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Giovanna Zapperi

BEWEISLAST UND STÖRUNGSGESTE Giovanna Zapperi über Technologie als Praxis im Werk von Natascha Sadr Haghighian

Natascha Sadr Haghighian, „d(13)pfad“, 2012

Ein Appell an gesellschaftliches Bewusstsein oder ein Aufruf zum Handeln, gerät in mancher zeitgenössischen Kunst schnell zur leeren Geste. Wie können heutige Künstler/innen einen weniger selbstgefälligen Aktivismus entfalten, der nicht die Mittel der Sprache künstlerischer Form aus der Hand gibt? Das Problem, so scheint es, liegt in den Verknüpfungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Feldern und Disziplinen, sei es mittels Archivrecherchen oder durch das Publikum gestalteter Darstellungen.

Mit Blick auf dieses Problem widmet die Kunsthistorikerin Giovanna Zapperi sich den Arbeiten Natascha Sadr Haghighians, in denen sie eine produktive Verbindung von politischem Aktivismus und kritischem Technologieverständnis entdeckt, die politisch eingestellten Künstlern eine Richtung weisen könne, sich wirksam zu engagieren. Am Beispiel Sadr Haghighians entwirft Zapperi so die Grundzüge einer neuen Theorie der Praxis, in der Parodie als Mittel der Kritik auftritt.

Das Feld der zeitgenössischen Kunst bietet einen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen mit unterschiedlichen politischen Handlungsweisen experimentiert werden kann. Doch bleibt dabei die Frage bestehen, welche Wirkung solche selbst erklärten politischen Praktiken haben können − sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kunstwelt. Aktivismus mag oft Bestandteil von Kunstereignissen sein (denen man die Unterstützung kritischen Denkens und politisierter Sichtweisen nachsagt), die materiellen und diskursiven Bedingungen der Verbreitung von Kunst (das heißt die mächtigen institutionellen Apparate, die als Filter wirken) neigen dagegen eher zu einer Neutralisierung politischen Handelns. Großausstellungen wie die Documenta 14 bieten Musterbeispiele ebendieser Dynamik, bei der kritisches Denken hochgeschätzt wird und dabei doch meist begrenzt und selbstbezüglich erscheint.  [1] Da Aktivismus als solcher oft in eher schlechtem Ansehen steht, kann die aktivistische Teilhabe an Kunstweltkreisen eine Art Ausgleich durch kulturelle Validierung bieten. Doch geschieht dies um den Preis eines gewissen Maßes an politischer Wirksamkeit zugunsten der Sichtbarkeit. Aber es lässt sich auch eine weitere, weniger offensichtliche Dimension dieser zwiespältigen Position benennen, nämlich ihre Auswirkung auf Ontologie und Status dessen, was im Allgemeinen als „zeitgenössische Kunst“ verstanden wird, denn sie zwingt einen, über Unterscheidungskriterien zwischen „Kunst“, „Evidenz“ und „Recherche“ oder auch zwischen „Subjektivität“ und „Objektivität“ nachzudenken.

Hierfür liefert etwa die Zusammenarbeit zwischen dem am Londoner Goldsmiths College entstandenen unabhängigen Forschungszentrum Forensic Architecture und der Gesellschaft der Freund_innen von Halit ein gutes Beispiel − Letztere beziehen sich auf den am 6. April 2006 in Kassel von der Neonazi-Organisation NSU ermordeten Halit Yozgat. Die mehrteilig angelegte Präsentation der Gruppe, die sich mit Erscheinungsformen neonazistischen Terrors und institutioneller Rassismen in Deutschland auseinandersetzte, entspann sich um das von Forensic Architecture produzierte Video „77SQM_9:26MIN“ (2017), in dem die Beteiligung des Undercover-Verfassungsschützers Andreas Temme rekonstruiert wird, der zwar zum Zeitpunkt der Mordtat vor Ort war, vor Gericht jedoch entlastet wurde.  [2] Das Video lässt den Tatort virtuell (mithilfe einer 3-D-Animation) und physisch (durch eine materielle Rekonstruktion des Raums) wiedererstehen und entwickelt drei mögliche Tathergänge, die insgesamt ergeben, dass Temmes mutmaßliche Verwicklung in den Mord tatsächlich sehr wahrscheinlich ist.

Forensic Architecture, Rekonstruktion des Internet Cafes in Original­größe im Haus der Kulturen der Welt (HKW), Berlin, 2017.

Das Video nimmt die Form einer Untersuchung eigenen Rechts an und führt technologische und juristische Erkenntnisse zusammen, um auf diese Weise eine wirkungsvolle Forderung nach Gerechtigkeit zu formulieren. Interessanterweise hatte der von der Gruppe gewählte Einsatz von Technologie − obwohl das Video als Teil noch laufender Bemühungen um eine Wiederaufnahme von Temmes Fall produziert wurde und entsprechend einem speziellen Protokoll für den Umgang mit Beweismitteln folgte, den der Kunstbereich sicher nicht zur Gänze gewährleis­ten kann − in einem Kunstkontext eine besondere Zeitnähe. Die von Forensic Architecture eingesetzten und positivistisch verwendeten Techniken (Filmanimation, interaktive Kartografie und 3-D-Modeling) fungierten als Werkzeuge, mit deren Hilfe Temmes Verwicklung objektiv geprüft werden sollte. Auch wenn es mit der Untersuchung letzten Endes nicht gelang, das Verfahren neu aufzurollen, stellte sie doch den politischen Charakter des Prozesses der Rekonstruktion klar und schaffte es zudem, die Verbindungen zwischen den Staatsapparaten und dem in Deutschland gegebenen systemischen Rassismus offenzulegen.  [3] All jenen, die sich angesichts einer aktuellen Faszination zeitgenössischer Kunst, die von rechten Bildwelten ausgeht, und angesichts eines technologischen Fetischismus Sorgen machen, sollten die Aktivität und der alternative Umgang, die Forensic Architecture in Bezug auf Technologie entwickeln, sehr zupasskommen.  [4] Das Kollektiv mag innerhalb der Kunstwelt eine zwiespältige Position besetzen (da es weder dort entstanden ist noch sich damit identifiziert und dennoch an deren Strukturen partizipiert), sein Arbeiten im Kunstzusammenhang zwingt uns auf sehr produktive Weise, nach dem Verhältnis von Technologie und künstlerischer Produktion zu fragen und danach, ob Objektivität als (durch technologische Werkzeuge verwirklichte) formale Grammatik eigenständige künstlerische Formen hervorbringt.

Forensic Architecture, Computersimulation der Bewegungen und Sichtachsen von Andreas Temme, 2017

Natascha Sadr Haghighian ist eine Aktivistin und Künstlerin, die ebenfalls mit einem Bein innerhalb, mit einem Bein außerhalb der Kunstwelt steht; sie gehört der kollektiven Initiative „NSU-Komplex auflösen!“ an, die das Video bei Forensic Architecture in Auftrag gegeben hat, und der Gesellschaft der Freund_innen von Halit. Ihre Beteiligung an dem Projekt ergab sich aus der produktiven Verschränkung von politischem Aktivismus und einem kritischen Technologiebegriff (zu dem ein gewisser Grundzweifel gehört), die gleichermaßen kennzeichnend für ihre Arbeitsweise ist.

Hier möchte ich mich mit einigen neueren Arbeiten Sadr Haghighians beschäftigen − insbesondere mit solchen, die mit einer gegenwärtigen Militarisierung des Alltagslebens zu tun haben –, um so die komplexe Verflechtung von Kunst, Politik und Technologie in den Blick nehmen zu können. Technologie ist in ihrer Arbeit ein allgegenwärtiges Thema; sie ist wesentlicher Bestandteil ihrer Inhaltlichkeit und Materialität wie auch deren Erfahrung durch die Betrachter/innen. Die hier behandelten Arbeiten nehmen die Form skulpturaler Environments an, innerhalb derer Alltagsgegenstände von den Betrachtern/Berachterinnen aktiviert werden sollen und die mitunter an eine Art Interaktivität denken lassen, wie sie für Kommunikationstechnologien typisch ist. Es sind Werke, die ein grundlegendes Misstrauen dem Vermögen von Technologie gegenüber vermitteln, ein besseres Leben zu schaffen. Und trotzdem enträt ihre Ästhetik eben jener Art apokalyptischer oder technikfeindlicher Bildwelten, die man sonst von einer solch reservierten Haltung erwarten könnte. Ganz im Gegenteil verleiht Sadr Haghighian ihrem Technologiebegriff eine kritische Dimension, indem sie ihn ironisiert und auf eine entschieden gegenderte Dimension technologischer Entwicklung verweist, insbesondere bei Überschneidungen mit militärischen Anwendungen.

Poster der Kampagne „NSU-Komplex auflösen!“, 2017

Natascha Sadr Haghighians Interesse an Militärgeschichte und -technologien setzte um das Jahr 2012 im Zusammenhang mit ihrem Projekt für die Documenta 13 ein: eine Arbeit mit dem Titel „Trail“, zu der die Anlage eines Fußwegs durch die Kasseler Karlsaue gehörte, eines öffentlichen Raums, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer Abraumhalde aus Kriegs­trümmern wieder eingerichtet wurde. Mit dieser Arbeit lenkte die Künstlerin die Aufmerksamkeit auf die historische Rolle der Kriegsindustrie, die das Bild der durch die Bombardements der Alliierten fast zerstörten Stadt Kassel geprägt hat, die nach Kriegsende erneut zum Knotenpunkt für Militärindustrie wurde. Bei ihren folgenden Nachforschungen zu Geschichte und Technologie im Zusammenhang mit der militärischen Entwicklung galt Sadr Haghighians besonderes Interesse der osmotischen Durchlässigkeit zwischen sonst als getrennt dargestellten Gesellschaftsteilen, etwa dem Bereich der Strafverfolgung und dem der nationalen Verteidigung. Bei „Pssst Leopard 2A7+“ entfaltet sich die Beziehung zwischen militärischen Bildern und dem gegenderten Körper über spezifische materielle Verfahrensweisen, die die Künstlerin sich erarbeitet hat. Die erste Umsetzung im Rahmen einer Ausstellung, die 2013 in der Berliner Galerie Johann König zu sehen war, übernahm die räumliche Ausdehnung und Grundrissform eines Kampfpanzers (des im Titel erwähnten Leopard 2A7), der von der deutschen Rüstungsfirma Krauss-Maffei Wegmann als Panzerfahrzeug für den Einsatz in städtischen Umgebungen gebaut wird. Pressetexte, mit denen der Panzer beworben wird, sprechen von seinen Einsätzen in „Friedensmissionen“. Doch legt seine Fertigstellung um das Jahr 2010, die mit der Welle revolutionärer Ereignisse im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling zusammenfiel, nahe, dass er vor allem geeignet ist zur „Unterdrückung ziviler Unruhen mit militärischen Mitteln“5. Sadr Haghighians Neuschaffung des Fahrzeugs ist so pointiert wie possenhaft entmilitarisiert, setzt es sich doch hier aus Frachtgutpaletten zusammen, die von einer Oberfläche aus weißen, grünen und blauen Legoplatten (flickenartig wie Leopardenflecken oder militärische Tarnmuster angeordnet) überzogen sind, zu denen ein aus 60 Kopfhörerbuchsen (die Arbeit beinhaltet eine sich stetig weiterentwickelnde Soundkomponente) gebildeter Kreis gehört, der den Umrisslinien des Zentralturms am Leopard-Panzer folgt.

Natascha Sadr Haghighian, „Pssst Leopard 2A7+“, 2013

Es ist bemerkenswert, dass die Künslerin jegliche direkte Darstellung der menschlichen Körperform, männlich oder wie auch immer geartet, in ihrer Beschäftigung mit militärischen Technologien und Bildern vermeidet. Stattdessen rückt sie das eigene körperliche Erleben der Betrachter/innen in den Mittelpunkt, etwa indem sie einen Kontrast zu jener Körpersprache aufbaut, die man normalerweise mit einem solchen Gegenstand assoziieren würde. Dieses Panzermodell lädt Besucher/innen dazu ein, sich auf seiner Plattform-Oberfläche hinzusetzen oder hinzulegen und verschiedenen Soundscapes zu lauschen, die sich auf die Verwendungsweisen und auf die Geschichte des Panzers beziehen, als ginge es darum, das gar nicht so verborgene Geheimnis des eigentlichen Gebrauchs des Leopard 2A7 offenzulegen.  [6] Indem sie die Form des Panzers zu einem interaktiven Spielplatz umgestaltet, reduziert Sadr Haghighian das Brüllen des Leoparden mit der Involvierung der Betrachter/innen zu einem Flüstern. Es sind die Hörer/innen, die das Panzermodell besteigen und die ihrerseits den Unterminierungsprozess bestätigen, den die Künstlerin in Gang gesetzt hat; es sind die Besucher/innen, die die Vorstellung von diesem Gegenstand ent-waffnen und als verschiedene Zivilisten/Zivilistinnen die Verbindung zum „Kriegspielen“ ent-gendern. Und ebenso sind es auch die Betrachter/innen, die sich gewissermaßen über normative Männlichkeit lustig machen, die üblicherweise mit der Darstellung von Kriegsführung einhergeht.  [7]

Indem sie das Skulpturale mit Prinzipien der Spielplatzgestaltung assoziiert, nimmt die Arbeit auch auf die Einschreibungen von Männlichkeit in der modernen Kunst Bezug. Die flache, geometrische Struktur mit ihrer rasterartigen Anordnung von Farbflächen bei „Pssst Leopard“ lässt sich in der Tat als Anspielung auf minimalistische Skulpturen verstehen, wie etwa auf Carl Andres typisches Idiom des flachen, seriellen Arrangements quadratischer Elemente – wie bei seinen „37 Pieces of Work“ (1970) – und ihrem Bezug zu industrieller Produktion und Materialien. Stärker noch erinnert die Arbeit an Pino Pascalis Serie „Weapons (Le Armi)“ aus dem Jahr 1965, bei der die Kriegsmaschinen ebenfalls in Spielobjekte, genauer in Spielzeuge für Jungen, verwandelt wurden (wenngleich es bei dieser früheren Serie um die Kriegszone Vietnam ging).  [8] Die Versio­nen des Readymade, die die minimalistische Skulptur wie auch die Arte Povera vorschlugen, verweisen auf eine Zeit industrieller Produktion, in der das Modell der Fabrikarbeit langsam durch immaterielle Arbeitsformen und durch jene Technologiegebiete abgelöst wurde, auf die Sadr Haghighian mit ihrer Arbeit anspielt.  [9] Passte die Reproduktion von Spielzeugbomben, Kanonen und Maschinengewehren zu Pascalis Inszenierung von übertriebener Männlichkeit − bei der Kindheitserinnerungen mit dem heroischen Bild des Künstlers durchmischt sind –, so legt Sadr ­Haghighian mit „Pssst Leopard 2A7+“ sowohl jenen Kulturtopos, der den Archetyp der heldengleichen (männlichen) Künstlerfigur verstärkt, als auch das kanonische Formenvokabular minimalistischer Skulptur frei. „Pssst Leopard“ präsentiert eine andere Art Skulptur, eine, die die symbolischen und genderspezifischen Verbindungen dieser Ausdrucksformen enttarnt: das wilde Tier, die Waffe, den (männlichen) Künstler.

Kampfpanzer 2 A7

Die Idee der Entwicklung eines speziell für städtische Einsätze ausgelegten Panzers verweist auf eine weitere Überschneidung zwischen der Geschichte der Zivilgesellschaft und derjenigen der Militärindustrie. Deren osmotischer Austausch bezieht sich allerdings nicht nur auf den Bereich der Waffenherstellung, sondern umfasst auch andere Aspekte alltäglichen Lebens, besonders solche mit technologischen Innovationen. Ein anderes, neueres Projekt Sadr Haghighians konzentriert sich auf die Frage nach dem Verhältnis von Blick und Technologie und bezieht sich dabei auf Verfahren, bei denen innerhalb der Waffenindustrie initiierte Forschungen den Übergang in den zivilen Gebrauch gefunden haben. So geht etwa das Programm CatchEye auf in der militärtechnologischen Industrie gebräuchliche 3-D-Mapping-Forschungen zurück; es handelt sich dabei um eine Bildkorrektur-Software, die sich in Kommunikations-Apps wie zum Beispiel Skype oder WhatsApp einbauen ließe. CatchEye erkennt die Gesichtszüge der User/innen auf dem Bildschirm und richtet die Blickachsen so aufeinander aus, dass nicht mehr der Eindruck entsteht, aneinander vorbeizuschauen (was dadurch passiert, dass jede/r User/in auf das Monitorbild und nicht in die Kamera schaut). Es wird die Illusion geschaffen, dass sich die User/innen direkt in die Augen sehen, was wiederum das Gefühl von Nähe und Präsenz verstärkt.

Sadr Haghighians Installation „Onco Mickey Catch“ aus dem Jahr 2017 nutzt diese CatchEye-Software. Bei der Arbeit wurden zwei voneinander abgewandte Monitore auf eine tierartige Form aufgesetzt, sodass die Bildschirme dem kopflosen Körper buchstäblich zu entwachsen scheinen. Die Form der Skulptur lässt einen an eine Neufassung der „Vacanti-Maus“ denken, eine in den 1990er Jahren geschaffene Labormaus, die dafür berühmt wurde, dass auf ihrem Rücken dank wissenschaftlicher Einflussnahme eine dem menschlichen Ohr ähnliche Form wuchs. Des Weiteren bezieht sich der Titel natürlich auf Disneys Figur Mickey Mouse − und auf die OncoMouseTM (eine aufgrund ihrer hohen Anfälligkeit für Tumorbildungen speziell für die Krebsforschung geeignete Labormäuseart)10. Auch das skulpturale Präparat, das dieser Arbeit als Sockel dient, erinnert an den Körperbau einer Maus. Und tatsächlich ist es ein solches Zusammenbrechen der Grenzen zwischen dem Organischen und dem Mechanischen, auf das die Arbeit abzielt, indem sie lebendige Körper in die Auflösung der Grenzen zwischen Technowissenschaft und Unterhaltungsindustrie einbezieht.

„Onco Mickey Catch“ führt vor, wie die Verbindung von Software, Körper, Bildschirm und Blick die Repräsentation einer Auflösung der Differenz von organischem Körper und technologischem Apparat produziert. Die Inszenierung dieses Mäuse-Trios (dem man eine vierte beigesellen könnte, die Computermaus) suggeriert eine Vermischung zwischen diesen drei verschiedenen Kultursektoren (Unterhaltungsindustrie, Biotechnologie und Computerwissenschaft), durch die eine dystopische, Dada-artige Assemblage entsteht. Die Konstruktion aus organischen und nichtorganischen Komponenten erinnert tatsächlich an die surrealistische Vorliebe für absurde Materialkombinationen, wie sie beispielsweise bei Meret Oppenheims berühmter „Pelztasse“ aus dem Jahr 1936 zu sehen ist, für die ein Stück Säugetierpelz auf die kalte, glatte Porzellanoberfläche eines alltäglichen Gebrauchsartikels aufgebracht wurde. Wie bei den bereits erwähnten Werken Sadr Haghighians lädt auch „Onco Mickey Catch“ die Betrachter/innen ein, das Werk mittels physischer Interaktion zu erfahren. Die Position der beiden Bildschirme ermöglicht einen Videochat mit der gegenübersitzenden Person; die integrierte CatchEye-Software lässt die Blicke der Betrachter/innen sich begegnen. Angesichts der ohnehin gegebenen körperlichen Nähe der beiden User/innen macht die (eigentlich zur Überwindung von Distanz gedachte) Technologie, wie sie hier verwendet wird, die mediatisierte Begegnung zur Karikatur, zum sinnentleerten Komfort.

Natascha Sadr Haghighian, „onco-mickey-catch“, 2016

Tatsächlich „ermöglicht die Blickrichtungskorrektur-Software zwar den direkten Augenkontakt, doch erlaubt sie einem das Wegschauen nicht mehr“, wie Sadr Haghigian kommentiert.  [11] Jenseits des ironischen Entwurfs dieser halb tierischen, halb dysfunktionalen Maschine geht es hier um die Problematik der unbegrenzten Anwendung biometrischer Technologien zur Personenerkennung und Überwachung im Alltagsleben. In der kulturellen Logik des Informationszeitalters ist der Bildschirm nach Jonathan Crary sowohl ein Gegenstand der Aufmerksamkeit als auch ein Gegenstand, der menschliches Verhalten überwacht, aufzeichnet und referenziert.  [12] Der Blick des Screens bewirkt beim Betrachter/bei der Betrachterin eine Blickumkehr, er „erwidert den Blick“ des betrachtenden Subjekts wie ein körperloses, mechanisches Auge. Unter Bezugnahme auf Donna Haraway verweist Sadr Haghighian auch auf die Verstrickungen, die zwischen zeitgenössischen Vorstellungen von „absolutem Sehen“ und der Herkunftsgeschichte des modernen Objektivitätsbegriffs bestehen. Letzterer gründet sich auf die Annahme eines nicht eigens ausgewiesenen (weißen, männlichen) erobernden Subjekts des Blicks, dem Haraway eine auf einer „parteiischen Perspektive“ und auf einem entsprechend differenten Objektivitätsbegriff basierende feministische Erkenntnistheorie entgegensetzt. [13] Die Technologien des Sehens und ihre machtdiskursiven „Sichtweisen“ werden dabei infrage gestellt, auch um in Zweifel zu ziehen, dass die Visualisierungstechnologien jemals die ganze Komplexität menschlichen Interagierens erfassen könnten.

Der Blick auf die Kreisläufe von Macht, Sehen und Technologie fragt nach dem möglichen Nutzen heutiger Technologien des Sehens in sozialen Machtkämpfen oder für die Umsetzung einer Taktik der Gegen-Visualität. Sadr Haghighian setzt ihr Werk zur Befragung entstehender Technologien an eben jenem Ort ein, an dem Machtverhältnisse produziert und realisiert werden. Um nochmals auf das Beispiel der Forensic Architecture und ihrer „außerdisziplinären“  [14] Formensprache zurückzukommen: Die Art der kritischen Überprüfung, zu der es in Sadr Haghighians Arbeiten kommt, verwirft jene Sprache der Objektivität, die im Zusammenhang eines Ermittlungsverfahrens benötigt wird. Stattdessen passen sich die spezifischen visuellen und materiellen Eigenschaften ihres Werks denjenigen an, die das kulturelle Idiom umfasst, das kunsthistorische Referenzen mit einer Reihe zeitgenössischer gesellschaftlicher Praktiken verbindet, was ihre Arbeit eindeutig dem Bereich der Kunst zuordnet. Statt (nichtkünstlerische) Fachkenntnisse bieten ihre Produktionen Parodie als Mittel der Kritik an. Dabei geht es nicht um eine Erforschung des politischen Nutzens von Technologie, sondern um eine Forschung, die Technologie selbst zu ihrem Gegenstand erklärt, indem sie deren Verwicklung in ein breites Spektrum sozialer Praktiken offenlegt. Man kann nun die Auffassung vertreten, wir hätten es hier mit zwei grundsätzlich verschiedenen Verständnisweisen der Beziehung zwischen Objektivität und Politik zu tun. Im ersten Fall wird Technologie als ein Werkzeug gesehen, mit dessen Hilfe sich die Fakten auf objektive Weise interpretieren lassen (um damit, wie in diesem Fall, Gerechtigkeit zu fordern); im zweiten Fall ermöglicht die Ausarbeitung eines spezifischen Idioms eine neue Perspektive auf technologische Objektivität mitsamt ihrer Machtverfangenheit.

Sadr Haghighians Fokus auf die Verschränkung von Macht und Technologie ist auch der Grund, warum sie sich jener heute so verbreiteten Mimikry enthält, die so typisch für das Interesse vorwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) männlicher Künstler an den schimmernden Oberflächenreizen von neuen Kommunikationstechnologien zu sein scheint. [15] Ihre Arbeiten sind vielmehr von einem Idiom des Anti-Spektakulären gekennzeichnet, zu dem auch die Betonung alltäglicher Gesten und Körpererfahrungen zählt, die sich im Rahmen des fortwährenden feministischen Projekts der Untergrabung kanonischer Einschreibungen von Größe und Bedeutung interpretieren lassen. Diese Haltung richtet sich gegen die Aura des Wichtigen, die als typische Begleiterscheinung der Repräsentation männlicher Aktivitäten im kulturellen Bereich insgesamt gelten kann. Ihr Humor hat eine ähnliche zentrale Bedeutung bei der Überwindung allzu simpler Binarismen wie von Technophilie und Technophobie, hebt sie doch stattdessen das Handlungsvermögen des Subjekts (bzw. des Users/der Userin) im Verhältnis zur Technologie hervor. Faszination wird hier durch eine nuanciertere Bewertung der technologischen Lebenswelt als strukturell gebrochene und dysfunktionale ersetzt, die dennoch zutiefst mit unserer Selbstbestimmung verbunden ist. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum ihre Arbeiten den Betrachtern und Betrachterinnen so viel Raum lassen; denn ihre Aufmerksamkeit gilt nicht dem technologisch Neuen an sich − etwa dem Flatscreen als zeitgenössischem Fetisch −, sondern richtet sich vielmehr auf die Art, wie wir handeln und uns zueinander verhalten. Auf solche Weise mit dem technologischen Objekt zu interagieren, aktiviert die Betrachter/innen, bringt sie zur Überwindung passiver Tendenzen und stellt den Versuch dar, in die Kreisläufe von Kommunikation und Kontrolle einzugreifen. Der Gebrauch (und der Missbrauch) von Technologie wird in diesem Werk über eine Reihe kleiner Gesten und ganz gewöhnlicher Subversionsakte erkundet. Kommunikationstechnologien und Macht waren immer schon ineinander verstrickt, doch gelingt es Sadr Haghighian Störfaktoren. wirksam zu machen, aus denen Akte der Unterbrechung folgen. Diese können den kontrollierenden Zugriff lockern und über körperliche, interpersonale Erfahrung jene Überschussproduktion an Bedeutung aufdecken, in die sich unser Leben in wachsendem Maße verstrickt findet.

Übersetzung: Clemens Krümmel

Anmerkungen

[1]Einige Kritiker/innen haben die politische Relevanz der Documenta 14 hervorgehoben, die sich ihrer Ansicht nach am wirkungsvollsten zur Lage der Demokratien und der sozialen Gerechtigkeit (die in diesem Jahr Deutschland in direkten Kontakt zu Griechenland brachte) geäußert hat. Vgl. hierzu etwa: T. J. Demos, „Learning from Documenta 14. Athens, post-democracy and decolonization“, in: Third Text , http://thirdtext.org/demos-documenta; sowie Hili Perlson, „The most important piece at Documenta 14 in Kassel is not an artwork. It’s evidence“, in: Art News , 8. Juni 2017, https://news.artnet.com/exhibitions/documenta-14-kassel-forensic-nsu-trial-984701.
[2]Die Untersuchung wurde von einer Allianz aus Kunstins­titutionen und aktivistischen Gruppen gemeinschaftlich in Auftrag gegeben: dem Volkstribunal „NSU-Komplex auflösen”, Haus der Kulturen der Welt (HKW), Berlin, der Initiative 6. April und der Documenta 14. Detaillierte Informationen zum Tribunal sind hier zu finden: http://www.nsu-tribunal.de. Zu den Untersuchungsergebnissen von Forensic Architecture, einschließlich des oben erwähnten Videos, vgl. http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/.
[3]Die Untersuchungsergebnisse wurden den Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages und des Landes Hessen übergeben, dann allerdings in einem internen CDU-Bericht zurückgewiesen. Bezeichnenderweise erwähnt der CDU-Bericht Forensic Architecture als eine „Künstlergruppe“, offenbar, um die Gruppe dadurch zu diskreditieren. Vgl. die offizielle Antwort von Forensic Architecture: http://www.forensic-architecture.org/wp-content/uploads/2017/09/Response-to-CDU_2017.09.19.pdf.
[4]Hier beziehe ich mich auf die von Anselm Franke und Ana Teixeira Pinto besprochenen Arbeiten, in: „Post-political, post-critical, post-internet. Why can’t leftists be more like fascists?“, in: Open! Platform for Art, Culture, and the Public Domain, 8. September 2016, http://www.onlineopen.org/post-political-post-critical-post-internet.
[5]Man beachte, dass dieser Panzertyp zurzeit in Katar und anderen Teilen der Region im Einsatz steht.
[6]Einige dieser Soundscapes sind online hier zu finden: http://possest.de/2013/12/31/pssst-leopard-2a7-2/.
[7]Die Armee hat historisch eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung moderner Formen von Männlichkeit gespielt, dies vor allem durch die Heranbildung physisch kraftvoller Körper, die bewaffnet, undurchdringlich und ausnahmslos als männlich entworfen wurden. Vgl. George Mosse, The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, Oxford 1998.
[8]Pascali äußerte sich dahingehend, dass die Werke in dieser Serie wie Waffen und wie Spielzeuge aussehen sollten − und zwar gleichzeitig. Vgl. Alex Potts, „Autonomy in Post-War Art. Quasi Heroic and Casual“, in: Oxford Art Journal , 1, 2004, S. 183.
[9]Natascha Sadr Haghighian hat diesen Punkt in einigen ihrer Texte genauer ausgeführt, in denen sie sich zu möglichen Verwendungen für Technologie äußert; vgl. hier insbesondere: „Disco Parallax“, in: e-flux journal , 61, 2015, http://www.e-flux.com/journal/61/60991/disco-parallax/. Zur Frage von industrieller und künstlerischer Arbeit im Italien und in den Vereinigten Staaten der 1960er Jahre vgl. Jaleh Mansoor, Marshall Plan Modernism. Italian Postwar Abstraction and the Beginnings of Autonomia, Durham 2016, S. 140−151.
[10]Die OncoMouseTM ist ein genetisch modifiziertes „Trademark“-Tier, das in den 1990er Jahren zu Zwecken der Krebsforschung, vor allem der Brustkrebsforschung, gezüchtet wurde. Wie Donna Haraway schrieb: „OncoMouseTM ist mein Geschwister, besser gesagt, ob er oder sie nun männlich oder weiblich ist, meine Schwester. […] Natürliche Umgebung, körperliche/genetische Evolutionsstätte sind ihm/ihr das technowissenschaftliche Labor und die Regulierungsinstitutionen eines mächtigen Nationalstaats.“; Donna Haraway, Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_ Meets_OncoMouse: Feminism and Technoscience, New York 1997, S. 79.
[11]Natascha Sadr Haghighian, „Parallax“, in: Katrin Klingan u. a. (Hg.), Textures of the Anthropocene, Cambridge, Mass., 2015, S. 136.
[12]Jonathan Crary, Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, Mass., 1999, S. 76.
[13]Natascha Sadr Haghighian, „Parallax“, a. a. O., S. 138. Vgl. dazu Donna Haraways Begriff des „situierten Wissens“ (situated knowledge ), in: Dies., Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London 1991, S. 183−201.
[14]Mit Bezug auf Brian Holmes’ Definition des „Außerdisziplinären“. Vgl. Brian Holmes, „L’Extradisciplinaire. Critique des institutions artistiques“, in: Multitudes , 28, 2007, S. 11−17.
[15]Auch hier beziehe ich mich wieder auf die Art künstlerischer Arbeit, die sich lose dem sogenannten Post-Internet-Stil zuordnen lässt, der besonders im Zusammenhang der Berlin Biennale des Jahres 2016 Beachtung fand.