VORWORT
Jedes Vorwort leistet für eine Publikation das, was die Vorrede für einen Vortrag leistet: die Vermittlung eines grundsätzlichen Anliegens inklusive einer unmittelbaren Adressierung der Rezipient*innen. Es weckt Erwartungen und stellt das wesentliche Argument der schreibenden oder sprechenden Personen vor. Mit „Lecture“ präsentiert TEXTE ZUR KUNST nach „Reviews“ eine weitere Ausgabe, die sich selbstreflexiv mit einem zentralen Format der Kunstgeschichte, Kunst und Kritik auseinandersetzt. Dieses Interesse am Vortrag mag kontraintuitiv erscheinen, denn in Kultur, Journalismus und Politik werden in letzter Zeit eher dialogische Formate bevorzugt. Doch als Format haben Gespräche angesichts der seit Jahren zunehmenden politischen Polarisierung westlicher Gesellschaften an konstruktivem Potenzial eingebüßt.
Warum wir ausgerechnet den mit angemaßter Autorität und impliziten Hierarchien verbundenen Vortrag als ertragreiche Form des Ausdrucks vorschlagen, wird in den Texten und Video-Lectures der Beitragenden dieses Heftes deutlich. Sie bringen „The Master’s Tools“, wie Audre Lorde die Instrumente der Mächtigen bezeichnete, im Wissen um die eigene Involviertheit zum Einsatz. Lorde wirft mit ihrer berühmten Formulierung die Frage auf, inwieweit das Hantieren mit derartigen Werkzeugen zu tatsächlichen Veränderungen führen kann. Damit fordert sie Rezipient*innen bis heute heraus, so Tavia Nyong’o, der hier über die politischen Effekte seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Lordes Worten nachdenkt.
Wie ein machtkritischer und subversiver Umgang mit der inhärent autoritären Ansprache des Vortragsformats gelingen kann, zeigen die Beiträge dieses Heftes. Sie alle sind geprägt von produktiven Spannungen zwischen strenger Form und offenem Experiment, zwischen erfüllten Ansprüchen und unterlaufenen Erwartungen. Während die Kunsthistoriker*innen Huey Copeland und Isabelle Graw Vorträge eher akademischen Zuschnitts halten – sei es ein Festvortrag, der eine geschätzte Mentorin anlässlich ihrer Emeritierung ehrt, sei es ein historischer Vergleich, der strukturelle Veränderungen des Kunstmarkts aufzeigt –, arbeiten die Künstler*innen Armin Chodzinski und Sibylle Peters in ihrem Gespräch heraus, zu welch vielfältigen Ergebnissen die Lecture/Performance führen kann, wenn man sie als offene Versuchsanordnung anlegt. Der experimentelle Zugriff bleibt gleichwohl auf das formale Gerüst des Vortrags angewiesen. Darin schließt er, im Fall von Peters ganz bewusst, an John Cages ästhetisches Prinzip an. Die oft verkannte Disziplin, die Cages Kunst begründet, legt Branden W. Joseph in Diskussion von Pope.Ls Lecture Performance Cage Unrequited (2013) offen. In seiner Interpretation von Cages Arbeit zeigt Pope.L auf, dass die anarchistische Grundhaltung des Künstlers autoritäre Gesten nicht ausschloss.
Mit dem Center for Experimental Lectures befragen Gordon Hall und Zoey Lubitz nicht nur das Format des Vortrags, sondern auch den jeweiligen institutionellen Kontext, für den sie Lecture Performances in Auftrag geben, was in ihrem Dialog unter anderem eine Kritik an Positionierungen von TEXTE ZUR KUNST einschließt. Auch Julia Schers Video-Lecture reflektiert die Rahmenbedingungen, unter denen sie entstanden ist. Nach der Vorstellung ihres Kamera- und Tonmanns, der sich in der ersten Einstellung im Glas der von Scher getragenen Apple Vision Pro spiegelt, und ihres Kostümbildners performt sie das von uns verfasste Konzeptpapier für die Ausgabe. Dass sie dabei mit einem Zeigestock an einer klassischen Vortragsrequisite festhält, unterstreicht die augenzwinkernde Ernsthaftigkeit ihres Projekts. Lila-Zoé Krauß rückt in ihrem Videobeitrag den technologischen Wandel ebenfalls in den Vordergrund sowie die Folgen dieser Entwicklungen für unsere Imagination.
Digitaler infrastruktureller Wandel wirkt sich, so argumentiert Graw am Beispiel der Onlinepersona @jerrygogosian, massiv auf die Bedingungen des Kunstmarkts aus – auf den Vortrag als kunsthistorisches Werkzeug jedoch kaum, wie Hall und Lubitz feststellen. Dass ein anderer Umgang mit visuellem Material als die ewig gleiche – ob nun analoge oder digitale – Doppelprojektion neue Sinnzusammenhänge ergibt, demonstrieren Felix Bernstein und Jan Verwoert. Ersterer geht in seinen Lecture Performances von Bildern aus, die er teilweise mit KI generiert hat. Ihnen ordnet er alles andere unter und kehrt damit den klassischen Vortragsaufbau, in dem Inhalt und Struktur auf ein Argument hin ausgerichtet sind, konsequent um. Verwoert verknüpft Bildcollagen und Gedankenmuster in seinem der Kunst der Mnemotechnik gewidmeten Beitrag, den er mit dem rhythmischen Verständnis eines Musikers vorträgt. Er selbst wird in dem als Zoomvortrag aufgenommenen Video zur visuellen Randnotiz.
Copeland schaltet die Kamera erst gar nicht ein; einerseits, um in seinem Vortrag „Voice Lessons“ die Stimme mittels Sprache, Pausen und Tonalität den Inhalt transportieren zu lassen, andererseits, so erklärt er, um die Erwartungen, die ein überwiegend weißes Publikum an seine als Schwarzer Mann markierte Erscheinung richten würde, außen vor zu lassen. Darin liegt die explizite Verweigerung einer eingeforderten Performance. Das unmittelbare Erfüllen von Erwartungen lehnt auch Sophie Seita ab, die ebenfalls ihre Stimme von ihrem Körper gelöst und als Tonspur aufgezeichnet hat – sich jedoch vor der Kamera zeigt, allerdings vom Publikum abgewandt und schweigend. In dieser Geste sieht sie eine Möglichkeit, den Assoziationsraum für ihre Zuhörer*innen zu weiten, zumal ihr Rücken die Projektionsfläche der weißen Wand vor ihr verdoppelt.
Insbesondere Beiträge wie der von Seita ermöglichen es zwar, das gesprochene Wort und die körperliche Performance im Raum in den Kontext des „Lecture“-Hefts mit aufzunehmen. Die für den Vortrag so zentrale unmittelbare Ansprache lässt sich jedoch im Print selbstredend nicht realisieren. Dennoch können Sie zuhören und sich auf die Worte der Beiträge einlassen. An die politische Sprengkraft, die sich gerade daraus entfalten kann, erinnert Nyong’o in seinem Beitrag über Lordes Reden: Dass diese nur noch lesend rezipiert werden, nimmt ihnen nichts von ihrer Resonanz.
Um den Gepflogenheiten der Vorrede gerecht zu werden, schließen wir unser Vorwort mit einem Dank; er gilt allen, die zu dieser Ausgabe beigetragen haben, und besonders Christian Liclair, der sie maßgeblich mitgestaltet hat.