VORTRAG ALS VERSUCHSANORDNUNG Armin Chodzinski und Sibylle Peters im Gespräch

Sibylle Peters, "Touching You," Kampnagel, Hamburg, 2024
SIBYLLE PETERS: Ich freue mich, mit dir über Vorträge und Lecture Performances zu sprechen, weil uns das Thema seit mehr als zwei Jahrzehnten verbindet. Es verbindet uns, weil unser Zugang ähnlich ist: Wir verstehen den Vortrag nicht nur als Vermittlung oder Behauptung von etwas bereits Gewusstem, sondern zugleich als Versuchsanordnung, als Experiment, als Forschung. Es gibt inzwischen eine ungeheure Vielfalt an Vortragsformaten, die praktiziert werden: Von der Instruktion zu motivational speeches, von der geisteswissenschaftlichen Vorlesung zur Verkaufspräsentation. Zwischen diesen Formen zu wechseln, ermöglicht eine Virtuosität, die ich an deinen Arbeiten sehr schätze. Mit welchem Begriff – Vortrag oder Lecture Performance – beschreibst du deine Praxis?
ARMIN CHODZINSKI: Ich halte am Begriff des Vortrags fest und wehre mich oft dagegen, den der Lecture Performance zu verwenden. Für mich ist der Vortrag ein Raum, der gemeinsam mit dem Publikum gebaut wird und der immer klaren Sprachkonventionen folgt, die ich ernst nehme. Wenn ich den Begriff Lecture Performance benutze, beeinflusst das die Rezeption, die von Vorstellungen und Erwartungshaltungen bestimmt wird. Das Publikum fokussiert dann eher das Performative und sieht entsprechend vieles als performative Illustration. Besser ist: Es erwartet einen Vortrag und schaut, was kommt.
PETERS: Die Bezeichnung Lecture Performance ist in gewisser Weise ein weißer Schimmel, weil der Begriff Vortrag im Deutschen bereits ein performatives Element beinhaltet. Früher fand das Wort auch noch entsprechend Verwendung, zum Beispiel in einer Frage wie: Hat die Person Vortrag? Was meint: Ist ihre Performance gut? Oder: Wie ist der Vortrag einer Violinistin? Also was ist ihre spezielle Weise zu spielen? Historisch gesehen fand die letzte begriffliche Transformation um 1800 statt, seitdem sprechen wir von Vorträgen im modernen Sinne. Die technische Entwicklung des Buchdrucks ermöglichte, dass sich fast alle Studierenden Lehrbücher leisten konnten. Dadurch wurde die klassische Vorlesung, bei der der Vortragende etwas vorlas und die Studierenden mitschrieben, überflüssig. Es folgte eine Vorlesungskrise, die zu Überlegungen darüber führte, wie das Format neu gestaltet werden sollte, nämlich performativer: nicht mehr als Vorlesung, sondern als Vortrag. Wilhelm von Humboldt setzte sich in diesem Kontext für die Einheit von Forschung und Lehre ein und propagierte das freie Vortragen, was nicht nur den Studierenden, sondern auch den Lehrenden zugutekommen sollte, die im Zuge dessen selbst zu neuen Erkenntnissen gelangen würden. Es ging ihm um ein produktives, wissenspoietisches Sprechen. Johann Gottlieb Fichte beispielsweise entwickelte seine Philosophie an der neu gegründeten Humboldt-Universität zu Berlin im freien Vortrag, genauso wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der allerdings am Ende seiner Karriere altersbedingt Schwierigkeiten hatte, seine Sätze zu beenden. Das haben seine Studierenden dann für ihn gemacht: Sie haben mit- und dabei die Sätze zu Ende geschrieben. Mediale und institutionelle Entwicklungen verändern nicht nur das Vortragswesen, sondern auch das, was als Wissen erscheint. Ein Beispiel dafür ist die Etablierung der Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin durch die Praxis der Dia- bzw. der Doppelprojektion oder auch die Entstehung der modernen westlichen Naturwissenschaft aus dem Schauexperiment des 17. bis 19. Jahrhunderts. Hier wird deutlich, wie der Vortrag als vermeintliches Vermittlungsformat ganz neue Evidenzformen, Disziplinen und Wissensarten schaffen kann.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel with students
CHODZINSKI: Gerade die Performanz trägt im Vortrag entschieden zur Evidenzproduktion bei. Das habe ich früh gelernt – durch ein Schulreferat, das ich ohne jedes Wissen hielt. Ich hatte diese beiden monumentalen, aber von mir ungelesenen Werke in den Händen. Mit diesen Büchern operierte ich sehr körperlich im Raum: mit großen, ernsthaften Gesten und einer deutlichen, behauptenden Sprache. Dabei hatte ich von Tuten und Blasen – oder in diesem Fall von der Geschichte der Hexen – keine Ahnung. Im Anschluss wurde ich über die Maßen gelobt; auch von meinen Lehrer*innen, die eigentlich hätten wissen müssen, dass alles komplett ausgedacht war. Sicher hatte das mit meiner Körperlichkeit zu tun, auch mit einer Unbedingtheit, der Dringlichkeit meines Sprechens, mit einem Gefühl der kämpferischen Unterlegenheit eines Unterschichtenkinds. Dieser Moment war eine Schock-Erfahrung. Ich realisierte in aller Plötzlichkeit, welche Bedeutung Präsenz hat, wie sehr das Vortragen mit Raum-Nehmen und Raum-Geben zu tun hat. Ich nahm mir diesen Raum lustvoll – und erlebte dabei doch ein schmerzliches Scheitern: Die Substanz war verwischt, vernebelt, verklärt, verschwunden und scheinbar irrelevant. Heute würde ich behaupten, dieses Referat war der Startpunkt, seitdem habe ich mich mit dem Vortragen immer wieder auseinandergesetzt. Damals war die Reaktion zunächst eine andere: Ich entschied mich, solche Situationen komplett zu meiden und nicht mehr vor Publikum zu reden. Erst im Kunststudium und nach dem Hören und Sehen von sehr vielen Vorträgen habe ich mich dem öffentlichen Sprechen langsam wieder genähert und es als komplexe Form verstanden.
PETERS: Schon die antike Rhetorik hat die Evidenz als rhetorische Figur beschrieben, bei der sich das, worüber gesprochen wird, im Moment der Rede und am Körper des Redners vergegenwärtigt. Wenn Redner sich vom Thema bewegt zeigen, wenn sie zum Beispiel mit den Tränen kämpfen, erscheint das besonders authentisch und eindrucksvoll. Zugleich birgt dies aber das Risiko, an Souveränität zu verlieren. Im Extremfall geht das Sprechen zum Beispiel in ein Weinen über; die Referenz bricht zusammen. Lecture Performance-Künstler*innen suchen oft dieses Moment der Vergegenwärtigung und sind bereit, das damit einhergehende Risiko einzugehen.
CHODZINSKI: Die Frage ist, welche Form von Evidenz entsteht dabei? Entsteht eine Evidenz, mit der man weiterarbeiten kann? Wo tritt diese Evidenz auf? Und wie kommt man von der Gefühligkeit des Showelements weg? Das ist mein Anspruch an Vorträge: den Punkt zu schärfen, an dem wirklich etwas entsteht, das man gemeinsam in diesem Raum etwas aufscheinen sieht, das ich vielleicht noch nicht formulieren kann, das jenseits der Behauptung liegt.

Sibylle Peters, “Touching You,” Kampnagel, Hamburg, 2024
PETERS: Am Anfang meiner Auseinandersetzung mit Vorträgen habe ich noch gedacht: Selbstevidenz – das ist es doch! Wir erfinden eine neue Wissensform, die im Vortragen sozusagen ihr Labor hat, wo wir immer versuchen, das, was wir sagen, direkt selbst evident zu machen: performative Evidenz. Meine erste Lecture Performance befasste sich zum Beispiel mit dem Thema Fälschung – und war in gewisser Weise selbst eine Fälschung. Sie hieß Laboratory of Fake (2001), und es ging um das Fälschen als eine Praxis der Wissensproduktion. Also: Was muss man alles wissen, um eine gute Fälschung zu machen? Ich habe den Vortrag vorher aufgezeichnet, mit allen kleinen Pannen und Zwischenspielen, und diese dann live nach-performt. Ich habe versucht, das so zu perfektionieren, dass es nicht sofort, sondern erst nach einer Weile auffallen würde. So ist der Vortrag in ein illustratives, demonstratives, aber auch dekonstruktives Spiel mit dem geraten, was ich übers Fälschen gesagt habe. Dieses Spiel hat sich zwischen Referenz, Performanz und Evidenz entfaltet. Ich war sehr inspiriert von den ersten Lecture Performances, die ich bis dato rezipiert hatte, vor allem John Cages Lecture on Nothing (1961), die ja auch eine Selbst-Exemplifizierung ist. Bis heute arbeite ich in meinen Lecture Performances meist mit einer Form der Selbst-Exemplifizierung, indem ich versuche, das, was beim Vortragen passiert, mit dem Inhalt, der vorgetragen wird, in Bezug zu setzen, wie zuletzt bei Touching You (2024). Dabei war ich mit neun Menschen in einer Art cuddle puddle, und verschiedenste Arten von Berührungen fanden statt. In dieser Situation habe ich dann einen Vortrag über Berührung gehalten. Wobei es fast unmöglich war, nicht den Faden zu verlieren, wenn sich die Qualität der Berührung plötzlich geändert hat. In Auseinandersetzung mit deiner Arbeit und der vieler anderer Kolleg*innen sowie mit theoretischen Studien wurde mir über die Jahre klar, dass es diese perfekte Figur der Selbstevidenz nicht gibt, weil sie sozusagen an einer bestimmten Stelle immer in sich zusammenbricht … und das ist eigentlich gerade das Gute. Diese Machtposition, die du eben im Reden verortet hast – also, dass die redende Person die Position der wissenden hat und dass, sobald das gut performt wird, sich alles, was sie sagt, in Wissen verwandelt –, diese souveräne Position wird im Zuge der Selbst-Exemplifizierung immer auch ein Stück weit aufs Spiel gesetzt.
CHODZINSKI: Kompetenz und Macht werden performt und lassen sich so auch zu einer Strategie entwickeln. Eine solche Kompetenz-Performance wäre zum Beispiel: Die Buchhaltung eines Unternehmens hat ein Problem, denn in den Auswertungen finden sich Ungereimtheiten. Früher reichte es, eine sehr klein geschriebene Excel-Tabelle zu präsentieren und sehr leise zu sprechen, um eine überzeugende Buchhaltungskompetenz zu performen. Die Taktik bedient sich eines Klischees, denn wenn auf der einen Seite die offensive Machtbehauptung für Kompetenz steht, gilt bei mathematischen, wissenschaftlichen, nerdigen Themen das Gegenteil: Fachkompetenz steht hier auf der anderen Seite der Sozialkompetenz. Anderer Kontext, anderer Anspruch, andere Performance – doch immer geht es um Machtfragen: Mit dem vorgezeigten Material, der Stimme, der Haltung, dem Auftreten wird eine Geschichte erzählt. Das muss gar nicht immer eine absichtsvolle Strategie sein, es funktioniert auch ohne …

Armin Chodzinski and the #drccallstars, “F wie Feierabend, oder: Wer repariert die 5-Uhr Sirene?,” Feierabendhaus Ludwigshafen, 2023
PETERS: Du scheinst die Position zu vertreten, dass eine Lecture Performance sich gerade durch ihre Performanz kritisch zu Vortragsformaten verhalten sollte, die Macht sichern. In solchen Macht sichernden Formaten wird die Position der Vortragenden als der Wissenden weiter untermauert. Im klassischen Vortrag wird der Mehrwert, der zwischen Sagen und Zeigen entsteht, normalerweise den Vortragenden zugeschrieben – also in deinem Beispiel der Person aus der Buchhaltung. Die Vortragenden akkumulieren quasi diesen Mehrwert, er wird zu ihrem Kapital. Welche Rolle spielt Kapitalisierung auf einer materiellen Ebene für dich als Vortragskünstler?
CHODZINSKI: Ich komme aus der bildenden Kunst, und meine Praxis war in der Regel immateriell, was oft so viel heißt wie: umsonst! Durch Vorträge konnte ich aber eine ökonomische Grundlage schaffen. Der (Künstler*innen-)Vortrag im Kunstkontext war damals nicht bepreist, aber dieselbe Rede in einem Kultur-, Wirtschafts- oder Institutionskontext als Performance dargeboten hatte wie selbstverständlich Anspruch auf ein Honorar. Mich hat vor allem interessiert, wie man über verschiedene Themen wie Ökonomie, Stadtentwicklung, Kunst und Popkultur sprechen kann, ohne dabei in Behauptungen zu verfallen.
PETERS: In meiner Forschung über historische und gegenwärtige Formen des Vortrags fand ich die Schnittstelle zur Ökonomie auch besonders spannend, gerade im Kontext der großen Diskussion um die Kommerzialisierung des Wissens. In den 2000er Jahren, vor der Finanzkrise, gab es eine Ära der Unternehmensberatungen, die im Wesentlichen „Präsentationen“ verkauft haben. In diesem Kontext hat sich die Terminologie wieder verändert, und man spricht heute eher von Präsentationen als von Vorträgen. Lecture Performances hingegen versuchen oft, kapitalistischen Logiken etwas entgegenzusetzen, beispielsweise, indem sie dieses Surplus, das zwischen Zeigen und Sagen entsteht, kollektivieren. Während in einem Macht sichernden Vortragsszenario das Surplus der Position der Vortragenden zugeordnet wird, wird in Lecture Performances das, was entsteht, häufig als eine kollektive Erkenntnis situativ erfahrbar.
CHODZINSKI: Solch gemeinsam produzierte Erkenntnis lässt sich auch über eine Mehrstimmigkeit herstellen. Die ist auch für meine Arbeit zentral. F wie Feierabend, oder: Wer repariert die 5-Uhr-Sirene? (2022) war zum Beispiel eine Lecture Performance, die als Bühnenshow mit großem Ensemble daherkam: drei Schauspieler*innen, zwei Sidekicks, drei Musiker und ich als Vortragender. Dieses Set-up führte zu einer eindeutigen Erwartung des Publikums: Da gibt es eine Performance! Deshalb benutze ich hier ganz bewusst den Begriff Lecture Performance. Dieser Abend referierte eine Auseinandersetzung mit dem Thema Feierabend im politischen und gesellschaftlichen Sinne. Er fand in einem Feierabendhaus statt, und ein zentraler Teil bestand dann auch darin, diesen historischen Kontext zu beleuchten, denn für viele im Publikum war es einfach ein großer Konzertsaal. Ich selbst trat als Autor und Vortragender auf, als eine bestimmte Vortragsfigur, die ständig durch die anderen Akteur*innen auf der Bühne dekonstruiert wurde. Ich hatte einen Redeanteil von vielleicht 15 Prozent und stand die meiste Zeit brüllend oder schweigend auf einem hohen Gerüst mitten im Raum, ohne Mikrofon. Die Show verknüpfte unterschiedliche Wissensressourcen in einem eher theatralischen Format, bei dem unterschiedliche räumliche Strukturen und Darbietungsformen aufgerufen wurden, wie Tanzsaal, Kirche und Konzertbühne, Performance und Chor. Die Mehrstimmigkeit, die dabei entstand, machte verschiedene Perspektiven und Positionen sichtbar. Es gab keine klare Argumentationslinie, sondern alles wurde sofort dialektisch durch andere Sichtweisen dekonstruiert, sei es durch die Körper, die Kleidung, das Agieren im Raum oder die Positionen selbst. Es ging darum, gemeinsam – auch und gerade mit dem Publikum – einen Raum zu schaffen, der die Machtposition des Sprechers und des Raumes hinterfragte, sie zeigte, stilisierte und gleichzeitig auflöste.
PETERS: Vielleicht kann man sagen: Der Vortrag ist ein Format, in dem immer aus dem Inneren eines Diskurses, also aus einer Machtposition heraus gesprochen werden kann, ein Format, das aber auch gekapert werden kann von Menschen, die dann die Verfahren des Vortragens nutzen, um sich in eine Position zu bringen, in der sie erstmals sprechen und gehört werden können. Lecture Performance als Möglichkeit zur Selbstermächtigung, also dafür, zu Diskursen beizutragen, in denen man sonst aus verschiedensten Gründen nicht zu Wort kommen würde.
CHODZINSKI: Ich komme ja selbst nicht aus intellektuellem Hause und empfand mich immer als Underdog zwischen denen, die bildungsnah und wohlhabend groß geworden waren. Der Vortragsraum war vielleicht deshalb für mich immer auch ein Performanceraum, eine Arena. Er lieferte mir das Territorium, und ich war nicht bereit, mich in diesem Raum wegen irgendetwas zu verstecken, also: Showtime!

Achsa Sprague
PETERS: Dass Menschen aus marginalen Positionen diese Arena bespielen, hat Tradition: Frauen war es im 19. Jahrhundert in vielen Gesellschaften verboten, überhaupt öffentlich zu sprechen. Um 1860 nutzten viele in den USA die Praxis des freien, inspirierten Vortragens, um dennoch gehört zu werden. Beispielsweise die Trance-Rednerin Achsa White Sprague: Sie hielt philosophische Vorträge gegen die Sklaverei, fiel allerdings vor dem Sprechen in eine Art Trance und behauptete, ein (männlicher beziehungsweise göttlicher) Geist würde durch sie hindurch sprechen. Eine ganze Reihe von Frauen in den USA haben das Rednerpult als Trance-Rednerinnen erobert.
CHODZINSKI: In der Malerei des 19. Jahrhunderts gab es Künstlerinnen wie Hélène Smith, die behauptet haben, sie würden in Trance malen. Während ihre Körper für White Sprague und Smith als Medium fungierten und eine Möglichkeit der eigenen Sichtbarwerdung als Sprecherin und Künstlerin boten, liest man über Pythagoras, dass er die eigene Körperlichkeit verschleierte. Er unterrichtete seine Schüler, während er selbst hinter einem Vorhang stand, denn der Logos würde durch die eigene Äußerlichkeit, das Körperliche und durch das Sehen abgelenkt. Das finde ich besonders bemerkenswert: Das Performative, also der Körper, der sich relational im geöffneten Raum positioniert, verändert die Konzentration und eine bestimmte Form der Erkenntnis.

Hélène Smith, “Paysage extraterrestre,” 1896
PETERS: Wir haben inzwischen viele neue Strategien gefunden, um das Machtpotenzial des Vortrags zu unterwandern, unter anderem kollektive. Wie können wir kollektive Vortragskonstellationen so einrichten, dass mehr Menschen die Position der*des Wissenden einnehmen können?
CHODZINSKI: Kollektive Strategien funktionieren auf unterschiedlichen Ebenen und machen noch einmal deutlich, dass der Vortrag einige formale Strukturen hat, die in der Praxis befragt oder gestaltet werden können. Zum Beispiel: Ein Vortrag ist zeitlich begrenzt. Was ich in bestimmten Kontexten versuche, ist, das Ende zu verhindern. Soll heißen: Die Lecture diffundiert in ein Reden aller und wird zu einem gemeinsamen Denken, Sprechen und Handeln – die Markierung eines Endes, der Moment des Vorher-und-Nachher, wird vermieden. Zum Beispiel, indem man die eigentlichen Strukturen aufrechterhält, aber andere Formen einführt, die gleichzeitig dagegenwirken. Ein Beispiel dafür wäre meine Eröffnungsrede für die Ausstellung von Simon Kindle im Kunstmuseum Luzern 2024. Dort wählte ich die Strategie des Einzelredners. Wie immer trug ich einen Anzug und band mir zu Beginn des Vortrages eine Krawatte um. Die Lecture wurde mit einer Gymnastikübung, die von einer Schallplatte aus den 1970er Jahren eingespielt wurde, angeleitet. Gemeinsam mit dem Publikum folgte ich einer unsichtbaren Stimme und vollzog die Übungen. Das veränderte die Beziehung zwischen dem Publikum und mir als Sprecher grundlegend. Wir alle begannen also die als Vortrag angekündigte Veranstaltung mit einer körperlichen Erfahrung – die übliche Form war damit direkt aufgebrochen. Im weiteren Verlauf der Lecture las ich einen Text über Michel Foucaults Heterotopien und konzentrierte mich dabei auf seine Idee des Rückens als Ort, an dem utopisches Denken seinen Ursprung hat. Simon Kindle führte dann von mir angeleitet Gymnastikübungen vor seinen Arbeiten aus, und das Publikum konnte beobachten und beurteilen, wie er diese umsetzte. Aus der Lecture wurde nach und nach eine Performance, bei der es nicht nur um das Übermitteln von Inhalten ging, sondern um Erleben und Fühlen im Raum, um Erkennen und Erspüren. Meine Sprecherrolle veränderte sich ständig, und am Ende gab ich die Kontrolle komplett ab.
PETERS: Das ist für mich auch in einen Kontext eingebettet, den ich als das „Forschen aller“ bezeichne. Im Grundgesetz gibt es das Recht auf Bildung, also gewissermaßen das Recht, im Publikum eines Vortrags zu sitzen. Aber ein Recht auf Forschung haben wir nicht. Forschung ist ein Privileg. Es ist wichtig, das zu hinterfragen und umzudrehen, indem man ein Recht auf Forschung fordert. Viele meiner künstlerischen Projekte sind daher kollektive Forschungsprozesse, an denen heterogene Gruppen beteiligt sind. Die Teilnehmer*innen teilen sich ihre Erfahrungen und -ergebnisse wechselseitig mit und präsentieren sie anschließend einer breiteren Öffentlichkeit. Dabei wird noch einmal hinterfragt, was herausgefunden wurde. So setzt sich das Forschen idealerweise in der Vortragssituation fort.
CHODZINSKI: Mit der Zeit habe ich mich auf die Frage konzentriert, an welchen Stellschrauben man drehen kann, um einen Raum zu gestalten. Meine Fokussierung liegt auf der Frage, wie man Räume öffnet, ohne dabei eine anmaßende Wissenshierarchie aufzubauen – was ich auch schon in kollektiveren Ansätzen umzusetzen versuchte. In einem solchen Projekt saßen jeweils fünf bis sechs Leute an acht Tischen, und ihre Aufgabe war es einerseits, Gemüse zu schneiden für eine Kartoffelsuppe, die in der Mitte des Raumes gekocht wurde. Zudem lag an jedem Platz ein Skript mit unterschiedlichen markierten Stellen, und mit Spotlights auf den Tischen wurde dirigiert, welche Gruppe gerade aus den abgedruckten Forschungsergebnissen zum Thema Grundeinkommen vorlesen musste. Also ein kollektives Vortragen, das durch den dialogischen Text in ein Tischgespräch überging. Doch die Regie blieb in einer Hand, denn ich war es, der den Rhythmus definierte, wann welcher Tisch vorlesen sollte; ich war es, der den Text markiert hatte, der die Recherchearbeit geleistet hatte und in dieser Form vortragen ließ, in der Hoffnung, dass sich der Vortrag in den Gesprächen erweitern, verändern und entwickeln würde. Das hat inhaltlich eher mühsam, poetisch aber sehr schön funktioniert – und verwirrend war es auch, denn wer in welcher Rolle was war oder sein konnte, blieb unklar. Die Frage bleibt immer: Wie kollektiviert man das Vortragen und sorgt gleichzeitig dafür, dass es Bestand hat und sich inhaltlich entwickelt? Das Ziel ist es, die Konstruktion des Sprechaktes zu zeigen und das Publikum in eine gemeinschaftliche Produktion einzubeziehen. Das bedeutet auch, das Sprechen des Publikums zu inszenieren, denn wenn die eigene Stimme sich einmal – aus welchen Gründen auch immer – den Raum genommen hat, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich den Raum selbstbestimmt erneut nimmt.

Armin Chodzinski and the #drccallstars, “F wie Feierabend, oder: Wer repariert die 5-Uhr Sirene?,” Feierabendhaus Ludwigshafen, 2023
Armin Chodzinski hat bildende Kunst studiert, in Unternehmen gearbeitet und in Anthropogeografie promoviert. Er markiert Verluste, Sehnsüchte und Hoffnungen mittels Vorträgen, Performances, Ausstellungen, Zeichnungen, Texten, Videos etc. in sehr unterschiedlichen Kontexten, die vom Ausstellungsraum über das Theater, wissenschaftliche Symposion bis hin zu Unternehmen reichen.
Sibylle Peters hat das Buch Der Vortrag als Performance (transcript, 2011) geschrieben und hat die Geisteswissenschaft für das Theater aufgegeben. Dort hat sie u. a. das Forschungstheater entwickelt, in dem sich Kinder, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen als Forschende begegnen. Zurzeit arbeitet sie an einem Projekt zur Swinish Multitude New Yorks und an einem Theater der Berührung.
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