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DOKUMENTATION UND ANALYSE Hans-Jürgen Hafner über „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum, Berlin

„documenta. Politik und Kunst“, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

„documenta. Politik und Kunst“, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 2021, Ausstellungsansicht

Wessen Geschichte? Im Juli dieses Jahres wurde verkündet: Die für 2022 geplante Documenta 15 in Kassel findet statt. Erst zwei Wochen zuvor hatte im Deutschen Historischen Museum in Berlin eine Schau über die 42-jährige Geschichte der 1955 von Arnold Bode gegründeten Großausstellung eröffnet. Dem dezidiert zeithistorischen Interesse der Ausstellung entspricht allerdings, wie Hans-Jürgen Hafner einräumt, eine methodische Unschärfe: Statt die Ausstellungs- und Zeitgeschichte der Documenta in einen größeren diskurshistorischen Zusammenhang zu stellen und in Kunstwerken mehr als nur einen zeithistorischen „Beleg“ für diese zu sehen, droht die Ausstellung starr der Chronologie verpflichtet zu bleiben und der Komplexität versteckter Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Nachkriegsdeutschland auch kunsthistorisch nicht gerecht zu werden.

Die breite Medienresonanz auf „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) zeigt, dass die Initiative, 42 Jahre Ausstellungsgeschichte, von der ersten Ausgabe der Documenta (1955) bis zur dX (1997), zu einer Schau unter dezidiert zeit- und eben nicht kunsthistorischen Vorzeichen zusammenzupacken, einen Nerv trifft. Man mag allerdings fragen, wie das methodisch und technisch gehen kann: wie die Documenta einerseits als Sonderfall von Großausstellung und andererseits als von Ausgabe zu Ausgabe höchst wandlungsfähiges, von ihren jeweiligen Kurator*innen massiv geprägtes Format mit den Mitteln der historischen Ausstellung erfasst werden kann.

Als eigener Ausstellungstyp hat die Documenta den allgemeinen Trend der Kunst, nach Helmut Draxler, selbst „ausstellungsförmig“ und „diskursiv“ [1] zu werden, wesentlich mit in Gang und als effizient vermarktetes Event von der nordhessischen Provinz aus unter die Leute gebracht. Zeitgenössische Kunst ist demzufolge nicht mehr das, was die Moderne 1955 war. Auch wenn es heute immer noch klassische Werkformen wie Gemälde und Skulptur gibt, sind Diskurs und Ausstellung als form- und inhaltsgebende Verfahren mittlerweile bestimmend in die Praxis der Kunst eingerückt, was an der Ausstellungsgeschichte der Documenta besonders gut ablesbar ist. Zugleich ist die Documenta als zeitgeschichtliches Kapitel nicht abgeschlossen. Gerade auch aufgrund der wachsenden Ansprüche an die Bundes-Kasseler „Hausmarke“, je globaler deren Reichweite wird, ragt sie in die Gegenwart hinein und prägt dabei nicht nur das aktuelle Kunstgeschehen. 2022 wird die nächste Ausgabe, offiziell: „documenta fifteen“, stattfinden. Schwierig daher, die notwendige historische Distanz in die Ausstellung einzuziehen, zumal in einem Haus, das zu den wenigen Museumseinrichtungen gehört, die unter Direktmandat des Bundes stehen. Freilich: Warum kommt eigentlich nicht die Neue Nationalgalerie auf so eine vielversprechende Ausstellungsidee?

Bemerkenswert an der bisherigen Rezeption von „documenta. Politik und Kunst“ ist, dass der Fokus auf eine einzige Personalie, auf Werner Haftmann, verengt bleibt. Diese Personalie stiehlt der Documenta gewissermaßen die Schau. Der 1936 promovierte Kunsthistoriker war auf Einladung des Documenta-Initiators Arnold Bode seit 1954 im fünfköpfigen Arbeitsausschuss, bildete mit Bode 1964 (DIII) zuletzt das kuratorische Führungsduo, bevor ein Documenta-Rat übernahm. Es ist zwar wichtig, dass die Personalie nun auf dem Tisch liegt, dass man etwa die in den letzten Jahren vermehrt diskutierten Hinweise auf Haftmanns wenig ruhmreiche Vergangenheit als SA- und NSDAP-Mitglied nicht mehr ignoriert. [2] Es wäre aber höchste Zeit, dies im Zusammenhang mit seiner prominenten Funktionärs-, Lehr- und Publikationstätigkeit, nämlich unter anderem als erster Direktor der 1968 programmatisch als „Neue“ eröffneten Nationalgalerie in Westberlin, auch über die DHM-Ausstellung hinaus zu reflektieren.

Eingeleitet von einem allgemeinhistorischen „Prolog“ soll es in den vier Kapiteln der DHM-Schau gleichwohl um weit mehr und anderes gehen: um die Documenta und NS-Kontinuitäten, um das Konzept des Westens als „kulturelles und politisches Programm“ im Kontrast zum Osten als „das andere der Moderne“ und zuletzt um die Documenta als „Ereignis und Institution“.

Gut beraten ist, wer im Erdgeschoss des Pei-Baus gegen die Gebrauchsanweisung mit dem letzten, von der Zeithistorikerin Dorothee Wierling betreuten Kapitel beginnt. Hier wird die Großausstellung im Wandel der Zeit und als Ausstellung, das heißt als logistisches, administratives, finanziertes und öffentlich kommunizierendes Gebilde, in dem publikumswirksam Kunst gezeigt wird, am ehesten plastisch, wenngleich indirekt durch gut aufbereitetes Material zu Finanzierung und Marketing, zur sich wandelnden Rolle von Kunstvermittlung, aber auch anhand dokumentierter Reaktionen der Besucher*innen. Hier wirkt zudem das starr in der gesamten Ausstellung durchgehaltene Grid aus multifunktional-langweiligen Metallgestellen der Projekt-Szenografen chezweitz nicht gar so beengend. Wo sonst ein homogener Info-Look regiert – der die ausgewählten, wenigen Kunstwerke gerade im Untergeschoss buchstäblich an die Wand spielt –, siegt hier der Inhalt über die Inhaltsinszenierung und informiert detailliert über das komplexe Making-of hinter der Bühne, ohne die Resonanz darauf aus dem Blick zu verlieren.

Rudolf Levy, „Selbstbildnis IV“, 1943

Rudolf Levy, „Selbstbildnis IV“, 1943

Die Sichtung der Präsentation im Untergeschoss verlangt angesichts der Materialfülle viel Geduld, ohne dass die Documenta – als Ausstellung, als Institution und, unter jeweils veränderten Bedingungen, als historisches Produkt – fassbar, die innere Entwicklung von Ausgabe zu Ausgabe nachvollziehbar werden würde. Als Ausstellung und Institution trägt sie per se das Spannungsfeld von Politik und Kunst in sich aus und wird gleichzeitig als Einsatz im Kunst- wie Politikbetrieb zu den jeweiligen zeitgeschichtlichen Bedingungen identifizierbar. Letzteres reißen die Kapitel von Lars Bang Larsen und Alexia Pooth zum Konzept des „Westens“ bzw. zur kulturpolitischen Frontstellung im Kalten Krieg und zu seinen Effekten speziell bei der D5 und D6 immerhin an. Diese Konstellation schlägt tatsächlich nicht nur auf die jeweiligen hochideologischen Kunstpolitiken der BRD und der DDR durch, sondern klingt ebenso in einzelnen Werken wie auch in ihrer Einbettung in die Documenta nach. Hierbei rächt sich allerdings, dass die Ausstellungskonzeption des DHMs im Grunde starr der Chronologie verpflichtet bleibt, Ausstellungs- und Zeitgeschichte also linear-parallel erzählt werden, statt sie diskurshistorisch ins Strukturelle aufzubrechen und in Kunstwerken mehr als nur einen zeithistorischen „Beleg“ für diese zu sehen; noch dazu, wo es ein wesentliches Motiv der Ausstellung ist, das Verhältnis von „ästhetischer“ und „historischer“ Urteilskraft auszuloten, wie Raphael Gross, Präsident des DHMs, im Katalogvorwort schreibt.

Auch aufgrund dieser im Display gespiegelten methodischen Unschärfe bleibt die Rezeption der Ausstellung so hartnäckig an der Personalie Haftmann kleben, ohne ernsthaft darüber hinaus den oft gar nicht mal so versteckten Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und dem 1955 längst geteilten Nachkriegsdeutschland nachzuspüren; geschweige denn Narrative freizulegen, die auch die unmittelbare kunstpolitische Vorgeschichte einbeziehen und die vielfachen Nachwirkungen miteinander verknüpfen würden. Der künstlerisch und politisch umstrittene, bürgerlich und national gedeutete, verfemte, rehabilitierte und, in Ost wie West, je unterschiedlich revidierte Expressionismus würde sich dabei als regelrechter „Jahrhundert-Fall“, als strukturelle Klammer anbieten. Allein an der Ausstellungsgeschichte von Wilhelm Lehmbrucks Skulptur Kniende (1911) – die als Schlusspunkt des Prologs im Rundgang durch die Ausstellung gleichsam nur „abgestellt“ ist – ließe sich eine eigene Fallstudie politischer und propagandistischer Beanspruchung rekonstruieren, die auf weit komplexere Zusammenhänge als diejenigen zwischen dichotomer „Verfemung“ und „Rehabilitation“ hinweisen. Der Mythos der „Stunde Null“ bröckelt ja nicht erst seit gestern. Personelle, funktionelle und institutionelle Kontinuitäten, die nach Kriegsende und dem Zusammenbruch des NS-Staats, zum Teil auch mit alliierter Duldung, weiterbestanden, sind teils seit Jahrzehnten Gegenstand historischer Forschung, wenn auch nicht alle Fachdisziplinen gleich Schritt halten. Gerade die Kunstgeschichte scheint sich hier immer noch schwerzutun.

Beim Symposium „documenta. Geschichte/Kunst/Politik“ etwa, das im Oktober 2019 im DHM stattgefunden hat, wiesen Julia Friedrich und Bernhard Fulda, Co-Kurator von „Emil Nolde – Eine deutsche Legende/Der Künstler im Nationalsozialismus“, vehement auf offensichtliche Risse und fatale Kontinuitäten im Documenta-Mythos hin. Kurz danach stieß Julia Voss als Kuratorin des Kapitels „Die Documenta und der Nationalsozialismus“ zum Team. Wie Friedrich nun nochmals in ihrem Katalogtext nachlegt, waren mit Alfred Hentzen und Kurt Martin ebenfalls wichtige Kulturfunktionäre im „Dritten Reich“ wie in der jungen Bundesrepublik am D1-Arbeitsausschuss beteiligt; Mirl Redmann zeigt entsprechende Zusammenhänge bei den finanziellen und politischen Unterstützer*innen auf. Demgegenüber nun ein auf den Ausschluss ermordeter jüdischer und politischer Künstler*innen begründetes „Werner-Haftmann-Modell“ zu konstruieren, greift zur Erfassung der Problemlage zu kurz. Auf die konzeptionellen und argumentativen Schwächen von Voss’ suggestiver Indizienkette, die den Ausschluss des 1944 beim Transport nach Ausschwitz ermordeten jüdischen Künstlers Rudolf Levy von der D1 exemplarisch exponieren will, ist Andreas Kilb bereits in der FAZ vom 18.06.2021 ausführlich eingegangen: Die Documenta hätte demnach sehr viel plausibler „politische Gründe gebraucht, um Levys Bilder zu zeigen. Aber sie wollte unpolitisch, unhistorisch sein.“ [3]

Um aber die These einer entschuldenden Ausschlusspolitik zu erhärten, bräuchte es an dieser Stelle Einblicke in die kuratorische und programmatische Entscheidungsfindung.

Ein Vorzeigekünstler nicht nur bei der Documenta 1, sondern auch bei den beiden folgenden Ausgaben, war Marc Chagall, während der 1943 in Majdanek oder Sobibor ermordete Otto Freundlich, Jude, Kommunist und nicht zuletzt Avantgardist, außen vor blieb – auch er auf einer vorläufigen Künstler*innenliste. Sein Großer Kopf (1912, vermutlich zerstört) prangte auf dem Titel des Ausstellungsführers zu „Entartete Kunst“. Allerdings war dann seine Ascension (1929) 1964 auf der Documenta III zu sehen, der letzten, die federführend von Bode und Haftmann verantwortet wurde.

Es mag ein Trost sein, wenn nun zumindest einige Originalwerke Levys – man könnte seine in Bildaufbau und Pinselführung gekonnt abbreviierten Porträts, Stillleben und Stadtansichten zeittypisch modern nennen – im DHM als potenzielle Documenta-Bilder zu sehen sind. Schade jedoch, dass nur von ihm. Daran zeigt sich, wie schwer es ist, Geschichte im Nachhinein zu korrigieren, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu beschönigen oder zu verzerren – ganz egal, wie gut die Absicht sein mag. Umso wichtiger deshalb, sich an Dietrich Grünewalds Empfehlung zu erinnern, die er mit Blick auf die Geschichte des Simplicissimus zwischen 1933 und 1944 ausgesprochen hat, wenn er auf „Dokumentation – und daraus folgend die Analyse“ [4] besteht. Tatsächlich gibt es an der Geschichte der Documenta nichts zu beschönigen.

„documenta. Politik und Kunst“, Deutsches Historisches Museum, Berlin, 18. Juni 2021 bis 9. Januar 2022.

Anmerkungen

[1]Vgl. Helmut Draxler, „Die Abkehr von den Wenden. Eine zentrifugale Avantgarde (1986–1993)“, in: Matthias Michalka (Hg.), to expose, to show, to demonstrate, to inform, to offer. Künstlerische Praktiken um 1990, Köln 2015, S. 47–62.
[2]Wie die kurz vor Ausstellungseröffnung in der Süddeutschen Zeitung publizierten Forschungen des Zeithistorikers Carlo Gentile zeigen, war Haftmann aktiv an NS-Kriegsverbrechen beteiligt.
[3]Andreas Kilb, „Als die Kunst politisch wurde“, in: FAZ vom 18. Juni 2021, online unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/berliner-ausstellung-zur-geschichte-der-documenta-17394491.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2.
[4]Dietrich Grünewald, „Die Einfalt des ,Einfältigsten‘. Der ,Simplicissimus‘ von 1933 bis 1944“, in: Zwischen Widerstand und Anpassung. Kunst in Deutschland 1933–1945, Ausstellungskatalog, Akademie der Künste, Berlin 1978, S. 41–50, hier: S. 50.