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AUSSERORDENTLICHE FREIHEITEN Moritz Scheper über Niklas Taleb in der Galerie Lucas Hirsch, Düsseldorf

Niklas Taleb, „Psychologie“, 2020

Niklas Taleb, „Psychologie“, 2020

Misfitting together. Nicht erst, aber erst recht seit Corona und damit verbundener organisatorischer Herausforderungen für (Wahl-)Familien ist das Konzept der „Familie“ ein umstrittenes: Wer bestimmt, was „Familie“ bedeutet, und welche Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen sind hier jeweils involviert? Niklas Talebs Fotografien zeugen von genau solchen Aushandlungsprozessen und legen, wie Moritz Scheper herausarbeitet, ein prinzipiell offenes Verständnis von Care und Support nahe.

Die Arbeiten von Niklas Taleb kennzeichnet eine gewisse Opazität, die sich absurderweise durch ihre interpretatorische Offenheit einstellt – fast so wie Container, die man selbst befüllen muss. Dies gilt auch für Talebs aktuelle Ausstellung „Dream again of better Generationenvertrag“ in der Düsseldorfer Galerie Lucas Hirsch. So zeigt etwa die querformatige Fotografie Psychologie (alle Arbeiten 2020) lediglich einen diffus beleuchteten Dielenboden: links ein Hocker, rechts eine Küchenzeile. Über dem Boden liegt ein Schattengitter, dessen Quelle offenbar der heizende Backofen ist, ebenso ein grelles Weiß, das vom Geschirrspüler stammt. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Lichtsituation hat das Foto eine eigenartig kühle Temperatur. Wären nicht die wenigen eingestreuten imperfections, etwa der gekippte Horizont, würde das Bild glatt als Rendering durchgehen.

Piktoral ist Psychologie seltsam unterdeterminiert, es gibt – salopp gesagt – nicht sonderlich viel zu sehen, während die Stilmittel einer Emotionen triggernden Bildgrammatik vollends ausgeprägt sind. Die naheliegende Assoziationskette Häuslichkeit-Behaglichkeit-Sicherheit-Familie lässt die emotionale Temperatur der Fotografie jedoch wieder steigen. Im Wissen um das rutschige Terrain, auf dem jede Interpretation von Talebs Arbeiten aufbaut (man denke nur an den in „Psychologie“ angelegten Bildwitz der ‚Küchenpsychologie‘), erklärt sich diese reduzierte, schemenhafte Realisierung des Sujets ‚Zuhause’ durch ihre deutliche Betonung des möglichen Einfalls von etwas Äußerlichem in die häusliche Abgeschlossenheit: sei es durch die spezifische, auf unsere Affekte hin designte Lichtgebung der Haushaltsgeräte, die für standardisierte Vorstellungen von Haus und Haushalt stehen, oder durch die oberflächliche Glätte, die Taleb als déformation professionelle von seinem Brotjob als Pixelschieber in einer Modelagentur mitbringt. In jedem Fall bleibt in der Schwebe, ob diese Einflüsse von außen nur zugelassen oder gar als Bereicherung empfunden werden. Psychologie ist mehr Schutzschild denn Bild, so undurchdringlich ist seine Offenheit in jede Richtung.

Deutlich weniger unterdeterminiert kommt das gegenüberliegende Bild Reverse Psychology daher, das die Tochter von Taleb und seiner Partnerin Phung-Tien Phan am Tisch vor ihrer Schüssel mit Cornflakes zeigt. Leicht verdrießlich schaut sie in die Kamera, als würde sie das Eindringen der Kamera ins Familiäre stören. Eine ältere Frauenhand mit Handy ragt seitlich ins Bild, was, ohne Details preiszugeben, als Andeutung einer Familienaufstellung gelesen werden kann. Die Skepsis der Tochter markiert in dieser Konstellation womöglich die Frage nach Zulassen oder Nicht-Zulassen äußerer Einflüsse ins Private, das bei Kindern noch weniger stark normiert ist als bei Erwachsenen. Einmal mehr wirkt hier die Beleuchtung etwas ‚gekünstelt‘, ein Hauch von Hochglanzästhetik liegt auf dem Bild, als wolle Taleb Distanz zur Privatheit des Gezeigten herstellen. Motiv und Titel zielen gleichermaßen auf das Verhältnis Eltern–Kind oder – mit der Schlüsselvokabel des Ausstellungstitels, „Generationenvertrag“, gesprochen – auf Care-Konstellationen ab.

„Niklas Taleb: Dream again of better Generationenvertrag“, 2020, Ausstellungsansicht

„Niklas Taleb: Dream again of better Generationenvertrag“, 2020, Ausstellungsansicht

Verstärkt werden solche im Bild nur angedeuteten Fragestellungen durch die spezielle Rahmung der Arbeit. Der Print liegt auf einem Hintergrundpapier, das rückseitig Tapespuren durchschimmern lässt und an einer Ecke scheinbar willkürlich abgeschnitten ist. Eingefasst ist das Ganze von zwei Glasscheiben, die oben und unten von transparentem Tape zusammengehalten werden. Die fragile, provisorische und daher offene Rahmung spielt zurück auf das Bild und die darin vorsichtig angerissene Familienkonstellation; ähnlich wie auch die Arbeit Psychologie von einem in cool grey lasierten Tulpenholzrahmen gefasst ist, was die diffuse Heiß-Kalt-Spannung des Bildes unterstreicht.

Von artist-made frames zu sprechen, wäre in diesem Fall zwar begrifflich korrekt, aber fast schon zu viel; dafür ist Taleb auch hier zu sehr Leisetreter und setzt seine Mittel bewusst reduziert ein. Zumal die fragilen Rahmen keiner Monolithisierung der Bilder Vorschub leisten, sondern umgekehrt die Rahmung als Schranke, als jene Stelle thematisieren, an denen ‚das Eigene‘ – z. B. die eigene Arbeit – immer auch in jeweils anderen Kontexten aufgeht. Diese Lesart legt auch der Umstand nahe, dass der Künstler eine offensichtlich preisgünstige Fußleiste in den Galerieraum eingebaut hat. Offiziell zwar kein ausgewiesenes Kunstwerk, betont diese aneignende Möblierung die Frage nach der eigenen Rahmung, nach Kontextualisierung zusätzlich. Mit enger Stirn kann diese Geste auch als Form von institutional awareness oder gar critique missverstanden werden. In der Gesamtheit der Ausstellung stärkt die vorgebliche Verlängerung des Privaten in den Galerieraum allerdings vor allem die Inszenierung von Familie im erweiterten Sinn als offenes, ständig neu auszuhandelndes Konstrukt. Dass solche Aushandlungsprozesse extrem prekär und gesellschaftlich bestimmt sind, verdeutlicht die provisorische, handwerklich bewusst lausige Anbringung einzelner Rahmenelemente wie auch die der Fußleisten.

Mit welchem Verständnis von Familie und Support Taleb operiert, zeigt sich insbesondere in Ohne Titel (Hannover). Fotografiert wurde hierfür kein Mitglied der Kern- oder Patchworkfamilie, sondern ein Freund. Im Anzug gekleidet, wenn auch ohne Schuhe, posiert er vor einer Pagode auf einem für die vietnamesische Diaspora, deren Teil auch Talebs Partnerin ist, wichtigen Familienevent, wie das Press Release informiert. Der Blick des Freundes ist unsicher, als weißer Singlemann wirkt er leicht deplatziert in diesem Fotospot für Familien, wodurch erneut eine dezente Störung ins Bild kommt. Diese Rolle des Freundes als misfit nimmt auch hier der Rahmen auf, indem das Hochformat der Fotografie querformatig gerahmt ist. Dies hat den Effekt einer Altarbild-gleichen Dreiteilung mit weißen Balken links und rechts der Fotografie, die die Standpunkte der Fotograf*innen (einmal Phan, die selbst nicht im Bild ist, für die der Freund aber posiert, und einmal Taleb selbst) markieren, wodurch eine Eingemeindung in den Familienkreis bzw. dessen Ausweitung angedeutet ist. Der misfit ist also nur augenscheinlich einer.

Niklas Taleb, „Ohne Titel (Hannover)“, 2020

Niklas Taleb, „Ohne Titel (Hannover)“, 2020

Die Problematisierung von Rahmung oder Präsentation der eigenen Familie navigiert Taleb geschickt durch bestehende Vorlagen dieses Konzepts: etwa durch das glatte Self-Marketing des Kardashian-Clans, aber auch die sleeken Inszenierungen weißer Familien alten Gelds bei Buck Ellison oder die intim-mythischen Aufnahmen von Seiichi Furuya. Taleb hingegen wirft Privatheit nicht als solche auf den Markt, sondern gibt sich vielmehr verschlossen privatistisch, indem persönliche Informationen in einzelnen Bilddetails kondensiert sind, die für die Betrachter*innen allerdings zumeist undechiffrierbar und insofern allgemein bleiben. Darüber hinaus mobilisiert er, der intimen Wärme der Motive zum Trotz, immer wieder einen kühlen Glanz, der die Bilder als inszeniert erscheinen lassen. Ein Erklärungsversuch für diesen zunächst irritierenden Griff ins Register der Modefotografie ist vielleicht deren Selbstverständnis, sich jederzeit „extraordinary liberties“ [1] herauszunehmen. Aber nimmt man sich nicht schon bei der Artikulation eines offeneren Verständnisses von Familie, von Care und Support, ganz zu schweigen von einem besseren Generationenvertrag, „außerordentliche Freiheiten“ gegenüber konservativen Vorstellungen von Familie heraus? Wenn man so will, enthebt der kühle Appeal von Talebs Arbeiten diese von dem Anspruch, Wirklichkeit abzubilden, und formuliert stattdessen ein mikroutopisches Ideal. In aller Bescheidenheit wird die tatsächliche Lebensrealität nicht verklärt, sondern darf improvisiert und fehleranfällig bleiben. Produktionsästhetisch hingegen mag die niedrige Temperatur der Aufnahmen für Taleb auch eine Möglichkeit sein, solch intimgeladene Motive herauszulassen. Sein heißes Herz zeigt sich dann doch in der Distanz abbauenden, zärtlichen Umarmung, die das Selbstgemachte der Rahmen ermöglicht.

„Niklas Taleb: Dream again of better Generationenvertrag“, Galerie Lucas Hirsch, Düsseldorf, 25. Juni bis 14. August 2020.

Moritz Scheper ist Direktor des Neuen Essener Kunstvereins.

Anmerkungen

[1]Liz Wells, Photography. A Critical Introduction, London 2004, S. 221.