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VORWORT

Trans hörte irgendwann im letzten Jahrzehnt auf, Nebensache zu sein. Allein im Jahr 2022 erlebten wir, wie Wladimir Putin das Bild „geschlechtsumwandelnder Operationen“ heraufbeschwor, um die Invasion in die Ukraine zu rechtfertigen. [1] Wir erlebten, wie das Vereinigte Königreich aufgrund progressiver trans Gesetzgebung in Schottland an den Rand einer Verfassungskrise geriet. [2] In den USA wurden Hunderte von Gesetzen eingebracht, um die Existenz von trans Personen legislativ zu unterbinden (im Jahr 2018 waren es 41). [3] Und in Deutschland schien Justizminister Marco Buschmann aus seiner Transmisogynie keinen Hehl zu machen, als er die Verzögerungen bei der Verabschiedung des längst überfälligen Selbstbestimmungsgesetzes mit Sicherheitsbedenken für Besucherinnen von Frauensaunen rechtfertigte. [4] Doch das alles sind keineswegs neue Entwicklungen. Seit vielen Jahren fungieren sogenannte Anti-Gender-Bewegungen als Bindeglied der globalen Rechten – mit trans Menschen als sichtbarsten und umstrittensten Angriffspunkten. [5] Zwischen 2009 und 2018 wurden in Europa umgerechnet über 700 Millionen US-Dollar für diese „Anti-Gender“-Kampagnen ausgegeben – und die Zahlen sind seither vermutlich gestiegen. [6] Das ist eine Menge Geld! Zum Vergleich: Die Kampagnen rund um den Brexit (sowohl „Leave“ als auch „Remain“) beliefen sich 2016 insgesamt auf 32,6 Millionen Pfund (ca. 45,7 Millionen US-Dollar). [7]

Gleichzeitig hat in den letzten Jahren die Zahl selbstbestimmt produzierter Darstellungen von trans und nichtbinären Personen zugenommen. Im Jahr 2014 etwa erschien die Schauspielerin und Aktivistin Laverne Cox auf dem Cover des Time Magazine, das so einen „Transgender-Tipping-Point“ verkündete. Die von Janet Mock koproduzierte Serie Pose – eine fiktionalisierte Darstellung der New Yorker Ballroom Scene, in der die größte Anzahl Schwarzer und Latinx trans Schauspieler*innen der Fernsehgeschichte zu sehen ist – wurde von der Kritik hochgelobt. Und in diesem Jahr gewann Kim Petras für ihr Duett mit dem*der nichtbinären Sänger*in Sam Smith einen Grammy. Doch mit der Sichtbarkeit nahm auch die Gewalt zu. Die Zahl der Morde, insbesondere an Schwarzen trans Frauen, steigt kontinuierlich an.

In welchem Zusammenhang stehen diese sozialen und politischen Entwicklungen zur Kunstwelt? Unter den Teilnehmer*innen, die 2022 zur Venedig Biennale eingeladen wurden, um sich eine „magische Welt vorzustellen, […] in der sich jeder verändern, transformieren, etwas oder jemand anderes werden kann“, befanden sich viele trans und nichtbinäre Künstler*innen. [8] Und große Institutionen wie der Gropius-Bau in Berlin oder das New Museum in New York stellen wie fast selbstverständlich trans Künstler*innen aus. Das Zeitalter der „Freak Shows“ ist, so scheint es, vorbei. Doch was folgt? Handelte es sich hierbei nur um den Versuch, Kunstinstitutionen ein Pinkwashing zu verabreichen, weil sie nicht willens sind, strukturelle Diskriminierungen abzubauen und Räume zu schaffen, in denen sich trans Menschen sicher fühlen können? Reduziert die Rahmung der angeblichen Transgressivität von trans Künstler*innen die Komplexität ihrer gelebten Erfahrungen, um sie als tapfere Verkörperung queerer Theorien zu romantisieren? Leben werden zu Metaphern im Windschatten eines leicht austauschbaren Affixes; Transgeschlechtlichkeit wird zu einem bourgeoisen Gedankenspiel, während Fragen nach struktureller Ungleichheit zu oft ignoriert werden.

Über einen Perspektivwechsel stellt Texte zur Kunst bewusst trans Künstler*innen und Autor*innen in den Vordergrund, die unter anderem über Transmisogynie, Überschneidungen von Rassismus, Antisemitismus und Transphobie, über Notwendigkeiten und Freuden von (digitalen) Räumen für trans Personen und über eine produktive neue Sprache für trans Ästhetiken nachdenken. Methodisch gesehen, gehen viele Texte von einem besonderen trans Materialismus aus: Indem sie gelebte Erfahrungen beispielsweise mit einer Kritik an Sichtbarkeitspolitik oder Institutionen verknüpfen, hinterfragen die Autor*innen, wie sich trans auf dem Kunstmarkt, in Museen und darüber hinaus materialisiert. Das bedeutet, den Kanon zu erweitern, da der Zugang zum Pantheon der vermeintlich hohen Kunst oftmals auf die wenigen beschränkt bleibt, die mit the master’s tools zufriedenstellend hantieren können. Eine Feststellung, die Farah Thompson in ihrer Betrachtung von Danielle Brathwaite-Shirleys Gamedesigns veranschaulicht. Ausgehend von ihrer Erfahrung als Schwarze bisexuelle trans Frau liest Thompson diese Spiele als Meditationen über die Besonderheit Schwarzer trans Ästhetik. Fragen über den ungleichen Zugang und die Notwendigkeit exklusiver Räume bestimmen auch das Gespräch zwischen den Künstler*innen Vidisha-Fadescha, Chris E. Vargas, Kübra Uzun und der Philosophin Luce deLire: Was bedeutet es, Zugang zu Institutionen zu haben, in denen die Voraussetzungen für die Teilnahme auf cis-weißen Standards beruhen? Und welche Rolle können Hospitalität und Kink bei der Schaffung postautoritärer Alternativen spielen?

In ihrem separaten Beitrag übt deLire Kritik an dem, was sie als repräsentationale Gerechtigkeit bezeichnet und deren theoretische Grundlagen sie in Judith Butlers Politik der Subversion verortet. Die Politik der Sichtbarkeit vereitele oft eine nachhaltige Veränderung gewalttätiger und insbesondere transmisogyner Umwelten – mit erheblichen Folgen für die Kunstwelt. Hil Malatino denkt darüber nach, wie man feindlichen Umgebungen trotzen kann, indem er ein Konzept der Ausdauer beschreibt, mit dem sich trans Künstler*innen vorstellen, was es bedeutet zu bestehen. Ausgehend von den Arbeiten Young Joon Kwaks und Kiyan Williams’ erörtert Lex Morgan Lancaster die Auswirkungen von Geschichten und Prozessen auf das materielle Verhalten und die Morphologie von trans sowie rassifizierten Körpern und erweitert so die Idee von queer abstraction. Diesem akademischen Diskurs zu Repräsentation und Abstraktion in den Arbeiten von trans Künstler*innen widerspricht auch Williams in einem Gespräch mit P. Staff und Jeanne Vaccaro.

Da viele der versammelten Hauptteiltexte die Notwendigkeit artikulieren, das cis Paradigma innerhalb hegemonialer Institutionen zu unterlaufen, setzt sich die redaktionelle Schwerpunktsetzung auch in anderen Sektionen des Magazins fort. Die Rezensionen befassen sich beispielsweise mit Künstler*innen wie Toni Ebel, Greer Lankton, Kim Petras oder Wu Tsang. Für die Bildstrecke wurden Arbeiten bei Andrea Illés, Ebun Sodipo, El Palomar, Katayoun Jalilipour, Pippa Garner sowie Raju Rage und Nad MA beauftragt. Darüber hinaus versammelt diese Ausgabe literarische Formen künstlerischer Forschung der Künstler*innen und Schriftsteller*innen Aristilde Kirby, Ginevra Shay und Maxi Wallenhorst. Kirby stellt eine Verbindung zwischen der holländischen Tulpenmanie und dem blühenden Markt der Reproduktionsmedizin der Gegenwart her, um eine zutiefst persönliche Kritik zu formulieren, die auf Geschichten des Begehrens und der Belästigung sowie des Übergriffs in Bildungseinrichtungen innerhalb des Spätkapitalismus beruht. Wallenhorst setzt sich mit zwei ästhetischen Urteilen auseinander, die häufig über die sozialen Formen von trans Beziehungen gefällt werden: „zu offensichtlich!“ und „zu abstrakt!“, während Shay ein Mosaik aus Poesie, Kino, Mythen und Musik entwirft, um eine Art Intersex-Archiv zu schaffen, und damit einen poetischen Leitfaden für alle bietet, die daran interessiert sind, Wege zu beschreiten, die im trans Diskurs und darüber hinaus selten beschritten werden.

Das cis Team von Texte zur Kunst ist dankbar für das Vertrauen und die Arbeit, die alle Beteiligten in diese Ausgabe investiert haben – insbesondere Luce deLire, die viel mehr geleistet hat als ursprünglich vorgesehen, da die zusätzliche Arbeit, die trans Menschen in cis Strukturen zwangsläufig erfüllen müssen, um bestehende Ungleichheiten auszugleichen, nicht angemessen berücksichtigt wurde. Eine historisch gewachsene strukturelle Diskriminierung von trans Menschen verhindert eine gleichberechtigte Zusammenarbeit auf materieller Ebene, was sich zum Beispiel auch in den Galerien- oder Museumsausstellungen, an denen sie teilnehmen, manifestiert. Wie auf den folgenden Seiten deutlich wird, sind trans Künstler*innen immer wieder von der Kunstgeschichte, dem Kunstmarkt und den Medien missachtet worden (und Texte zur Kunst war da keine Ausnahme). Doch Narrative und Institutionen lassen sich nicht allein durch einen Perspektivwechsel verändern. Bei der institutionellen Transformation geht es darum, sich mit den gelebten und materiellen Realitäten von trans auseinanderzusetzen; es geht darum, Räume für trans Personen hospitabler zu gestalten, und darum, Ressourcen gerechter umzuverteilen. Wir hoffen, dass diese Ausgabe nicht nur die Notwendigkeit eines solchen Wandels verdeutlicht, sondern auch dazu beiträgt, in Zukunft einen tiefgreifenden Strukturwandel zu ermöglichen.

Luce deLire, Antonia Kölbl, Christian Liclair, and Anna Sinofzik

Anmerkungen

[1]Siehe Wladimir Putins Rede während der Zeremonie zur „Bestätigung“ der russischen Annexion der ostukrainischen Gebiete; Reuters, „Extracts from Putin’s Speech at Annexation Ceremony“, 30. September 2022.
[2]Vic Parsons, „Transphobia Is Tearing the United Kingdom Apart“, in: Them, 20. Januar 2023.
[3]Matt Lavietes/Elliott Ramos, „Nearly 240 Anti-LGBTQ Bills Filed in 2022 So Far, Most of Them Targeting Trans People“, NBC News, 20. März 2022; siehe auch James Factora, „The Anti-LGBTQ+ Bills of 2022, Explained“, in: Them, 11. Februar 2022; und, um auf dem Laufenden zu bleiben, „Legislative Tracker: Anti-Transgender Legislation“, Freedom for All Americans.
[4]Marco Buschmann, „Wenn sich die Welt verändert, muss sich auch die Politik verändern“, Interview mit Hannah Bethke/Lisa Caspari, in: Die Zeit, 6. Januar 2023. Im Übrigen ist das Argument, dass Gesetze zur Selbstidentifizierung zu mehr Gewalt gegen Frauen führen, falsch, wie der Fall Argentinien zeigt: Siehe Enrique Anarte, „Do Trans Self-ID Laws Harm Women? Argentina Could Have Answers“, in: Openly News, 1. Juni 2022.
[5]Siehe Serena Bassi/Greta LaFleur (Hg.), „Trans-Exclusionary Feminisms and the Global New Right“, in: Sonderausgabe, TSQ: Transgender Studies Quarterly 9, 3, 2022, sowie Sabine Hark/Paula-Irene Villa (Hg.), Anti-Genderismus – Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Berlin 2015); für einen sehr schnellen Überblick siehe auch: Lorena Sosa, „Beyond Gender Equality? Anti-Gender Campaigns and the Erosion of Human Rights and Democracy“, in: Netherlands Quarterly of Human Rights, 39, 1, 2021, S. 3–10.
[6]„Tip of the Iceberg: Religious-Extremist Funders against Human Rights for Sexuality and Reproductive Health in Europe“, EPF – European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights, 15. Juni 2021.
[7]„Campaign Spending at the EU Referendum“, Wahlkommission, 29. Juli 2019.
[8]„Statement by Cecilia Alemani“, Biennale, Venedig, 2022.
[9]Siehe Luce deLire, „Beyond Representational Justice“ in dieser Ausgabe.

Literatur

• Aizura, Aren Z., Marquis Bey, Toby Beauchamp, Treva Ellison, Jules Gill-Peterson und Eliza Steinbock. „Thinking with Trans Now“, in Social Text 145 (Dezember 2020): 125–47.
• Bassi, Serena und Greta LaFleur (Hg.), „Trans-Exclusionary Feminisms and the Global New Right”, Sonderausgabe, TSQ: Transgender Studies Quarterly 9, Nr. 3 (August 2022).
• Bey, Marquis. Black Trans Feminism (Durham, NC: Duke University Press, 2022).
• binaohan, b. decolonizing trans/gender 101 (Toronto: biyuti publishing, 2014).
• Bouvar Wenzel, Mine Pleasure. „Wollt ihr euch vor dem Krieg drücken?“, in Missy Magazine, 11. Juli 2022.
• cárdenas, micha. Poetic Operations: Trans of Color Art in Digital Media (Durham, NC: Duke University Press, 2022).
• Chen, Jian Neo. Trans Exploits: Trans of Color Cultures and Technologies in Movement (Durham, NC: Duke University Press, 2019).
• deLire, Luce. „Catchy Title [1] – Gender Abolitionism, Trans Materialism, and Beyond“, in Year of the Women Magazine, 2022.
• deLire, Luce. „Why Dance in the Face of War“, in Stillpoint Magazine, 2022.
• deLire Luce. „Can the Transsexual Speak?”, in Intersectionality Today, Sonderausgabe, philoSOPHIA: Journal of Transcontinental Feminism 13 (im Erscheinen).
• Faye, Shon. Die Transgender-Frage (Berlin: hanserblau, 2022)
• Gender-Killer, A. G. (Hg.), Antisemitismus und Geschlecht (Münster: Unrast, 2005).
• Gleeson, Jules J. und Elle O’Rourke (Hg.), Transgender Marxism (London: Pluto Press, 2021).
• Gossett, Reina, Eric A. Stanley und Johanna Burton (Hg.), Trap Door: Trans Cultural Production and the Politics of Visibility (Cambridge: MIT Press, 2022).
• Hark, Sabine und Paula-Irene Villa (Hg.), Anti-Genderismus – Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen (Berlin: transcript, 2015).
• Hayward, Eva. „More Lessons from a Starfish: Prefixial Flesh and Transspeciated Selves”, in WSQ: Women’s Studies Quarterly 36, Nr. 3–4 (Herbst/Winter 2008): 64–85.
• Malatino, Hil. Queer Embodiment: Monstrosity, Medical Violence, and Intersex Experience (Lincoln: University of Nebraska Press, 2019).
• Malatino, Hil. Side Affects: On Being Trans and Feeling Bad (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2022).
• Keegan, Caél. „Transgender Studies, or How to Do Things with Trans*”, in The Cambridge Companion to Queer Studies, Siobhan B. Somerville (Hg.), Cambridge Companions to Literature and Classics (Cambridge: Cambridge University Press, 2020), 66–78.
• Lewis, Sophie. „SWERF’n’TERF: Notes on Some Bad Materialisms”, Salvage, 6. Februar 2017.
• Lorenz, Renate. Queer Art: A Freak Theory (Berlin: transcript, 2012).
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• Mayer, So. A Nazi Word for a Nazi Thing (London: Peninsula Press, 2020).
• McClintock, Anne. Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Imperial Contest (London: Routledge, 1995).
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• Steinbock, Eliza. Shimmering Images: Trans Cinema, Embodiment, and the Aesthetics of Change (Durham, NC: Duke University Press, 2019).
• Stryker, Susan. „My Words to Victor Frankenstein above the Village of Chamounix: Performing Transgender Rage“, in GLQ 1, Nr. 3 (Juni 1994): 237–54.
• Vikram, Anuradha. Decolonizing Culture: Essays on the Intersection of Art and Politics (Saratoga, CA: Sming Sming Books, 2017).
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• Wark, McKenzie. „Dear Cis Analysts: A Call for Reparations“, in Parapraxis, Herbst 2022.
• Wark, McKenzie. Reverse Cowgirl (Berlin: August Verlag, 2023).