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VORWORT

Diese März-Ausgabe von Texte zur Kunst widmet sich Formen des Dissenses, und zwar sowohl aus historischer als auch aus zeitgenössischer Per­spektive. Damit verbunden ist der Versuch, Kunstkritik als dissensuelle Praxis aufzufassen und zu praktizieren. Insofern zielt dieses Heft nicht nur auf eine Analyse jeweils konkreter Konfliktlagen diesseits wie jenseits des Kunstfeldes. Es nimmt zugleich auch die Form des Debattierens selbst in den Blick. Dies ist uns schon deshalb ein Anliegen, da kritische Reflexion durch die Verabsolutierung von Marktwerten im Neoliberalismus ins Hintertreffen geraten ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der Siegeszug der (Online-)Evaluation als Merkmal der „Bewertungsgesellschaft“ (Steffen Mau) dem für Kritik wesentlichen Anspruch der Differenzierung und Rechtfertigung entgegensteht. Anstelle nuancierter, abwägender Auseinandersetzungen ist nunmehr häufig ein persönlich diffamierender und inhaltlich vereinseitigender Tonfall vorherrschend.

Damit meinen wir indes nicht, dass Uneinigkeit und Streit als negative Affekte von kritischer Urteilskraft abgespalten werden sollten oder dass eine solche Affektvermeidung überhaupt möglich wäre. Gerade in der kritischen Reflexion von Diskriminierung und Gewalt sind psychosoziale Faktoren von zentraler Bedeutung, wie ­#MeToo und Black Lives Matter gezeigt haben. Die Dimension des Gemeinsamen im Sozialen – also der gesellschaftliche Grund sowohl von sozialen Differenzen als auch von Akten der Solidarität – ist vielmehr immer wieder aufs Neue herzustellen, und das heißt eben auch: zu erstreiten. Nicht zuletzt mit Blick auf den derzeit viel diskutierten Strukturwandel der Öffentlichkeit durch soziale Netzwerke interessieren uns ästhetische Formate, in denen Dissens ausgetragen wird. Sie scheinen uns modellhaft für Genres und Umgangsformen einer Kunstkritik zu sein, die auch hegemoniale Vorstellungen von Klasse, Race, Gender und Sexualität in ihren jeweiligen Rollenvorgaben adressieren.

In der Kunst wird aber traditionell auch über deren Status als Kunst gestritten. Von den Grenzerkundungen zwischen Kunst und Leben bei den Avantgarden und Neoavantgarden des 20. Jahrhunderts bis zur Destabilisierung zwischen Kunst und Wirklichkeit in den virtuellen Realitäten der Gegenwart haben sich künstlerische Praktiken, die sich auf Lebenswelten hin öffnen, aus dieser Differenz heraus stets neu bestimmt. Wie die Geschichte feministischer Bewegungen in der Kunst jedoch zeigt, mussten sich Künstlerinnen den Nutzen der Kunst für das Leben erst mühsam erringen. So sind die zeitweiligen bis endgültigen Rückzüge von Lee Lozano, Agnes Martin, Cady Noland, Adrian Piper und Charlotte Posenenske, um nur einige zu nennen, unter anderem der Tatsache geschuldet, dass sie zeitlebens Diskriminierungserfahrungen in der Kunstwelt gemacht haben. Voraussetzung für einen Rückzug aus der Kunst und damit für Kunst als dissensuelle Praxis ist gleichwohl, wie die Kunsthistorikerin ­Charlotte Matter in ihrem Beitrag zeigt, dass Künstler*innen bereits über genügend Macht verfügen, sodass ihre Abkehr von der Kunst keine Gefährdung ihres finanziellen Überlebens bedeutet. So gesehen bleibt auch der forcierte Gesprächsabbruch als Geste der Verweigerung patriarchalisch-rassistischer und von ökonomischer Ausbeutung geprägter Strukturen stets auf die jeweils herrschenden Mehrheitsverhältnisse verwiesen, die darüber verfügen, wer sich am öffentlichen Diskurs beteiligt und wer nicht. Nicht selten geht damit, wie die Autorin und Leiterin des Berlinale Forums Cristina Nord argumentiert, die Behauptung einer intellektuellen Minderwertigkeit all jener einher, die sich in dominante gesellschaftliche Debatten einmischen und dabei auch Betroffenheit und subjektives Erleben als politisierbare Affekte herausstellen und argumentativ einsetzen. Auch Natalie Wynn gelingt es in ihrem YouTube-Format ContraPoints, komplexe Analysen umstrittener Themen mit Emotionen zu verbinden, wie Isabelle Graw in ihrem Beitrag erläutert, der die Form eines fiktiven Tagebuchs aufweist. Graw zufolge stellen die ­Videoessays von Wynn mit ihren multiperspektivischen Rollenspielen eine Form der Dissensproduktion dar, von der auch Kunstkritiker*innen in vielerlei Hinsicht lernen können.

Die differenzierte Betrachtung kontroverser Themen scheint jedoch den spezifischen Ökologien von Sozialen Medien mit ihrer eigentümlichen Polarisierungs- und Spaltungsarchitektur zuwiderzulaufen. Unter besonderer Berücksichtigung von psychodynamischen Prozessen untersucht der Kommunikationswissenschaftler und Soziologe Jacob Johanssen die Herausforderungen und Chancen gegenwärtiger Social-­Media-Plattformen. Aus anderer Perspektive, nämlich vor dem Hintergrund einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Diskriminierung, der oft die antidiskriminatorischen Handlungen fehlen, skizziert die Kunstwissenschaftlerin Lucie Kolb am Beispiel der Künstler*innenkollektive Rosa Brux und The White Pube eine Form der Kunstkritik, die eine Arbeit an den Infrastrukturen des Veröffentlichens und der Zusammenarbeit miteinschließt.

Dass Schreiben, genauer Literatur, in gelungenen Momenten erfahrbar machen kann, wie unhaltbar die Dichotomien und Ordnungsprinzipien sind, mit denen wir auf Unbekanntes und Konflikthaftes reagieren, verdeutlicht die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Vivian Liska mit Blick auf Franz Kafkas Erzählung „Auf der Galerie“. Das Verdrängte der Hauptfigur, eines jungen Galeriebesuchers, wird hier in einer Weise auf die Leser*innen übertragen, so Liska, dass sich die Logik der Oppositionen für die Dauer der Erzählung auflöst. Das narrative Element der Aufführung von Dissens spielt auch für die Performances von Andrea Fraser eine zentrale Rolle, wenngleich in dezidiert psychoanalytischer Per­spektive. Im Gespräch mit Sabeth Buchmann und Isabelle Graw gibt die Künstlerin unter anderem Einblick in ihre neueste Arbeit This meeting is being recorded (2021), ein Video, das nicht nur Themen wie „White Supremacy“ und „Rassismus“, sondern auch gruppendynamische Konflikte durcharbeitet.

Dass Fragen der politischen Organisation in der Kunst hochaktuell sind, beweisen die zahlreichen Streikbewegungen der vergangenen Jahre an Museen und anderen Kunstinstitutionen. Als im November 2021 einige Tausend Studierende der New Yorker Columbia University wochenlang ihre Arbeit niedergelegten, um für bessere Bezahlung und mehr Sicherheiten zu demonstrieren, betraf dies auch den Fachbereich Kunstgeschichte und Archäologie, an dem der Kunsthistoriker und Kulturkritiker Pujan Karambeigi derzeit lehrt und seine Doktorarbeit schreibt. In kleinen Vignetten skizziert er jene zur zweiten Natur gewordene (Selbst-)Ausbeutung vieler Hochschulabsolvent*innen, die dennoch Widerstand gegen die in Academia allgegenwärtige Abhängigkeit und Konkurrenz leisten.

Im Dissens drückt sich eine Uneinigkeit und Vielstimmigkeit aus, die jeweils andere Möglichkeiten aufzeigt. Das vorliegende Heft möchte entsprechend Perspektiven entwickeln, die aus der scheinbaren Ausweglosigkeit einander kurzschließender Gegensätze herausführen, wie sie sich verstärkt in der Pandemie beobachten lassen. Gegen verabsolutierende Gesten plädieren wir für eine engagierte Form der Kunstkritik, die im Durchgang durch den Dissens Alternativen zu sozialer Ungerechtigkeit findet.

Isabelle Graw, Katharina Hausladen, Genevieve Lipinsky de Orlov, Vivian Liska und Cristina Nord