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Peter Bürger (1936 - 2017)

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In Erinnerung an Peter Bürger veröffentlichen wir hier ein Interview der Herausgeberin von Texte zur Kunst, Isabelle Graw, mit dem Autor der „Theorie der Avantgarde“ aus dem Jahr 1989. Ein Nachruf für Peter Bürger erscheint in der Dezember-Ausgabe von Texte zur Kunst.

Kunst und Lebenspraxis. Interview mit Peter Bürger von Isabelle Graw

Peter Bürger, der als Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Bremen lehrte, hat sich in seiner Studienzeit kunstgeschichtliche Vorlesungen angehört und auch Philosophie studiert. In seiner 1974 erschienenen „Theorie der Avantgarde“ spricht er, in der Tradition der deutschen Ästhetik, von Kunst im Allgemeinen und erhebt den Anspruch, alle Teilbereiche (Kunst, Literatur, Musik etc.) miteinzuschließen.

Die Avantgardebewegung wird von Bürger als eine Zäsur in der Entwicklung von Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft angesehen. Sie setzt dort ein, wo der Autonomiestatus der Kunst ein vollkommener ist, also Ende des 19. Jahrhunderts, als der von der „Lebenspraxis“ abgehobene Ästhetizismus seinen Höhepunkt erreichte. Die avantgardistischen Bewegungen, und hier konzentriert sich Bürger auf Dadaismus und Surrealismus, wenden sich gegen den Autonomiestatus und die damit verbundene Wirkungslosigkeit von Kunst. Die Avantgarde will die abgehobene Kunst in Lebenspraxis überführen, indem sie die Institution Kunst angreift und die Kunstwerkstradition in Frage stellt. Das traditionelle, organische Werk wird durch das Prinzip der Montage abgelöst und existiert nur noch fragmentarisch. Individuelle Produktion samt Geniekult wird mit Verachtung gestraft und als Rezeption soll aktive, kollektive Zuschauerbeteiligung die individuelle Wahrnehmung ablösen. Das avantgardistische Ziel – die Zerstörung der Institution Kunst und die Überführung der Kunst in die Lebenspraxis – wurde jedoch Bürger zufolge nicht verwirklicht. Denn es habe sich gezeigt, dass die Wirkung von Kunst von der Institution – also den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – determiniert wird. Die Institution vermag ein gegen sie gerichtetes Kunstwerk zu neutralisieren und zu entschärfen. Die angestrebte Annährung von Kunst und Lebenspraxis hat sich zwar in Form einer Ästhetisierung des Alltags vollzogen. Sie läuft aber laut Bürger auf eine falsche und fatale Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Lebenspraxis hinaus.

Isabelle Graw: Eine der Hauptthesen Ihrer „Theorie der Avantgarde“ ist ja, dass die Avantgarde eine Reaktion auf die Ausdifferenzierung und Autonomie des Bereiches Kunst gewesen wäre. Sie markieren ganz willkürlich einen historischen Bruch, wobei Sie dieses Verfahren „geschichtliche Konstruktion“ nennen, die sich gegen das bloße Aneinanderreihen von Fakten (Positivismus) richtet. Was spricht für dieses Konstruktionsverfahren, das Ihnen so viele kritische Stimmen eingebracht hat?

Peter Bürger: Für das Konstruktionsverfahren spricht, das es uns ermöglicht, Wirklichkeit zu erkennen. Auch im positivistischen Verfahren steckt immer eine Konstruktion, was sich die Positivisten jedoch nicht eingestehen. Die Überlegenheit der konstruktiv arbeitenden Theoretiker besteht darin, dass sie ihre eigenen Konstruktionen sehen und relativieren können. Auch ist es ihnen möglich, andere Konstruktionen anzuerkennen und die ihrigen nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln.

Graw: Aber mit der Konstruktion nimmt man auch Vernachlässigungen in Kauf. Man hat Ihnen oft vorgeworfen, dass Sie die Zeit vor der Avantgarde als eine ausschließlich vom Ästhetizismus dominierte betrachten, während es doch noch andere Strömungen wie z.B. den Naturalismus gab. Die Gefahr, dass man die Dinge, die die Konstruktion gefährden, nicht berücksichtigt, besteht doch?

Bürger: Bei einer Konstruktion ist immer ein bewusstes Moment von Verzeichnung in Kauf genommen. Diese Verzeichnung mindert aber keineswegs den Erkenntniswert der Konstruktion. Ein Beispiel dafür wäre das Buch von Peter Szondi über die Theorie des modernen Dramas, in dem er einen deutlichen Konstruktionsfehler macht. Er konstruiert das Drama als Reaktion auf einen klassischen Dramentyp (Racine, Goethe) und tut so, als hätte es weder Shakespeare noch den Sturm und Drang noch Büchner gegeben. Bei einer rein faktischen Betrachtung ist diese Vernachlässigung ein Fehler. Trotzdem ist Szondis „Theorie des modernen Dramas“ bei weitem das beste Buch über diesen Gegenstand.

Graw: Ein anderes Problem jeder theoretischen Herangehensweise an Kunst besteht darin, dass die Theorie nichts mehr mit der ursprünglichen künstlerischen Intention gemein hat und somit Kunstproduktion und theoretischer Nachvollzug auseinander fallen.

Bürger: Das Selbstverständnis des Künstlers gehört mit zum Kunstwerk – es ist etwas von ihm Produziertes. Die Programmatik des Künstlers kann aber für den Theoretiker nicht bindend sein, vielmehr wird sie wiederum zum Gegenstand seiner Deutung.

Graw: In Ihrem Buch wird immer wieder betont, dass die Avantgarde versucht hat, Kunst in „Lebenspraxis“ zu überführen, was gescheitert sei. Wie sähe eine erfolgreiche Überführung in die Lebenspraxis denn aus, und kann das Scheitern so definitiv festgestellt werden? Gibt es nicht langfristige Auswirkungen der Avantgarde auf die Lebenspraxis, die nicht unbedingt messbar sind?

Bürger: Ich glaube, dass der Ausdruck des Scheiterns zugleich präzisiert und relativiert werden muss. Diese Stelle würde ich gerne kommentieren oder das Buch verändern, aber ein 1974 erschienenes Buch hat einen historischen Stellenwert und sollte auch vom Autor nicht verändert werden. Das Scheitern eines utopischen Projekts zeigt durch dieses Scheitern hindurch auch immer Momente von Gelingen. Diese Momente von Gelingen äußern sich darin, dass heute wichtige Künstler wie Beuys an dieser Problematik weiterarbeiten und sie keineswegs als historisch abgetan ansehen. Man kann aber nicht einfach die Lösungen von damals übernehmen. Auch möchte ich mich nicht darauf einlassen, eine Theorie der Überführung von Kunst in die Lebenspraxis zu formulieren, weil dieses hochgradig utopische Projekt neuerdings noch besondere Gefährdung durch die Ästhetisierung der Warenwelt erfährt, die ja einer falschen Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kunst und Lebenspraxis gleichkommt.

Graw: Diese sogenannte Aufhebung zwischen Kunst und Lebenspraxis, die so viele Theoretiker beklagen, wird auch von Ihnen als etwas Verdammmenswertes angesehen. Warum?

Bürger: Die totale Ästhetisierung des Alltags stellt ein Problem dar. Es besteht darin, dass die alte Abgehobenheit der Kunst, die von den Avantgardisten wegen ihrer Wirkungslosigkeit kritisiert wurde, auch eine positive Seite hatte, die jetzt, mit der Einebnung des Gegensatzes zwischen Kunst und Lebenspraxis, verlorenzugehen droht. Die autonome Kunst stellte auch eine Reflexionsinstanz dar, die sich nicht vollkommen vereinnahmen ließ.

Graw: Eine vollkommen von der Warenwelt vereinnahmte Kunst eröffnet dem Künstler aber auch neue Möglichkeiten. Einige amerikanische Künstler gehen z.B. davon aus, dass Kunst, die im herkömmlichen avantgardistischen Sinne Widerstand leistet, mittlerweile akzeptiert und vom Künstler geradezu verlangt wird. Um sich dieser Widerstandserwartungen zu widersetzen, machen diese Künstler jetzt eine Kunst, die sich glatt und warenmäßig gestaltet. Würden Sie so eine Haltung gelten lassen?

Bürger: Ich halte das für einen Holzweg, der als Programm gut klingt. Es handelt sich dabei jedoch um eine bloß formale Dialektik, die sich nicht auf die Problematik unseres Gesellschaftstyps einlässt. Um das avantgardistische Projekt weiterzuentwickeln, müssten andere Artikulationsweisen von Widerstand gefunden werden. Und zwar könnte man Momente dessen, was die Moderne als schönes Malen tabuisiert, wieder in die Kunst hineinnehmen. Aber die von Ihnen beschriebene einfache Gegenposition halte ich auch im Hinblick darauf, was ich in New Yorker Galerien gesehen habe, für problematisch. Vieles dort erschien mir erstaunlich kommerzialisiert und glatt zu sein – in freudigen, schönen, hellen Farben gehalten, aber ohne Biss.

Graw: Aber der Künstler muss sich doch den Herausforderungen des Marktes stellen und Produkte herstellen, die unter dem Deckmantel der Kommerzialität von Widerstandskraft zeugen!

Bürger: Ich würde vermuten, dass es sich hier um etwas handelt, was die Franzosen „mauvaise foi“ nennen. Sartre hat das in „Das Sein und das Nichts“ am Beispiel der Frau, die ihre Hand „vergisst“, während der Liebhaber sie streichelt, sehr schön beschrieben. Sie tut so, als hätte sie keine Hand, weil sie sich sonst entscheiden müsste, ob sie auf das Streicheln eingeht oder nicht. Das von Ihnen suggerierte subversive Verhalten gegenüber dem Kunstmarkt ist etwas ganz ähnliches.

Graw: Welche Möglichkeiten hat denn Kunst, die nicht den Autonomiestatus anstrebt und sich auch nicht vom Markt vereinnahmen lassen will, Wirkung zu erzielen?

Bürger: Indem sie beispielsweise Reflexionsprozesse auslöst. Eine künstlerische Arbeit wie z.B. der „Uhrenwürger“ des Bremer Künstlers Norbert Schwontkowski, die Sie hier sehen, kann zum Gegenstand von Reflexion werden. In diesem Bild entdecke ich immer wieder Dinge, die meine Interpretation in Frage stellen. Ich kann die runden Arme, die völlig verzeichnet sind, formal mit einer anderen Rundung in Zusammenhang bringen. Ich kann die Figur als eine deuten, die mit ihrem Angriff auf das Vergehen der Zeit mit Entsetzen erkennen muss, dass sie Unendlichkeit erzeugt. Aber dann kommt mir dieses halbrealistische Pflaster in die Quere, das ich nicht mehr unterbringen kann. In der Bremer Szene gibt es eine ganze Reihe äußerst ernsthaft arbeitender Künstler, die meistens an der Grenze des Existenzminimums leben müssen und mit einer beeindruckenden Reflexionsebene arbeiten. Das interessiert mich.

Graw: In Texten, die Sie über die Postmoderne geschrieben haben, bemängeln Sie das Fehlen von Authentizität und das Nicht-Vorhandensein von epochemachenden Werken. Nur wenige Künstler glauben heute noch an die Idee der Authentizität und die meisten würden es als Beleidigung empfinden, wenn man ihre Arbeit als „authentisch“ bezeichnen würde.

Bürger: Die künstlerische Postmoderne legt den Gedanken nahe, dass es so etwas wie Authentizität nicht gibt und dass alles nur Kopie oder Zitat ist. Ich würde aber, und das ist wahrscheinlich eine generationstypische Einstellung, mit bestimmten Gestalten der Moderne wie Rimbaud oder Artaud an einem Authentizitätspathos festhalten wollen. Dabei ist mir natürlich klar, dass es angesichts der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen außerordentlich schwer ist, etwas als authentisch auszumachen. Wenn wir aber den Begriff der Authentizität aufgeben, dann geben wir auch den der Erfahrung auf.

Graw: Aber jemand, der bloß kopiert und nicht aus seinen persönlichen Erfahrungen schöpft, kann das doch aus genau dem gleichen authentischen Bedürfnis heraus machen wie jemand, der etwas eigenes herstellt.

Bürger: Es ist richtig, dass Authentizität nicht mit dem eigenen Strich gleichzusetzen ist. Aber mir scheint es doch bezeichnend zu sein, dass sich seit ungefähr zehn Jahren das Beuys-Bild dahingehend verändert hat, dass wir ihn zunächst als Aktionskünstler sahen und jetzt durch eine Reihe von Ausstellungen den Zeichner entdecken. Beuys hielt die beiden Extrempunkte besetzt: die vervielfältigten Postkarten mit Filzhut genauso wie den eigenen Strich.

Graw: Sie beschreiben die Postmoderne oft mit dem Begriff des Stilpluralismus, dem „anything goes“. Meiner Meinung nach ist das Gegenteil der Fall. Dem Künstler stehen nämlich nicht etwa sämtliche Materialien und Stilrichtungen beliebig zur Verfügung. Die Wahl des jeweiligen künstlerischen Mediums kann eine äußerst strategische, auf die Nachfrage ausgerichtete Entscheidung sein. So kommt es dazu, dass bestimmte Techniken und Materialien kurze Zeitabschnitte dominieren.

Bürger: Für meine Generation war die Gegenstandslosigkeit identisch mit der modernen Malerei. Modernität und Gegenstandslosigkeit bildeten eine Einheit, und der Rückgriff auf Figuration wurde als Regression aufgefasst. Dem entsprach eine theoretische Einstellung, nämlich die von Adorno entwickelte Theorie des jeweils fortgeschrittensten Materials. Für ihn stand noch fest, dass es keine Rückkehr zur Figuration mehr gibt, selbst wenn ein bestimmtes Informel an Widerstandskraft verloren hat und blass geworden ist. Ende der 70er Jahre wurde dann plötzlich eine Fülle von Möglichkeiten erkennbar. Die Verpflichtung zum modernen künstlerischen Material, die Adorno noch gespürt hatte, wurde abgelöst von einem breiten Spektrum vielfältiger Materialtraditionen. Innerhalb dieses Spektrums kann es natürlich kurzfristige, offenbar von vielen Künstlern nachvollzogene Prioritätssetzungen für ganz bestimmte Techniken geben, aber das hat nichts mit dem geschichtsphilosophisch fundierten Materialbegriff Adornos zu tun.

Graw: Es gibt Ihrer Meinung nach auch keine verbindliche ästhetische Theorie mehr. Haben die Theorien nicht nur einfach ihren Charakter verändert und sind spezieller geworden, um sich auf bestimmte Kunstrichtungen zu beschränken? Minimalart oder Konzeptkunst verfügen über die dazugehörigen Theoretiker.

Bürger: Man muss zwischen der Theorie, die ein Erklärungsmodell mit globalem Anspruch ist, und den Programmatiken unterscheiden. Programmatiken gibt es sicher, und sie können durchaus theoretisch formuliert sein.

Graw: Gibt es trotz dieser Zersplitterung noch allgemeinverbindliche Kriterien?

Bürger: Das ist die alte, haarige Kernfrage. Wenn man das Theorem des avancierten Materials aufgibt, was so ein allgemeinverbindliches Kriterium war, dann werden auch Wertungen viel schwieriger. Ich meine, dass man die Wertungen jetzt innerhalb verschiedener Materialtraditionen suchen muss. Man könnte auch auf einen Gedanken, den schon Friedrich Schlegel formuliert hat, zurückkommen. Er sagt, dass das gelungene Kunstwerk die Kriterien, nach denen es beurteilt wird, selber setzt. Die Kriterien können also nicht von außen herangetragen werden, womit der Begriff des Kriteriums völlig verändert wird. Trotzdem meine ich, dass es noch Möglichkeiten darüber hinaus gibt. Das können dann nur von mir gesetzte Kriterien sein – wir haben über Authentizität und Reflexion gesprochen. Ich wäre aber vorsichtig, mit diesen Kriterien einen Anspruch auf universelle Gültigkeit zu verbinden.

Aus: Flash Art Nr. 144, Januar/Februar 1989

Anmerkung

[1]Foto von Rainer Schossig