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VORWORT

Traditionell sind Kunstwissenschaft und ästhetische Theorie körperlicher Lust gegenüber eher enthaltsam. Schon die Philosophie des 18. Jahrhunderts unterschied die ästhetische Lust als Effekt geistiger Erfahrung und Grundlage eines kritischen Werturteils klar von der rein fleischlichen. Für Immanuel Kant basiert das Urteil der Schönheit auf einem „interesselosen Wohlgefallen“, das trotz seiner Unmittelbarkeit eine Reflexion über das Objekt beinhalte und damit von den Freuden zu unterschieden sei, die Essen, Trinken oder sexuelle Anziehung bereiten. Da das Sexuelle dazu führe, Menschen für den eigenen erotischen „Appetit“ zu instrumentalisieren, galt es Kant ohnehin als besonders fragwürdig.

Auch in künstlerischer Produktion und den damit einhergehenden symbolischen, kulturellen und ökonomischen Wertbildungsprozessen wird Kunst häufig höher geschätzt, wenn sie intellektuelle Erfahrung dem Erleben von Lust überordnet. Pierre Bourdieu zufolge ist die Ablehnung fleischlicher Genüsse unter Ästhet*innen ein Mittel, sich vom Chaos der menschlichen Körperlichkeit zu distanzieren. In diesem Sinne müsse sich eine progressive Kunstpraxis, so Amelia Jones, avantgardistischen Strategien der Verfremdung bedienen, um Betrachter*innen den Prozess des Erlebens bewusst zu machen und die Identifikation mit dem Dargestellten zu verkomplizieren. Jones kritisiert diese rigorose Trennung von leiblicher Lust und intellektualisierter Betrachtung, da sie die Möglichkeit von Kunst ausschließe, sowohl sinnlich als auch konzeptuell, erotisch wie auch politisch kritisch zu sein.

Mit der Empfindung von Lust wird also ein Verlust kritischen Denkens assoziiert; sie erscheint als ein niederer Impuls, dem politische Handlungsmacht abgesprochen wird. Entgegen einer solchen Disqualifizierung sucht dieses Heft das kritische Potenzial der Lust gerade in deren Fleischlichkeit und Unmittelbarkeit. Obwohl Lust meist als zutiefst persönlich und innerlich erfahren wird, ist sie doch grundlegend durch unser Affiziertsein bedingt und verweist daher auf die Relationalität sowie Unabgeschlossenheit unserer Körper. Somit birgt sie das Potenzial, unvorhergesehene Verbindungen im Sozialen zu stiften, die nicht der Suche nach inneren Wahrheiten geschuldet sind, sondern der momentanen Intensivierung leiblicher Empfindungen.

Letztere steht im Fokus von Tim Deans Beitrag, der sich eine explizite Szene aus Garth Greenwells Roman Reinheit vornimmt, in der der Protagonist die ihm unvertraute dominante Position einnimmt. Dean demonstriert, wie binäre Gegensätze – Subjekt/Objekt, aktiv/passiv, Lust/Schmerz – durch sexuelle Intensität ins Wanken geraten und herkömmliche Grenzen der Intelligibilität überschritten werden. Diese lustvolle Transgression ist programmatisch für die erotische Praxis des Sadomasochismus, bei der ungleiche Machtverhältnisse zum Lustgewinn konsensuell aufgeführt werden. Im Round Table mit Jill H. Casid diskutieren Michelle Handelman, Angelo Madsen Minax und Sami Schalk über die emanzipatorischen Dimensionen von BDSM sowie die politische Bedeutung von crip sex, Black joy und brown jouissance. Letzterer Begriff wurde von Amber Musser geprägt, um das radikale Potenzial fleischlicher Lust zu erfassen, die die Beschränkungen von Souveränität und Subjektivität in weißen und patriarchalen hegemonialen Herrschaftsstrukturen überschreitet. Für TEXTE ZUR KUNST veranschaulicht Musser diese Möglichkeitsräume anhand von Beispielen aus der zeitgenössischen Kunst und Kultur. Die Theorie Jacques Lacans, mit der sich Musser auseinandersetzt, kommt auch im Interview mit Jamieson Webster zur Sprache. Im Gespräch mit Anna Sinofzik erörtert die Psychoanalytikerin Ideen ihrer autotheoretischen Essaysammlung Disorganisation & Sex und hebt hervor, wie unentwirrbar das Sexuelle und das Politische miteinander verstrickt sind.

In enger Verbindung mit psychoanalytischen Begriffen, insbesondere Sigmund Freuds Überlegungen zur Schaulust, wurden in den 1970ern verstärkt feministische Theorien visueller Lust formuliert. Laura Mulvey argumentierte mit Freud, dass die Objektifizierung von Frauen durch die Mittel visueller Repräsentation unvermeidbar sei, und forderte die Zerstörung aller (patriarchalen) visuellen Lust. Auf die Betrachtung der Lust als fetischistischer Besetzung folgte laut Susanne Huber jedoch, dass ihr seither negative Assoziationen von Mangel und krankhafter Besessenheit anhaften, die im kolonialen Entstehungszusammenhang des Begriffs begründet sind. Nichtsdestotrotz avancierte Mulveys Aufforderung zu einem Organisationsprinzip feministischer Kunst und Theorie, der zufolge potenziell lustvolle Darstellungen weiblicher Körper stets Gefahr laufen, sexuelle Verdinglichung zu reproduzieren. Anhand eines close reading einer Arbeit Joan Semmels zeigt Christian Liclair, wie deren nackte Selbstporträts der 1970er Jahre als Versuch verstanden werden können, die Idee einer einseitigen Subjekt-Objekt-Machtdynamik zu unterlaufen.

Liclairs Beitrag demonstriert zudem, wie Kunsthistoriker den traditionellen weiblichen Akt bändigten, um das ästhetisch Erhabene vom Obszönen zu trennen. Die mit dieser Vorstellung einhergehende Annahme intellektueller Beeinträchtigung durch sexuell erregende Kunst findet ein unerwartetes Äquivalent in Douglas Crimps Kritik an homoerotischer Kunst im Angesicht der AIDS-Epidemie. Wie Ryan Mangione nahelegt, manifestierte sich bei Crimp ein binäres Modell von Darstellungen von Sexualität, die einerseits im Dienst einer militanten Politik ideologisch wertvoll sein können oder sich andererseits als eskapistisch offenbaren und damit auf der Seite der bestehenden Machtverhältnisse stehen. Die Gefahr, dass unsere Lust kapitalistischen Prozessen anheimfallen kann, thematisiert auch Beate Absalon, indem sie zeigt, wie sich neoliberale Effizienz- und Selbstoptimierungsparadigmen ins Sexuelle einschleichen.

Von Ausstellungsbesuchen erhoffen sich Kunstkritiker*innen vor allem intellektuelle Stimulation. Doch können, wie JaBrea ­Patterson-West durch ihre Begegnung mit Somaya Critchlows Aktgemälden am eigenen Leib erfuhr, auch begehrliche Wallungen Perspektiven öffnen. Unter Berufung auf eine der wenigen Vordenkerinnen der Schwarzen lesbischen Kritik, Barbara Smith, verweist die Autorin auf das Widerständige, das lesbischem Begehren innewohnt und mit dem sich die vorherrschende weiße heterosexuelle Sichtweise aufbrechen lässt.

Aus posthumanistischer Perspektive ist nicht allein das verkörperlichte, menschliche Subjekt Dreh- und Angelpunkt entgrenzter Lusterfahrung. Welche Rolle materielle Objekte in Narrativen lustvoller Begegnungen entwickeln könnten, suggeriert Itziar Barrios Bildstrecke für diese Ausgabe. Die Textfragmente ihres visuellen Essays dienen dabei als Motor einer nicht linearen Erzählung, die, wie alle fesselnden Stories, mit Begehren, Lust, Körpern und ausgezogenen Hosen aufwartet.

Susanne Huber, Antonia Kölbl, Christian Liclair und Anna Sinofzik