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DIE PERFORMATIVE NATUR DER ERZÄHLUNG Ein Gespräch zwischen Manuel Borja-Villel und Ana Magalhães über Sammlungen von Kunstmuseen und Kunstgeschichte

„COMMUNICATING VESSELS. Collection 1881–2021, Episode 1. Avant-Garde Territories. City, Architecture and Magazines“, Museo Reina Sofía, Madrid

„COMMUNICATING VESSELS. Collection 1881–2021, Episode 1. Avant-Garde Territories. City, Architecture and Magazines“, Museo Reina Sofía, Madrid

Das europäische Museum als Ruine: Dieses Bild erleichtert ein Nachdenken über den dringend notwendigen Strukturwandel von Sammlungs- und Ausstellungshäusern. Um sie von dem so eng mit ihnen verbundenen Konzept des Nationalstaates zu lösen und sie stattdessen zu emanzipatorischen Bildungsräumen zu machen, bedarf es jedoch neuer Ansätze. Die zwei Museumsdirektor*innen Manuel Borja-Villel und Ana Magalhães denken im gemeinsamen Gespräch darüber nach, inwieweit die kunsthistorische Praxis für diesen Wandlungsprozess hilfreich sein kann – wie sie aber auch selbst geändert werden muss, indem sie beispielsweise ihr lineares Verständnis von Zeitlichkeit aufgibt. In der kollektiven Überarbeitung der Dauerausstellung des von ihm geleiteten Museo Reina Sofía, so schildert Borja-Villel, setzen die Kurator*innen auf die widerständige Rätselhaftigkeit von Kunstobjekten vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse.

ANA MAGALHÃES: Das Museo Reina Sofía hat soeben eine überarbeitete Präsentation seiner ständigen Sammlung eingeweiht. Zu diesem Anlass möchte ich mit dir über die Beziehung zwischen Kunstgeschichte und der Sammlungstätigkeit sowie über die kuratorischen Praktiken des Museums sprechen. [1] Die kunsthistorische Disziplin scheint sich klar von der Museumswelt abgekoppelt zu haben, doch gab es eine Zeit, in der die beiden Hand in Hand arbeiteten.

MANUEL BORJA-VILLEL: Als Kunsthistoriker ist der Umgang mit dem Objekt für mich entscheidend. Wenn ich „Objekt“ sage, meine ich das natürlich nicht in einem modernistischen Sinn, sondern eher im Sinne eines Hyperobjekts des Spekulativen Realismus. Jedes Kunstobjekt hat ein Moment von Widerstandskraft und Rätselhaftigkeit, das mir wichtig ist und sich daher in der neuen Strukturierung der Sammlung widerspiegelt; es gibt eine rätselhafte Dimension, die der Einbeziehung des Publikums bedarf. Natürlich existiert auch eine diskursive Seite. Zum Beispiel sind drei Bereiche der Galerien sehr unterschiedlichen Autoren gewidmet: Carl Einstein, Georges Bataille und André Breton. Wenn das Publikum diese Räume besucht, begegnen ihm in den Autorendokumenten drei eigenständige diskursive Strukturen, doch sind viele der Künstler*innen, mit denen sich diese drei Autoren beschäftigt haben, dieselben. Alle drei Kritiker waren an den Praktiken von u. a. Salvador Dalí, Joan Miró und Pablo Picasso interessiert – ihre Aufmerksamkeit galt selten Künstlerinnen, doch auf dieses Problem komme ich später noch einmal zu sprechen. Sie betrachteten die Praktiken dieser Künstler aus unterschiedlichen Perspektiven. Faszinierend ist, dass die „Exempel“ nicht austauschbar waren durch die jeweiligen Argumente und die jeweils spezifische Betrachtungsweise der Autoren, die sie bis zum Letzten verteidigten. Das Schöne im Umgang mit einem Kunstwerk ist für mich aber, dass es ein eigenständiges Leben besitzt. Das ist ausschlaggebend, weil es die Handlungsfähigkeit (agency) – oder im Deleuzianischen Sinne agencement – des Publikums begünstigt, wenn es das Museum besucht. Der Kontext der kritischen Betrachtungen und Dokumente mögen abweichen; die Diskurse, in die sie eingebettet sind, unterscheiden sich, doch beziehen sie Kunstwerke ein, die letztlich intrinsisch miteinander zusammenhängen. Wenn ich kuratiere, muss ich also irgendwie entscheiden, was mit den Besucher*innen geteilt werden soll. Diese Beziehung, diese Spannung zwischen den Diskursen und den Objekten, ist sehr wichtig für mich. Ich verfechte Kunstgeschichte in den Museen, indem ich den performativen Aspekt der Objekte rehabilitiere. Manchmal macht es den Eindruck, als basierte Kunstgeschichte lediglich auf Fakten, doch ist das, wie du weißt, falsch.

MAGALHÃES: Ja, natürlich. Im Kontext gegenwärtiger kunstkuratorischer Praxis gab es in letzter Zeit – vor dem Hintergrund ihres kolonialistischen, imperialistischen Erbes – eine komplette Ablehnung der Disziplin. Innerhalb desselben Kontexts wird das Konzept von Geschichte selbst als rein chronologisch gezeichnet. Kunstgeschichte heute aber als bloße Chronologie von Fakten über Kunst zu denken, das geht nicht.

BORJA-VILLEL: Da stimme ich dir zu. Ich denke Geschichte nicht linear, sondern espiralar (spiralförmig): Dinge kehren zurück, und wir können Geschichte durch die Art und Weise, wie wir sie schreiben, zurückspulen. Diese Auffassung unterscheidet sich deutlich von der teleologischen „Euchronizität“, die die westliche Kunstgeschichte prägt. Du erwähntest einen Schlüsselbegriff: Disziplin. Wir wissen, dass keine Disziplin neutral ist, dass jede ihre Regeln besitzt und die gestellten Fragen bereits über die Antworten entscheiden. Es ist offensichtlich, dass jede Disziplin hinterfragt werden muss, doch kann dies nur von außen kommen.

MAGALHÃES: Sowohl Kunstgeschichte als Disziplin als auch das Kuratieren einer Ausstellung sind Möglichkeiten, von Kunst zu erzählen. Im 19. Jahrhundert war das Konzept der Nationalgeschichte vollständig in die Präsentation einer Museumskollektion eingebettet. Mit der Transformation und Spezialisierung des Kunstmuseums (die Entstehung des modernen Kunstmuseums sowie des zeitgenössischen Kunstmuseums) etablierte sich ein sehr formalistischer Ansatz, der das Kunstmuseum von dieser Verpflichtung, Geschichte für das allgemeine Publikum auszustellen, entkoppelt hat.

Musée du Louvre, Galérie d'Apollon, 1900

Musée du Louvre, Galérie d'Apollon, 1900

BORJA-VILLEL: Sicherlich beanspruchen die meisten Kunstmuseen nicht mehr länger für sich, die Geschichte einer Nation zu erzählen – doch selbst wenn sie vorgeben, universal zu sein, erklären sie die Welt aus ihrer nationalen Perspektive. Der Begriff der Nation jedoch befindet sich in einer Krise, und die historischen Beschränkungen und Ausklammerungen des Museums sind offenkundig. In einer postfaktischen Ära wie der unseren spielen Museen meines Erachtens eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, bezüglich dessen, wie Geschichten erzählt werden – wie die Welt wahrgenommen und diskutiert wird. Wir wissen, dass es einen Kampf um die Erzählung gibt, einen Kampf darum, wer spricht; darüber, was erzählt wird und wie. In einer Zeit, in der, was heute wahr, morgen falsch ist, wo alles unendlich austauschbar scheint, betone ich die Wichtigkeit, die eine Geschichte langer Zeitperioden für das Museum hat. In der Kunstwelt, wie in der Gesellschaft generell, akkumuliert eine relativ kleine Gruppe von Menschen enorme Macht und Ressourcen, und so könnte man meinen, dass sie keine öffentlichen Museen benötigen, um ihre Arbeit zu verwirklichen. Diese privaten Akteur*innen können problemlos große Projekte organisieren, während es viele öffentliche Kunstzentren kaum schaffen, geöffnet zu bleiben – obwohl sie häufig selbst dazu gezwungen sind, sich wie private In­stanzen zu verhalten und ökonomische Interessen über ihre Bildungs- und emanzipatorischen Ziele zu stellen. Museen müssen sich heute mehr denn je dessen bewusst sein, dass das System zeitgenössischer Kunst mit seinen Franchise-Projekten, Biennalen, Messen, Konferenzen und sonstigen Projekten eine fiktive Einheit bildet, in einer Welt, in der Ungleichheiten und Konflikte sich umso mehr verstärken. Die Museen müssen daher die Genealogien von Werken, Autor*innen und Ereignissen zurückverfolgen und zu einer Zukunft formen, die sich nicht auf Mythen gründet, sondern eingebettet ist in Geschichte. In meinen Augen sind Museen nach wie vor von entscheidender Bedeutung, da die Handlungen und Erzählungen, die sie vermitteln, in einer langen und komplexen Zeitlichkeit stattfinden, die der Neoliberalismus vermissen lässt. Ich beziehe mich hier auf eine Geschichte, die die Vergangenheit und Zukunft aus einer Jetztzeit (Walter Benjamin) heraus artikuliert. Sie muss einfordern und Wert legen auf die verschütteten und unterlegenen Stimmen, deren Mühsal und Hoffnungen uns herausfordern und bewegen. In diesem Sinne ist Anachronismus essenziell. Koloniale Geschichte lässt sich zum Beispiel nicht begreifen, ohne zu verstehen, dass sie sich wandelt. Sowohl über Verbindungen, Kontinuitäten und Unterbrechungen als auch über die Rolle der Kunstpraxis diesbezüglich nachzudenken, ist fundamental. Es impliziert die Veränderung eines linearen Zeitkonzepts, aber auch eine Veränderung unserer Formen der Wissensproduktion, die immer kollektiv sind. Geschichte kann nur kollektiv geschrieben werden. Dieses kollektive Wissen ist agonistisch und entsteht nur aus Negation. Museen können daher nicht auf der Repräsentation einer Realität basieren, die sich außerhalb befindet und ideal ist. Sie können nicht länger „die Nation“ repräsentieren. Meiner Ansicht nach können sie auch nicht mehr global oder lediglich lokal sein. Stattdessen sprechen wir im Museo Reina Sofía über ein museo situado, ein situiertes Museum, ein Museum, das sich an einem Ort befindet, aber nicht lokal ist, da die Wirklichkeit eines Ortes immer in Relation zu einem anderen steht. Situado gilt für den Ort, von dem aus man Kunstgeschichte schreibt, sofern dies eine gewisse Anzahl von Institutionen, übernommene Konzepte und eine Sprache impliziert. Situado bedeutet jedoch auch, sich selbst infrage zu stellen. Im Reina Sofía wird darüber hinaus eine Spannung zwischen unterschiedlichen Zeiten ersichtlich. Was wollten Künstler*innen in einem bestimmten Augenblick, und wie stellen wir dies unserer eigenen Position gegenüber? Das betrifft etwa den Umgang mit der wichtigen Generation spanischer Künstler*innen in unserer Sammlung, die in den 1950er und 1960er Jahren aktiv waren. Sie waren alle gegen Franco, und man drohte ihnen oft mit Gefängnisstrafen, mit dem Exil oder beidem – so Antoni Tàpies, Antonio Saura, Eduardo Chillida, Manolo Millares und anderen. Obwohl sie sich Franco entgegenstellten, wünschten sie sich zugleich internationale Erfolge, was verständlich ist. Also nutzte Franco sie, um für ein Spanien zu werben, das, allem zum Trotz, angeblich einen Ort der Freiheit darstellte. Diese Künstler waren um eine universelle Sprache auf Grundlage von Ausdruck und abstrakten Formen bemüht, und sie waren alle begeistert, als das MoMA ihre Werke in New York ausstellte. Später, zum Zeitpunkt der sogenannten demokratischen Transition in den späten 1970er Jahren, nach Francos Tod, gewann diese Generation ausschließlich männlicher Künstler großen Einfluss, und unser gegenwärtiges Kunstsystem, das Museo Reina Sofía eingeschlossen, verdankt ihnen sehr viel. Zu Beginn meiner Tätigkeit in diesem Museum war die Sammlung noch in einer Aufeinanderfolge von Galerien organisiert, und jede von ihnen war diesen Künstlern gewidmet. In den 1980er Jahren halfen sie, ein Verständnis für unsere Kunstgeschichte und unser Welt- und Selbstverständnis, das anti-Franco war, zu entwickeln – ebendieses „anti“ aber setzte Franco voraus. Da ihr Selbstbild also in der Vergangenheit wurzelte, war es ihnen nicht möglich zu sehen, was um sie herum geschah, zum Beispiel die feministischen Bewegungen oder die AIDS-Pandemie. Sie realisierten nicht, dass sich die Welt komplett verändert hatte. All diese Problematiken und oft unterdrückten Geschichten spiegeln sich nun in der neuen Sammlungspräsentation wider.

Paul Klee, „Angelus Novus“, 1920

Paul Klee, „Angelus Novus“, 1920

MAGALHÃES: Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Kunstgeschichte und Kunstmuseum ist es wichtig, darüber nachzudenken, wie Sammlungen konzipiert werden. In einer bestimmten Zeitperiode gab es die Überzeugung, dass es, um dem Publikum die Kunstgeschichte nahezubringen, ausreichte, sich auf den Kunstmarkt zu begeben und je ein beispielhaftes Werk der berühmtesten Künstler*innen zu kaufen. Kein Gemälde Pablo Picassos aber funktioniert identisch, es macht einen Unterschied, ob es im Museo Reina Sofia oder im MoMA hängt oder in São Paulo oder London.

BORJA-VILLEL: Diese Obsession, Beispiele zum Unterrichten zu haben, ist nie produktiv, weil Kunstwerke keine Token sind und sie als solche zu betrachten eine äußerst begrenzte Vorstellung von der Praxis eines*einer Künstler*in erzeugt. Wenn man sich dessen bewusst ist, kann man auf diesem limitierten Blickwinkel aufbauen, wenn man aber glaubt, dass es sich um eine allgemeingültige Perspektive handelt, ist das vollkommen falsch. Kunstwerke sind performativ, und die Arbeit eines*einer Künstler*in erzählt unterschiedliche Geschichten an unterschiedlichen Orten. Man benötigt ein Archiv, um zu kontextualisieren, um zu verstehen – doch reicht das nicht aus. Wir müssen auch unsere ethischen und epis­temologischen Codes ändern. Solidarität ist ein Wort, das in der frühen Phase der Covid-19-Pandemie durch zahlreiche Online-Meetings tönte, und daran sollten wir festhalten. Museen besitzen Strukturen aus dem 18. Jahrhundert und liegen, gewissermaßen, in Trümmern. Das ist die Wahrheit. Aus Trümmern lassen sich andere Dinge errichten. Aber nicht wie ein Phoenix – eine Vorstellung, die mich an die zahlreichen Mutationen erinnert, die Kapitalismus und Kolonialismus in den vergangenen Jahrhunderten entwickelten. Man braucht eine radikale Interpellation, um Dinge zu verändern. Man muss den Rahmen sprengen. Am Anfang muss ein Verständnis für die Existenz und das Recht radikaler Alterität und radikaler Undurchsichtigkeit stehen, für die Unmöglichkeit, den*die Andere*n zu kennen. Die Produktion kritischen Wissens ohne Interpellation gibt es nicht, und diese kommt immer von außen. Es ist wichtig, diese kollektive Intelligenz als das Ergebnis von Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Wissenstypen und Lebensformen zu verstehen. Diese Verhandlungen haben nicht nur Auswirkungen darauf, wie wir Geschichte schreiben, sondern auch, wie wir Archive organisieren und neue Dispositive der Vermittlung imaginieren. Westliche Kunstgeschichte beruht in hohem Maße auf dem Buch und dem Objekt, was aber machen wir mit Kulturen, die diese Objekte nicht herstellen konnten und deren Geschichte eine orale ist? Was tun mit jenen, die in einem Land leben, das nicht das eigene ist und dessen Formen und Vokabular ihnen aufgezwungen wurde?

MAGALHÃES: Natürlich – vor allem, weil die internationalen Standards der Neuerwerbung, des Dokumentierens und Ausstellens ebenfalls eurozentrisch sind. Sich an Aspekten wie Inventaren und Glossaren zu beteiligen, würde von meinen Studierenden an der Universität als bloßes technisches Ärgernis aufgefasst werden. Für sie heißt Kurator*in sein, Ausstellungen zu machen, und nicht, sich um das zu kümmern, was einer Ausstellung vorausgeht oder folgt.

„COMMUNICATING VESSELS. Collection 1881–2021, Episode 4. Double Exhibition: Art and Cold War“, Museo Reina Sofía, Madrid

„COMMUNICATING VESSELS. Collection 1881–2021, Episode 4. Double Exhibition: Art and Cold War“, Museo Reina Sofía, Madrid

BORJA-VILLEL: Zwischen Konzeptuellem und Technischem besteht keine Trennung; alles in einem Museum oder einer Universität ist beides zugleich. Wie wir wissen, ist jede technische Entscheidung immer politisch. Ich bin Direktor einer öffentlichen Institution. Und bedauerlicherweise gibt es Dinge, von denen ich weiß, dass ich sie nicht ändern kann; trotzdem sollte man um sie wissen und nach Möglichkeiten suchen, Ungerechtigkeiten, Prekarität, Fragilisierung etc. zu bekämpfen oder zu verurteilen. Kultur, Forschung und Wissen sind in vielerlei Hinsicht prekär. Sie sind prekär in Bezug auf Gehälter, in der Art und Weise, wie Forschende, Künstler*innen und Kurator*innen bezahlt werden. Wir befinden uns zudem in einem System, das uns dazu drängt, Events zu veranstalten, eines nach dem anderen, und das mit sehr knappem Personal. Was es für die Forschung sehr schwierig macht. Administrative Verfahren sowohl öffentlicher als auch privater Institutionen sind normalerweise ziel­orientiert; Kreativität aber basiert auf Erfindungen, Zufällen, Entdeckungen. Wenn man über die Resultate der Kunst- bzw. kulturellen Produktion von Anfang an Bescheid weiß, hat man ein Problem. In diesem Rahmen ist es, denke ich, wichtig, über die Bedingungen unseres kunsthistorischen Schreibens zu reflektieren und jeder Form falscher Unmittelbarkeit zu widerstehen. Für mich ist der – außerhalb des Landes leider kaum bekannte – spanische Kulturkritiker und Schriftsteller Rafael Sánchez Ferlosio nach wie vor eine exemplarische Figur. Nicht nur verfügte er über eine kritische Hellsichtigkeit, sondern er schrieb auch in einem Stil voller Nebensätze, die nicht abzureißen scheinen und teils einen ganzen Absatz füllen. Diese Momente des Widerstands zugunsten von Wissen und Langsamkeit sollten beim Verfassen kunsthistorischer Texte berücksichtigt werden.

MAGALHÃES: Neulich habe ich mit Bachelorstudierenden damit experimentiert, in kürzester Zeit knappe Texte für den Museumskontext zu verfassen, wie Instagram-Bildtexte zu bestimmten Werken in der Sammlung. Die Auswahl war ganz ihnen überlassen. Das war eine sehr interessante Erfahrung, weil sie neue Herangehensweisen an das Schreiben mitbringen.

BORJA-VILLEL: Ja, sich bestimmten hegemonialen Formaten und einer Aktualität zu widersetzen, bedeutet nicht, sich der Vergangenheit zuzuwenden. Deshalb haben wir auch unsere Sammlung in Episoden strukturiert und sie uns als Serie gedacht. Das Konzept einer Serie bricht auch mit der Vorstellung von einer linearen, modernistischen Zeit. Ich habe hier in Madrid mal einen Vortrag von Fredric Jameson besucht, ohne zu wissen, worüber er eigentlich sprechen wird. Ich war überrascht, als er sich dann mit der US-amerikanischen Fernsehserie The Wire beschäftigte. Für ihn war The Wire das 21.-Jahrhundert-Äquivalent zu den Romanen Honoré de Balzacs. Anders als den großen Geschichten des 19. Jahrhunderts aber fehlt der Serie ein Zentrum. Generell ist die Erzählweise von Fernsehserien immanent und fragmentiert, sie geht nicht auf in einer Einheit. Das Drehbuch entsteht und wird immer wieder neu geschrieben, und ein vorgegebenes Ende ist nicht wesentlich. So sehr sie einem Kriterium folgend konzipiert sind, können die Episoden doch getrennt voneinander angeschaut werden. Die Umgestaltung der Reina-Sofía-Sammlung, die einhundert und eine halbe Galerie besetzt, reagiert auf dieses Schema und wird nun in acht ausgedehnten Kapiteln präsentiert. Wie bei einer Serie kann man sich jeden zweiten Tag, jede Woche oder jeden Monat mit einigen Galerien beschäftigen; bei größerem Durchhaltevermögen kann man sie auch bingen und die gesamte Serie auf einmal sehen. Auch ist die Erzählung der Sammlung fragmentarisch. Besucher*innen können sich für Fragmente entscheiden, und sie wissen, dass ihre Wahrnehmung ebenso fragmentarisch bleiben wird. Das hat eine Offenheit, die es ihnen erlaubt, jederzeit wiederzukommen, und es macht ihnen bewusst, dass diese Veränderungen stattfinden. Für uns ist entscheidend, dass sämtliche Kategorien ständig infrage stehen, was die Partizipation von Kollektiven, Communitys, Agent*innen, Zeitzeug*innen und Künstler*innen zur Folge hat, die auf das Ausgestellte reagieren, aber auch, und besonders, auf das, was nicht ausgestellt ist. Die Partizipation kann verschiedene Formen annehmen: Seminare, Aktionen, Performances, Vorträge etc. Die Sammlung funktioniert nun wie jene mündlichen Überlieferungen, denen Menschen zuhörten und die sie weitererzählten, wodurch sie die Geschichten immer wieder veränderten und zu ihren eigenen machten.

„COMMUNICATING VESSELS. Collection 1881–2021, Episode 5. Enemies of Poetry: Resistance in Latin America“, Museo Reina Sofía, Madrid

„COMMUNICATING VESSELS. Collection 1881–2021, Episode 5. Enemies of Poetry: Resistance in Latin America“, Museo Reina Sofía, Madrid

MAGALHÃES: Erzähle mir von deiner Erfahrung mit der Ausstellungsumgestaltung der Reina-Sofía-Sammlung. Wie lang hat es gedauert, und wie viele Menschen haben hierfür zusammengearbeitet?

BORJA-VILLEL: Die erste radikale Modifizierung fand 2008 statt, als ich gerade erst zum Direktor des Museums ernannt wurde. Sie befasste sich mit der Präsentationsweise von Guernica. Wir versuchten zunächst, das Gemälde zu kontextualisieren und zu rehistorisieren. Als ich ankam, war es gewissermaßen isoliert, wie ein Monument. Nur andere Gemälde von Picasso selbst hingen in der Nähe. Auch waren keine Dokumente ausgestellt, da es die Vorstellung gab, dass die Kunstwerke ohne jede Vermittlung zu einem sprechen. Der erste Schritt war dann, eine Maquette des Pavillons der Spanischen Republik von der Weltausstellung in Paris von 1937 einzubeziehen, wo Guernica zuerst ausgestellt und wofür es konzipiert wurde und wo auch Werke von Künstler*innen wie Alexander Calder, Joan Miró, Julio González, Josep Renau, Francis Bartolozzi, Juana Francisca Rubio und anderen gezeigt wurden. Wir berücksichtigten auch den politischen Kontext dieser Weltausstellung. Auf historischen Postkarten sieht man die deutschen und sowjetischen Pavillons am Eingang, wie sie sich symbolisch bekriegen. Picasso war sich all dessen und des anachronistischen Moments in seinem Werk bewusst, das in Schwarz-Weiß ausgeführt wurde und somit in Bezug steht zu den Wochenschauen und Fotografien der Zeitungen dieser Zeit, durch die er Zeuge der Grausamkeiten des Krieges wurde. Er wandte sich auch Francisco de Goya, Jacques-Louis David und anderen „Meistern der Kunstgeschichte“ zu, um die Rolle eines*einer Künstler*in in einer Zeit tiefgreifender Krisen zu verstehen. Indem wir also die Ausstellung veränderten, verschoben wir den Schwerpunkt vom „Monument“ hin zum „Prozess“. Außerdem wurde uns klar, dass wir die Geschichte der spanischen Diaspora ausarbeiten mussten, unsere Beziehung zur kolonialen Vergangenheit Spaniens etc. Bei unterschiedlichen Gelegenheiten führten wir unterschiedliche Änderungen durch und integrierten neue Abteilungen. Das gab uns auch den Anstoß, die Konzeption temporärer Ausstellungen zu überdenken. Normalerweise haben temporäre Ausstellungen etwas von einem Spektakel. Das bereitete mir Sorgen, und ich fühlte mich damit sehr unwohl. Daher begannen wir, an temporären Ausstellungen in Form von Experimenten zu arbeiten, mittels derer man über ein umfangreicheres, komplexeres Narrativ nachdenken kann. Denselben Ansatz nahmen wir mit in unser Studienzentrum, wo Seminare, Konferenzen und Workshops uns und unseren Mitarbeiter*innen halfen, die Sammlung und ihre Inhalte zu überdenken. Die Sammlung endet zur Zeit mit einer Art kurzem Epilog, dem Ergebnis eines dreijährigen Seminars zur „Politik und Ästhetik des Erinnerns“, das Nelly Richard mit einigen Studierenden leitete. Darin werden die feministischen Demonstrationen und Proteste in Chile von 2019 mit den neoliberalen Strategien der „Chicago Boys“ kontrastiert, die Pinochets Staatsstreich 1973 implantierte und damit eine historische Periode beendete. Die Sammlung reflektiert, wie die unterschiedlichen Abteilungen des Museums zusammenarbeiten. Sie ist also keine Sammlung im Sinne des Sammelns – im Sinne des Anreicherns von Schätzen –, sondern eine Sammlung als Form des Verstehens und der Wissensproduktion. Wie viele Leute daran gearbeitet haben? Eine Menge.

MAGALHÃES: Eine letzte Frage. Ich sehe, dass das Reina Sofía seine Sammlungen neu aufstellt, wie es auch andere Museen weltweit tun; so das Centre Pompidou im Jahr 2013 und, in jüngerer Zeit, das MoMA im Jahr 2019. Mir scheint, dass diese beiden Museen sich – wieder – sehr darum bemühten, neue Arbeiten zu erwerben, um sozusagen die Lücken zu füllen bzw. andere Narrative zu erzeugen.

BORJA-VILLEL: Wenn man sich nur damit beschäftigt, die Lücken zu füllen, hat man bereits ein Problem, da man den Rahmen intakt lässt. Bezüglich Quantität und Qualität besitzen sowohl das Pompidou als auch das MoMA zwei große kanonische Sammlungen des 20. Jahrhunderts, zweifellos. Doch könnte auch das ein Problem darstellen. Sobald man, sagen wir, einen Raum mit zehn Mark Rothkos, zehn Barnett Newmans oder einem anderen sehr teuren Kunstwerk hat und all die Mäzen*innen, die sie dir gaben, oder die Tourist*innen, die die Institutionen besuchen, um sie zu sehen – wird es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, sie zu entfernen und einen Raum zu gestalten, in dem sie Platz machen für ein Dokument, ein Buch, ein „unbedeutenderes“ Kunstwerk. Damit meine ich nicht nur, dass wir diese „unbedeutenderen“ Dinge in die Geschichte der großen Werke einbinden müssen; ich fordere vielmehr, die Struktur, die Hierarchie zu verändern. Es kommt darauf an, neue Erzählungen zu entwickeln. Es ist nicht wichtig, Lücken zu füllen, sondern Strukturen zu verändern. Es geht nicht darum, Erzählungen abzuschließen, sondern sie zu öffnen.

Übersetzung: Sonja Holtz

Manuel Borja-Villel ist seit Januar 2008 Direktor des Museo Reina Sofía in Madrid. Zuvor war er Direktor der Fundació Antoni Tàpies in Barcelona (1990–1998) und des Museu d’Art Contemporani de Barcelona, MACBA (1998–2008). Sein letztes Buch Campos Magnéticos (Arcàdia, 2020) beschäftigt sich mit alternativen Formen der Institutionalität.

Ana Magalhães ist Kunsthistorikerin, Professorin, Kuratorin und derzeitige Direktorin des Museum of Contemporary Art der Universität von São Paulo (MAC USP) in Brasilien. Ihre Forschungen befassen sich mit den visuellen Künsten des 20. Jahrhunderts aus einer transnationalen Perspektive, mit besonderem Augenmerk auf den künstlerischen Austausch zwischen Italien und Brasilien.

Image credit: 1. Courtesy Museo Sofia Reina, photo Joaquín Cortés and Román Lores; 2. Public domain; 3. Courtesy Museo Sofia Reina, photo Joaquín Cortés and Román Lores; 4. Israel Museum, public domain; 5. Courtesy Museo Sofia Reina, photo Joaquín Cortés and Román Lores

Anmerkung

[1]Vgl. „COMMUNICATING VESSELS: Collection 1881–2021“ , Museo Reina Sofía.