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Isabelle Graw

BADEN IM DISSENS – ANMERKUNGEN ZU NATALIE WYNNS „CONTRAPOINTS“

ContraPoints, „Canceling“, 2020, Videostill

ContraPoints, „Canceling“, 2020, Videostill

Natalie Wynn, die vor allem für ihr YouTube-Format ContraPoints bekannt ist, setzt sich in ihren Videoessays, die von Millionen Menschen gesehen werden, mit oftmals kontroversen Themen rund um Politik, Gender und Kultur auseinander. In hochgradig stilisierten Kulissen trägt die studierte Philosophin ihre sorgfältig recherchierten Beiträge vor, die mit Verweisen auf Popkultur, Literatur und kritische Theorie gespickt sind. Wie die Herausgeberin von Texte zur Kunst, Isabelle Graw, argumentiert, können Wynns Videos als eine exemplarische Form des Dissenses gelesen werden. Indem Wynn vielfältige und häufig einander widerstreitende Perspektiven einbezieht und sich selbst und ihre Erkenntnisse dabei stets verortet, widersteht sie der Gefahr von Polarisierung und Feindseligkeit. Davon können, so Graw, auch Kunstkritiker*innen lernen: Kritik ermöglicht und verlangt zugleich nach Unterscheidungen und Nuancen, die in der spaltenden Logik des Canceling keinen Platz haben.

01.12.2021

Seit einigen Tagen schon schiebe ich den Schreibbeginn dieses Textes vor mir her. Die Schwierigkeit besteht – wie so oft – darin, dass ich zu viel auf einmal sagen will. Nicht nur möchte ich mich Natalie Wynns YouTube-Format ContraPoints widmen und es als Form der Kritik würdigen, wobei es mir wichtig ist, dabei auch deren ästhetische und politische Dimension zu berücksichtigen. Mehr noch gedenke ich, Wynns Videoessays als eine exemplarische Form der Dissensproduktion zu verhandeln, was ebenfalls ausgeführt werden muss. Und nebenbei möchte ich die grundsätzlichen Vorzüge des Dissenses – etwa im Vergleich zum Antagonismus – herausarbeiten. Im Grunde soll dieser Text also darauf zielen, Wynns informative und unterhaltsame Videos über extrem kontroverse Themen als eine Praxis des Dissenses vorzustellen, von der auch Kunstkritiker*innen lernen können.

Ein paar Informationen vorab: Wynn ist eine rhetorisch brillante und glamouröse Trans*Frau, die auf ihrem YouTube-Kanal ContraPoints regelmäßig streitbare Themen verhandelt – von „Opulence“ zu „Canceling“, von „JK Rowling“ zu „Envy“. [1] Sie verfügt über zahlreiche Abonnent*innen (1,5 Millionen!), und ihre queerfeministischen Überlegungen zu aktuellen Fragen finden vor allem bei jüngeren Kunstbetriebsmitgliedern großen Anklang. [2] Bevorzugt widmet sich Wynn hot topics, also höchst umstrittenen und symbolisch aufgeladenen Inhalten. Schon mit dem bloßen Verweis auf Wynn – die in der Trans*-­Community auch aufgrund ihrer Veröffentlichung der eigenen transition eine durchaus umstrittene Figur ist –, läuft man somit Gefahr, selbst in die Schusslinie zu geraten. Doch einmal abgesehen davon, dass selbstreflexive Bedenken dieser Art zu den Standard-Tropen vor allem beim Thema Canceling gehören, scheint mir der Erkenntnisgewinn der „Methode Wynn“ so groß zu sein, dass ich dieses (scheinbare?) Risiko eingehe.

02.12.2021

Charakteristisch für Wynns Herangehensweise sind ihre multiperspektivischen Rollenspiele. Wynn nimmt Meinungsverschiedenheiten (die den jeweiligen Dissens schließlich ausmachen) regelrecht auf sich, indem sie jede der darin eingenommenen Positionen durchspielt. Dabei versetzt sie sich auch in die Lage ihrer Gegner*innen, deren Überzeugungen sie ebenfalls vorträgt. In ihrem „Canceling“-Video (Januar 2020) [3] , auf das ich mich im Folgenden hauptsächlich beziehen werde, liest sie beispielsweise auch diffamierende und hasserfüllte Tweets vor, die sich gegen sie selbst richten. Sie kommentiert diese Statements aber auch und entkräftet sie wortgewandt. Da sich Wynn nach eigener Aussage stets um eine „faire und ausgeglichene Darstellung“ bemüht, lässt sie in ihrer Multivoice-Performance auch jene zu Wort kommen, deren Meinung sie absolut nicht teilt.

Dem Phänomen Canceling versucht sie demnach durch eine, diese Praxis konterkarierende Herangehensweise gerecht zu werden, nimmt unterschiedliche Perspektiven ein, betrachtet ihren Gegenstand auf vielfältige Weise. Online-­Shaming ist, das betont Wynn immer wieder, ein wichtiges Instrument, das die Machtlosen gegen die Mächtigen in Stellung bringen können, um ihre Diskriminierungs- und Missbrauchserfahrungen öffentlich zu machen. So geschehen im Rahmen von #MeToo, als die Weinsteins dieser Welt zu Recht für ihre Taten angeklagt wurden. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, dass eine vermeintliche Cancel Culture omnipräsent wäre – eine zumeist von rechts kommende, phantasmatische Vorstellung, die Wynn zurückweist. Denn die Drohkulisse einer angeblich hegemonialen Cancel Culture zielt in erster Linie darauf, die legitimen Ansprüche auf Teilhabe marginalisierter Personen abzuwehren und zu delegitimieren.

Obwohl Wynn also das sozialkämpferische Potenzial des Canceling herausarbeitet, hat es ihr zufolge auch eine negative flipside, wenn sich das Shaming mitunter auch in Zirkeln wie der Trans*Community in ein „sadistisches Unterhaltungsspektakel“ verwandelt. Am Beispiel des vorübergehend gecancelten „Beauty Gurus“ James Charles demonstriert Wynn, dass das Canceling auch dazu dienen kann, einen business rival aus dem Feld zu schlagen. Wynn referiert die Meinung vieler „Progressiver“, dass Canceling gar nicht existiere, weil es in Wahrheit nur darum gehe, mächtige Leute endlich für ihr Verhalten zur Verantwortung zu ziehen. Dagegen stellt sie die Sichtweise zahlreicher Comedians, die sich über eine außer Kontrolle geratene Cancel Culture beschweren, in der man keine Witze mehr reißen könne. Noch während sie letztere Position referiert, erfolgt ein Wechsel des Videos von Farbe zu Schwarz-Weiß. Dieses Stilmittel setzt Wynn häufig ein, um deutlich zu machen, dass sie sich von der referierten Position abgrenzt. Manchmal sind es auch Beleuchtungswechsel oder einfach nur abrupte Filmschnitte, mit denen sie das Gesagte auf Distanz bringt, als Fremdmeinung markiert oder als Ironie ausweist.

Beide Sichtweisen – die, dass Canceling nicht existiere, und die, dass man aufgrund einer vermeintlichen Cancel Culture gar nichts mehr sagen könne – weist Wynn zuletzt als falsche Alternativen zurück. Sie selbst wolle in diesem Video der Wahrheit auf die Spur kommen – das Wort „Wahrheit“ (truth) wird von ihr allerdings auf eine Weise geflüstert, die dessen universalistischen Anspruch relativiert. Indem Wynn dann auch noch flüsternd gesteht, transgender zu sein, gelingt ihr zweierlei: Sie verdeutlicht, von wo aus sie spricht, und karikiert zugleich das Authentizitätsbegehren, das derartige Geständnisse nährt.

ContraPoints, „Gender Critical“, 2019, Videostill

ContraPoints, „Gender Critical“, 2019, Videostill

03.12.2021

Womöglich bin ich auch deshalb ein so großer Wynn-Fan, weil mich ihre Methode in den ContraPoints-Videoessays an die Konzeptionen der Ausgaben von Texte zur Kunst erinnert. Auch Wynn nähert sich ihren Gegenständen (zum Teil sind es TzK-Themen wie „Envy“) aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie recherchiert ausgiebig und konsultiert die einschlägige Literatur – zum Beispiel Sarah Schulmans Conflict is not Abuse (2016) für ihr „Canceling“-Video. Die von Wynn für ihre Beiträge benutzten Sprachspiele sind ebenfalls in TzK zu finden: Es handelt sich dabei um eine Mischung aus dem Sound of Academia – wenn Wynn etwa Rechercheergebnisse vorträgt oder die Tropen des Canceling systematisch erforscht – und dem Method Acting einer Andrea Fraser. So imitiert Wynn beispielsweise in einem ihrer Videoessays die Rhetorik von Incels [4] , wenn sie den Gründen für deren Frauenhass nachgeht.

Die spezifische Inszenierung ihrer Auftritte ist ein wesentlicher Aspekt ihrer multiperspektivischen Vorgehensweise. Zu Beginn von „Canceling“ zeigt sie sich boudoirhaft in einer leeren Badewanne liegend, umgeben von einem Berg aus Müllsäcken, Flaschen und Dosen. Es wirkt so, als wäre sie selbst qua Canceling auf dem Müll gelandet. In einer anderen Szene inszeniert sie sich hingegen als eine strengere Person: Mit hochgestecktem Haar sitzt sie vor einem japonistisch anmutenden Paravent und trinkt elegant Tee aus einer Porzellantasse. Sie präsentiert sich hier als kultivierte Akademikerin, die uns während der Teatime ihre Rechercheergebnisse darlegt.

Dass Wynn jedoch weder sich selbst noch ihren Gegenstand vollständig unter Kontrolle hat, wird durch ihren beherzten Alkoholkonsum demonstriert. Jede Szene beginnt mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche oder der Tasse. Kaffee und Tee werden von ihr mit Whisky angereichert, was sie mit dem Schlachtruf „Let’s Irish up this coffee/tea“ fröhlich annonciert. Die zahlreichen Sorten alkoholischer Getränke fungieren in ihren Videos als eine Art visuelles Leitmotiv. Es verweist nicht nur auf einen gepflegten Alkoholismus nach dem Motto: Ich kann das hier nur durchstehen, wenn ich trinke. Die vielen Bier-, Whiskey- und Champagnerflaschen signalisieren darüber hinaus einen zweifachen Kontrollverlust: den allgemeinen Kontrollverlust in der Pandemie und jenen im Sinne des Subjektverständnisses der Psychoanalyse, demzufolge das Subjekt nicht Herr (oder Frau) im eigenen Haus ist. Die trinkende Wynn inszeniert sich entsprechend als jemand, der sich nicht ganz unter Kontrolle hat, wobei es ihr selbst in der Inszenierung dieses Zustands gelingt, komplexe Sachverhalte souverän zu verhandeln. Man könnte sagen, dass Wynn in ihren Videoessays jene situational clarity an den Tag legt, die – der jüngst verstorbenen Lauren Berlant zufolge – keineswegs im Widerspruch steht zu der Inkohärenz des Subjekts. [5] Wynn demonstriert, dass auch ein inkohärentes Subjekt zu situierten Erkenntnissen gelangen kann.

Beinahe schon spielerisch scheint sie so der seit vielen Jahren gängigen Forderung nach einem situierten Wissen und einem implizierten Subjekt zu entsprechen. Denn Wynn betrachtet die von ihr verhandelten Sujets nicht von außen, sie macht stets deutlich, wo sie sich selbst verortet, und nimmt sich aus den beschriebenen Prozessen nicht aus. Ihre Erkenntnisse sind sichtbar von ihrer eigenen sozialen Lage geprägt, was den Zuschauer*innen den Zugang erleichtert. So wird in Wynns „Canceling“-Video beispielsweise schnell deutlich, dass sie dieses Thema aus der Warte einer zeitweise Gecancelten in Angriff nimmt. In ihrem Beitrag „Opulence“ [6] hatte sie den transsexuellen Pornodarsteller und Aktivisten Buck Angel einen Satz von John Waters sprechen lassen, weshalb ein Shitstorm über sie hereinbrach. Buck Angel wird in Teilen der Trans*Community als Truscum angesehen – also als jemand, der body dysphoria zur Voraussetzung von Transgender erklärt und nichtbinäre Personen damit ausgrenzt. In „Canceling“ erklärt Wynn, dass sie mit Angels „divisive rhetorics“ zwar nicht einverstanden sei, ihn jedoch zugleich für sein langjähriges aktivistisches Engagement respektiere. Sie weigert sich, wie von ihren Kritiker*innen verlangt, sich für die Zusammenarbeit mit Buck Angel zu entschuldigen. Dafür erklärt sie jedoch, andere Twitter-Aussagen für deren mangelnde Sensibilität zu bereuen, und entschuldigt sich für diese.

ContraPoints, „Canceling“, 2020, Videostill

ContraPoints, „Canceling“, 2020, Videostill

Einerseits bringt sie hier also ihre persönliche Erfahrung ein, indem sie erklärt, wie schmerzhaft es für sie war, im Zuge des Buck-Angel-Skandals zeitweilig aus ihrer eigenen Community ausgeschlossen worden zu sein: „Es raubte mir jegliche Energie, um neue Dinge zu schaffen.“ Zugleich trägt Wynn dieses Erfahrungsnarrativ aber auch mit einem ironischen Unterton vor, wenn sie sich überzogen als „super canceled“ oder als „very very lonely“ beschreibt. Indem sie maßlos übertreibt, scheint sie sich von der derzeit verbreiteten Vorstellung zu distanzieren, dass nur die über Diskriminierungserfahrungen Verfügenden über Diskriminierung sprechen dürfen. Zwar verdeutlicht Wynn, dass es für die Ausei­nandersetzung mit Canceling einen Unterschied mache, ob man selbst gecancelt wurde oder nicht. Dennoch wirken ihre Geständnisse gleichermaßen authentisch und durch und durch inszeniert, so als wolle sie auch Abstand zu ihren Erfahrungsberichten markieren. Dies liegt nicht nur daran, dass ihre Geständnisse im Rahmen eines mit zahlreichen filmischen Stilmitteln arbeitenden Videoessays abgelegt werden. Noch in ihren ,authentischen‘ Momenten scheint Wynn Distanz zu sich selbst zu wahren, wovon ihre Selbstironie zeugt. Zwar verfolgt sie mit ihren Videoessays zweifellos ein ernsthaftes Erkenntnisinteresse, allerdings scheint sie sich dabei nicht allzu ernst zu nehmen. Diese Mischung aus ernsthaftem Forschungsinteresse und der Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, macht die Attraktivität ihres Projekts für mich aus.

04.12.2021

Die Stärken des Dissenses – etwa im Vergleich zum Antagonismus – werden anhand der „Methode Wynn“ ebenfalls deutlich. Denn während der Antagonismus einen polaren Gegensatz impliziert, ist der Dissens durch Pluralität gekennzeichnet – letzterer speist sich aus vielfältigen Meinungen und Überzeugungen, die Wynn zur Aufführung bringt. Damit will ich jedoch nicht sagen, dass der Dissens in jedem Fall gutzuheißen, wünschens- und erstrebenswert wäre. Es kommt vielmehr darauf an, wer welche Überzeugung von welcher Position aus vertritt und, entscheidender noch, wie er*sie diese Meinung begründet. Wynn gelingt es zum Beispiel, ihre Vorbehalte gegen Canceling mittels einer systematischen Strukturanalyse des Canceling-Prozesses zu untermauern. In einer ersten Etappe wird Wynn zufolge von den fragwürdigen Äußerungen und/oder Verhaltensweisen einer Person abstrahiert. In der Folge stehen nicht die problematischen Ideen einer Person, sondern die Person selbst im Fokus der Kritik. Im Zuge eines Vorgangs der Essenzialisierung würde die gecancelte Person so zu einer bad person erklärt. Die Kritik schlage, mit anderen Worten, in einen persönlichen Vernichtungsfeldzug um. Versuche der Gecancelten, sich zu entschuldigen, würden deren Lage wiederum nur noch verschlimmern, weil sie in der Regel als insincere abgetan würden. Beim Canceln gibt es Wynn zufolge keine Vergebung, die Sache hat sich also nie erledigt. Schlimmer noch: Die gecancelte Person würde als „ansteckend“ betrachtet. Wer mit ihr weiterhin befreundet bliebe oder auch nur ihre Posts likte, laufe Gefahr, nun ebenfalls gecancelt zu werden. Speziell marginalisierte Personen, die auf den Support ihrer Communities besonders angewiesen seien, würden den Ausschluss aus ihrer Gemeinschaft als existenziell bedrohlich erleben. Wynns Fazit lautet an diesem Punkt – und spätestens hier wird es auch für Kunstkritiker*innen interessant –, dass die Kritik dem Canceling grundsätzlich immer vorzuziehen sei. Kritik bedeutet nämlich, so könnte man an dieser Stelle ergänzend hinzufügen, schon ihrem Begriff nach Differenzierung. Sie ermöglicht Unterscheidungen und Nuancen, die in der spaltenden Logik des Canceling keinen Platz haben.

05.12.2021

Auch mit Blick auf den Dissens besteht das Problem des Canceling darin, dass es der polarisierenden Logik des Antagonismus zuarbeitet. Es kennt immer nur zwei Seiten: die richtige und die falsche. Im Rahmen einer inhaltlichen Kritik ist es hingegen möglich, zwischen unterschiedlichen Positionen zu differenzieren, ihnen in Teilen zuzustimmen und sie in anderer Hinsicht abzulehnen, also den jeweiligen Dissens zu artikulieren. Kritik, so wie Wynn sie praktiziert, führt durch den Dissens hindurch, wobei sie letztlich zu einer eigenständigen Position gelangt. Und da in dieser Position der Dissens mitschwingt, kann Wynn auch nicht für sich in Anspruch nehmen, „das letzte Wort“ zu haben. Sie gibt ihre Überzeugungen entsprechend als anfecht- und streitbar aus und behauptet nie, den Durchblick zu haben oder gar über den Dingen zu stehen. Im Gegenteil: Mit „Let’s get started“ zu Beginn zahlreicher Sequenzen setzt sie in ihren Videoessays immer wieder neu an, so als müsse stets bei null begonnen werden, wenn man sich kontroversen Themen nähert. „Let’s get started“ scheint mir dahingehend auch eine Art Vademecum gegen ein zu voraussetzungsvolles Sprechen zu sein. Denn Wynn setzt tatsächlich nichts voraus, den Boomern unter ihren Zuschauer*innen erklärt sie selbst jene Internetskandale, die jüngeren Menschen selbstverständlich vertraut sind. Indem Wynn zudem auch den Argumenten der Gegenseite Rechnung trägt, vermeidet sie allzu einseitige Stellungnahmen. Nicht zuletzt weil sie sich in das Denken anderer hineinzuversetzen versucht, kann sie ihnen argumentativ überzeugend entgegentreten.

Für Wynn bedeutet Kritik, dass es möglich ist, sich ernsthaft mit einer Sache zu befassen, ohne sich dabei selbst allzu ernst zu nehmen. In ihren Sozialanalysen ist immer auch Platz für Affekte, die nicht abgespalten, sondern (wie in der Psychoanalyse) als Triebfeder des Denkens ausgewiesen werden. Dabei verdeutlicht sie auch, dass ihr eigenes emotionales Erleben etwas sozial Bedingtes ist. Und schließlich zeigt Wynn, dass der Ton die Musik macht – der Sound des Gesagten oder Geschriebenen muss stimmen. Wynn setzt deshalb auf Musik zur Untermalung ihrer Statements, wobei das Spektrum von der Ziehharmonika bis zu Barockklängen reicht.

ContraPoints, „Daddy Freud's Oral Fixation“, 2021, Videostill

ContraPoints, „Daddy Freud's Oral Fixation“, 2021, Videostill

Für kunstkritische Texte, die dem Dissens Rechnung tragen, kann auf eine solche Medienvielfalt naturgemäß nicht zurückgegriffen werden. Deren Autor*innen müssen sich auf rhetorische Mittel und Gesten beschränken, dank derer es ihnen gelingen kann, eine Vielfalt an Sichtweisen zu berücksichtigen. Die Ablehnung eines Standpunktes erfolgt dabei nicht wie beim Canceling durch die Vernichtung der ihn vertretenden Person. Vielmehr wird deren Argument widerlegt und die Gegenthese auf möglichst sachliche Weise erläutert, dies allerdings, ohne Affekte auszusparen. Dabei sind alle Aussagen, selbst die begründete Zurückweisung einer inhaltlichen Position, situativ bedingt, vorläufig und grundsätzlich streitbar. Im Idealfall gelingt es der an Wynn geschulten Kritik, ihr feines Gespür für Machtverhältnisse auch auf sich selbst zu lenken. [7] So vergisst Wynn nicht zu erwähnen, dass ihr das Gecancelt-Werden nicht so viel anhaben konnte, da sie bereits über zahlreiche Anhänger*innen verfügte und als YouTuberin Erfolg hatte. Andere träfe es schlimmer.

Immer wieder demonstriert Wynn, dass man sich im Rahmen einer ernsthaften und konzen­trierten Sozialanalyse auch selbst zur Disposition stellen kann. Sie scheut nicht davor zurück, sich durch bestimmte Aussagen angreifbar zu machen oder aufgrund ihrer Selbstironie nicht ernst genommen zu werden. Beim Durcharbeiten ihrer Themen geht sie grundsätzlich eher behutsam und tastend vor – Machtworte spricht sie nie (und wenn, dann nur spaßeshalber). Auch dieses Schritt-für-Schritt-Verfahren gekoppelt mit einem Verzicht auf autoritäre Gesten macht ihr Projekt so anschließbar für mich. Wynn leistet eine ungemein hilfreiche Aufklärungsarbeit, ohne dabei in das Besserwissertum der typischen Aufklärer*innen zu verfallen.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von Texte zur Kunst und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020) und Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021).

Image credit: Courtesy of Natalie Wynn

Anmerkungen

[1]Vgl. Eine erste Auseinandersetzung mit Wynns Videoessay Opulence hat Hanna Magauer in dieser Zeitschrift vorgelegt, vgl. hierzu: Hanna Magauer, „Apropos Deutsche Neidkultur“, in: Texte zur Kunst, 123, 2021, S. 103–121.
[2]Dank an David Lieske und Margaux Graw dafür, dass sie mich auf Wynns Arbeit hingewiesen haben.
[3]https://www.youtube.com/watch?v=OjMPJVmXxV8.
[4]Incel ist die Selbstbezeichnung von heterosexuellen Männern, die Teil einer in den USA entstandenen Internet-Subkultur sind. Nach eigener Aussage sind sie unfreiwillig Single und haben keinen Geschlechtsverkehr, was sie durch ihre Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit zu kompensieren versuchen.
[5]Vgl. „No one is sovereign in Love: A Conversation between Laurent Berlant and Michael Hardt, Heather Davis and Page Sarlin“, in: Adam Pendleton: Who is the Queen? A reader, herausgegeben von Adam Pendleton mit Alec Mapes-Frances, The Museum of Modern Art, 2021/2022, S. 147–152, hier: S. 151.
[6]https://www.youtube.com/watch?v=jD-PbF3ywGo.
[7]Vgl. zum Thema einer ihre eigene Macht reflektierenden Kritik: Sabeth Buchmann/Isabelle Graw, „Kritik der Kunstkritik“, in: Texte zur Kunst, 113, 2019, S. 33–51.