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VORWORT

Wie viel Macht steckt in der Ohnmacht? Wohnt dem Zustand, der häufig mit Schwäche, Hilflosigkeit oder lähmendem Unvermögen assoziiert wird, ein Handlungsvermögen inne? Dieses Heft unternimmt den Versuch, den Begriff der Ohnmacht mit Blick auf seine kunst- und kulturhistorischen Implikationen produktiv zu machen. Gleichzeitig verhandeln die versammelten Beiträge Ohnmacht aber auch als aktuelle emotionale Verfasstheit westlicher Gesellschaften, die aus der Verschränkung verschiedener als überwältigend empfundener politischer, ökonomischer und ökologischer Krisen resultiert. Wie verhält sich diese kollektive Befindlichkeit zum aktivistischen Ideal der progressiven Kulturpolitik – oder generell zu den Handlungsspielräumen, die Kunst zu eröffnen verspricht? Könnte Ohnmacht vielleicht sogar als Triebkraft künstlerischer Arbeit nutzbar gemacht werden?

Die medizinische Ohnmacht spielte in der Kulturgeschichte vergangener Jahrhunderte eine besondere Rolle: Viktorianische Häuser gehobener Klassen widmeten der sogenannten Synkope gar ein eigenes Zimmer, den fainting room, mit eigens dafür entworfenem Mobiliar, das der Reanimation dienen sollte. Auch in Literatur und Malerei finden sich Darstellungen von Ohnmachtsanfällen wohlhabender Damen, ausgelöst zum Beispiel durch schlechte Nachrichten, wie in einem Gemälde von Marguerite Gérard. Man denke auch an die Reaktion – Ohnmacht – der „tugendhaften“ Luise Miller auf ihre Diffamation als Hure in Friedrich Schillers Drama Kabale und Liebe. Ohnmacht galt damals als Ausweis eines zartbesaiteten Gemüts und avancierte entsprechend zum Merkmal vornehmer Weiblichkeit. Dabei resultierte die vorübergehende Bewusstlosigkeit nicht aus individuellen psychologischen oder physiologischen Dispositionen, vielmehr stand die Prävalenz der Ohnmachtsanfälle zu dieser Zeit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Schönheitsidealen, denn eng geschnürte Korsetts beeinträchtigten die Sauerstoffversorgung des Gehirns. Ähnlich der heutigen psychologisch empfundenen Ohnmacht in Anbetracht von Krisen ging die Ursache des kurzfristigen Bewusstseinsverlusts auf äußere Gegebenheiten zurück – ob modische Konventionen oder kapitalistische Weltordnung.

Als emotionales Erleben spiegelt die Ohnmacht einen gesellschaftlichen Zustand, in dem sich die Menschen nicht imstande fühlen, den Ursachen ihrer Leidenserfahrung etwas entgegenzusetzen. Ohnmacht ist die Antwort auf kollektiv erfahrene Strukturbedingungen, die jegliches Handeln erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen. So etwa derzeit die unabwendbar erscheinende Klimakrise, die kafkaesken Entfremdungserfahrungen angesichts undurchsichtiger administrativer Strukturen oder das anhaltende Erstarken der politischen Rechten samt systematischer Unterdrückung durch autoritäre Staatsapparate. Der Psychoanalytiker Marcus Coelen erinnert in seinem Beitrag zu dieser Ausgabe daran, dass der Ohnmacht ihre Macht erst spät entzogen wurde. Der Begriff selbst hat seinen Ursprung in der āmaht, gebildet aus dem mittelhochdeutschen Wort für Macht und der Vorsilbe für „fort“. Wenngleich regionale Einflüsse daraus ein ō werden ließen, das heute als sprachliche Synkope verstanden und mit „ohne“ gleichgesetzt wird, war die Ohnmacht zunächst also keinesfalls mit Machtlosigkeit assoziiert. Vielmehr implizierte sie eine vorausgegangene Macht, die nun „fort“ ist. Dies verleiht der Ohnmacht eine Temporalität, die der Machtlosigkeit abgeht: Um ohnmächtig zu werden, muss vorher eine gewisse Handlungsmacht bestanden haben, die potenziell auch wieder erlangt werden kann. In dieser Zeitlichkeit liegt nach Theodor W. Adorno ein besonderes kritisches Potenzial: Ohnmächtig zu sein heißt, sich der Unterdrückung bewusst zu werden und sie zugleich nicht anzunehmen. So eröffnen sich Handlungsspielräume für Ermächtigung.

Diesen Gedanken führt Kathrin Busch unter anderem am Beispiel der Selbstminderungspraxis von Lee Lozano aus. Ihr konsequenter Drogenkonsum oder ihre Entscheidung, nicht mehr mit Frauen zu sprechen, laufen Busch zufolge auf eine Taktik der Selbstaushöhlung hinaus, mithilfe derer übergeordnete Mächte sichtbar werden: sei es die Sucht, die Gesetze des Kunstfeldes oder Lozanos gesellschaftliche Marginalisierung als Frau. Während Künstler*innen und Autor*innen wie Lozano oder Chris Kraus bei Busch für den paradoxen Wunsch nach erfahrbarer Ohnmacht durch provozierten Selbstverlust stehen, widmet sich Sascha Crasnow den ästhetischen Strategien jener Kulturschaffenden, die einer als entmächtigend empfundenen politischen Situation etwas entgegensetzen. So untersucht sie die Arbeiten des palästinischen Künstlers Ashraf Fawakhry, die das überwältigende Gefühl der Desillusionierung eines Lebens im Wartezustand verhandeln. Mit der grundsätzlichen Frage nach künstlerischer Handlungsmacht beschäftigen sich Jules Pelta Feldman und Georg Imdahl: Kann Kunst politisch und vor allem langfristig etwas bewirken, ohne dabei zwangsläufig selbst zur Politik zu werden?

Die Politiken der Repräsentation stehen im Zentrum der Beiträge von Verena Straub und Nina Vabab, die sich beide mit der Rolle von Bildern in Protestbewegungen beschäftigen. Straub konstatiert eine Ohnmacht der Bilder bezogen auf den Klimaprotest im nordrhein-westfälischen Lützerath, da die Fotografien des aktivistischen Widerstands zwar rasant zirkulierten, jedoch keine politische Wirkung entfalteten. Anders im Falle eines Fotos der von der Sittenpolizei ermordeten Mahsa Jina Amini, das im Herbst 2022 die iranische Revolte auslöste. Vabab nimmt die viral verbreitete Fotografie zum Anlass, um mit Rekurs auf Judith Butlers Überlegungen zum gewaltfreien Widerstand ein relationales Subjektverständnis nachzuzeichnen, das die Universalität der Verletzbarkeit einsetzt, um die eigene Existenz geltend zu machen.

Das Ohnmachtsgefühl im Streben nach einer besseren Zukunft zu überwinden, geht notwendig mit Rückschlägen einher, die sich oft nicht rational erklären lassen. Um diese besser zu verstehen, schlägt Amy Allen eine Engführung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule mit der Metapsychologie der Analytikerin Melanie Klein vor. Im Gespräch mit Isabelle Graw entwickelt Allen Gedanken für einen konstruktiven Umgang mit dem polarisierten politischen Klima der heutigen Zeit. Weder ist Selbstaufgabe eine Option noch die Illusion, dass sich unser psychisches Leben rational durchdringen lasse. Warum gerade die Selbstaufgabe in bestimmten Kontexten als begehrenswert erachtet wird, führt Christian Liclair mit Blick auf die Kunst Jimmy DeSanas aus, die er mit zeitgenössischen Schriften zum Sadomasochismus kontextualisiert. Selbstbestimmte Ohnmacht durch temporäre Unterwerfung wird hier zu einem lustvollen Erleben, das die Dichotomie zwischen mächtig und ohnmächtig verflüssigt.

Isabelle Graw, Antonia Kölbl, Christian Liclair und Anna Sinofzik