München eröffnete und dann bis zum Mai 2002 an drei weiteren Orten zu sehen war. Der Katalog zu „The Short Century“ ist mittlerweile, wie es auch die Bücher zur Documenta11 sind, ein Klassiker der Wissensproduktion im Ausstellungswesen des 21. Jahrhunderts. Das macht den Maximalisten Enwezor vielleicht einzigartig in seiner Generation von Kurator*innen, vielleicht unter Kurator*innen überhaupt. Er, der zunächst als Dichter in New Yorks Kunst- und Kulturszene bekannt wurde, war zeitlebens ein begeisterter Leser – und vor allem auch ein Autor. Sein Text im Katalog zu „Global Conceptualism: Points of Origin, 1950s – 1980s“, der Ausstellung, die ich im Juli 1999 in Queens sah, hat mir ein Verständnis für den notwendigen Blick auf Kunst, die sich außerhalb westlicher Kanonisierungen situiert, überhaupt erst eröffnet.

„In African art, two things are constantly in operation: the work and the idea of the work. These are not autonomous systems. One needs the other and vice versa. A paraphrase of an Igbo idea will clarify this relationship: where there is something standing which can be seen, there is something else standing next to it which cannot be seen but which accompanies the object.“  [1]

In diesem Sinne war für Okwui die vermeintliche Trennung von Kunst, Ausstellungmachen, Theorieproduktion, Politik usw. eine ganz grundsätzlich sinnlose Ausdifferenzierung nur vermeintlich unabhängiger Sphären, alles war mit allem verbunden. Nichts war autonom, nichts war unschuldig.

So erscheint es mir wichtig, daran zu erinnern, dass in Kassel im Erdgeschoss des Fridericianums Hanne Darboven, Chohreh Feyzdjou, Doris Salcedo und Zarina Bhimji die kosmopolitische Herzkammer der Documenta11 präsentierten. Im Haus der Kunst hat Okwui nach seinem Start 2012 unter anderem Einzelausstellungen von Haegue Yang, Joëlle Tuerlinckx, Lorna Simpson, Ellen Gallagher, Louise Bourgeois, Lynette Yiadom-Boakye, Hanne Darboven, Adele Röder, Sara MacKillop, Laure Provost, Polina Kanis, Kiki Smith und Sarah Sze eröffnet.

Die erste Plattform der Documenta11 wurde unter dem Titel „Democracy Unrealized“ von Stuart Hall, Achille Mbembe, Akeel Bilgrami und Bhikhu Parekh eröffnet, die zweite Plattform unter dem Titel „Experiments with Truth: Transitional Justice and the Processes of Truth and Reconciliation“ von Kader Asmal, Mahmood Mamdani, Urvashi Butalia und Avishai Margalit. Die Aktualität der Themen und Beiträge ist gleichermaßen erstaunlich wie erschreckend. Unser Verständnis von und unser Verhältnis zur Demokratie ist heute vielleicht noch grundsätzlicher erschüttert als 2001 (Plattform 1 und 2 fanden zum Teil vor 9/11 statt), und so hätte die absurde aktuelle Wiedergänger-Emil Nolde-Diskussion auch in Neu Dehli stattfinden können. Die Plattformen und ihre Publikationen legen auch Zeugnis ab von dem unfassbaren Elan, mit dem Okwui immer wieder und so eloquent wie scharf „So what?“ fragte, wenn es um die sogenannten dead certainties „unserer“ kulturellen Erfahrungen und Mythen ging. Arbeit war mit ihm in jeder Hinsicht eine Reihe von Grenzüberschreitungen auf dem Weg zu einem immer noch ein bisschen perfekteren Ziel, und manches Mal hatte man die Füße schon hochgelegt, als es dann doch wieder weiterging. Es gab in diesem Sinne keine Grenzen der Machbarkeit, es gab immer nur das Potenzial eines womöglich Besseren. Und selbstverständlich waren auch die Besucher*innen und alle Teilnehmer*innen immer aufgefordert, sich den Zumutungen zu stellen und in jeder Hinsicht beweglich zu sein.

In „Annual Report“, dem Katalog zur 7. Gwangju Biennale 2008 beschreibt er unter der Überschrift „The Politics of Spectacle“ die signifikanten Unterschiede zwischen den etablierten Sichtweisen auf den Pariser Mai 1968 und den 18. Mai 1980, an dem in Gwangju gegen die brutale südkoreanische Militärdiktatur demonstriert wurde.

„If we examine events like the Gwangju uprising … these events mobilize what may be called an anthropophagic or carnevalesque display of massive shock through modes of coalition-building and the establishment of absolute communities that are based on a shared and long-standing impulse of resistance to colonial power. This contrast, between May 68’s identification with Western historical avant-gardes and May 18’s rootedness in colonial resistance is what sets the social recollection of the Gwangju uprising apart from the student uprising in Paris.“  [2]

Die 8. Gwangju Biennale brachte in der „On The Road“-Sektion 36 Ausstellungen aus der ganzen Welt nach Südkorea. Diesen Rückblick nach vorn ergänzten Okwui und seine Ko-Kurator*innen Patrick D. Flores, Jang Un Kim, Abdellah Karroum, Sung Hyen Park und Claire Tancons um fünf „position papers“ genannte Projekte sowie 38 „Insertions“ weiterer Künstler*innen. Maximalistisch eben.

Für „Intense Proximity. An Anthology Of the Near And The Far“, die Pariser Triennale 2012, präsentierte Okwui auf der Grundlage der Arbeiten von Marcel Mauss, Michel Leiris und Claude Lévi-Strauss die Resonanzen, die die Ethnografie in aktueller und historischer künstlerischer wie kritischer Praxis ausgelöst hat. Wie könnte ich die Nähe und den Zusammenklang von Wifredo Lams „Carnets de Marseille“-Zeichnungen, den „Mato Grosso, Brésil“-Fotografien von Claude Lévi-Strauss, den 1970er Arbeiten von Carol Rama, dem „Stone with Hair“ von David Hammons und „Is it possible to be a revolutionary and like flowers“ von Camille Henrot je vergessen? Auf ihre Art erzählten diese Arbeiten von Nähe und Ferne, Flucht und Heimat, Globalisierung und Identität und davon, etwas sichtbar zu machen, was nicht immer sichtbar ist, und zwar über künstlerisch-ästhetische Parameter, im Falle von Camille Henrot auch über die atemberaubend traurige Schönheit von Vergänglichkeit.

Mit der 56. Biennale in Venedig 2015 traten (wir erinnern uns an die Igbo-Idee) die „Spectres of Marx“ auf die Bühne. In der Arena von David Adjaye wurde, inszeniert von Isaac Julien und Mark Nash, unter anderem „Das Kapital“ gelesen, sechs Monate lang.

Es war während dieser Biennale, als Okwui von seiner Krankheit erfuhr. Einer Krankheit, der er genauso selbstbewusst und elegant begegnete wie dem Rassismus, den er täglich erlebte und der ihn doch nicht berühren konnte. Dieser Gegenwart, der unheimlichen Nähe der Widerwärtigkeit, die jetzt auch im Bundestag sein darf, war Okwui erst nach der Übersiedlung nach New York mit 19 begegnet. Erst dort, sagte er, realisierte er, dass er dunkelhäutig war. In München hat er dann zuletzt auch von der Erfahrung des Rassismus, die ihm ansonsten nie auch nur einen Gedanken oder Kommentar Wert war, gesprochen – nach dem Sommer 2015 war da eine Verletzlichkeit. Wie er dann, in dieser Situation, noch eine Ausstellung wie „Post-War. Kunst zwischen Pazifik und Atlantik“ hat realisieren können?! Und natürlich war auch sie ein großer, ein größtmöglicher Wurf. Den Katalog sollte man lesen. Es sind ja auch die Bücher, die bleiben. Und die Erinnerung, dass es in jeder Situation immer noch einen weiteren, einen neuen, einen wichtigen Gedanken gibt, der dem widerspricht, in dem man es sich gerade gemütlich gemacht hat. Und eine nächste Ausstellung und einen nächsten Text. Und, ganz wichtig: ein nächstes großartiges Essen, einen nächsten großartigen Wein und eine nächste großartige Gesellschaft mit möglichst vielen all der Freund*innen, der Künstler*innen, die immer mit am Tisch saßen, die auch jetzt immer mit am Tisch sitzen, auch wenn sie vielleicht nicht sichtbar sind. An absolute community. [3]

Markus Müller war kuratorischer Assistent des künstlerischen Leiters Okwui Enwezor bei der 56. Biennale in Venedig. Er war Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Documenta11 und verantwortlich für die ersten vier Plattformen in Wien, Neu Delhi, Berlin, St. Lucia und Lagos (2000–2002). 2021 kuratiert er die Ausstellung zum 100. Jubiläum der Donaueschinger Musiktage.

Anmerkungen

[1]Okwui Enwezor, „Where, What, Who, When: A Few Notes on ,African‘ Conceptualism“, in: Global Conceptualism: Points of Origin, 195a0s–1980s, hg. vom Queens Museum of Art, New York 1999, S. 110.
[2]Ders., „Annual Report“, in: Ausst.-Kat., 7. Gwangju Biennale 2008, S. 30.
[3]Jung-Woon Choi, The Gwangju Uprising. The Pivotal Moment That Changed The History of Modern Korea, New Jersey 2006, S. 134.