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Ulrich Gutmair

Aus dem Reformhaus Christina Knülligs Sammelband "Aufwärts Bitte!"

Christina Knüllig (Hg.), Aufwärts bitte! 10 Beiträge gegen Deutschlands freien Fall, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2004. Christina Knüllig (Hg.), Aufwärts bitte! 10 Beiträge gegen Deutschlands freien Fall, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2004.

Der Ruf nach Reformen erklingt derzeit in öffentlichen Diskursen zu Politik und Ökonomie so inflationär wie nie, und auch im Bereich der Publizistik sind Veröffentlichungen mit populistischem Appellcharakter ganz gewöhnlich. Die Anthologie "Aufwärts Bitte!" erscheint zunächst wie ein Sammelsurium an neoliberalen bis -konservativen Stimmen zur Reformdebatte. Alle Reformvorhaben, so der Tenor, bedürfen ganz neuer "Leitbilder", um überhaupt wirksam zu werden. Ulrich Gutmair stößt jedoch bei den "10 Beiträge gegen Deutschlands freien Fall" durchaus auf Überraschungen.

In den traditionell erbittert geführten Debatten zwischen einigen linken Gruppen und Journalist/innen, die in den Zeitschriften Konkret und Bahamas publizieren, hat sich über bestimmte Demarkationslinien hinweg ein zumindest temporärer Konsens über die Rolle bestimmter Formen der "Kritik" an den von bürgerlichen Medien inzwischen ganz nonchalant so genannten "Kreuzzügen Amerikas" herausgebildet. Man gelangte, verkürzt gesagt, zur Erkenntnis, dass die Kritik an der Invasion des Irak, die heute im Kontext einer globalen Friedensbewegung von Antiimperialisten aller Couleur formuliert wird, mit Vorsicht zu genießen ist: Der Imperialismus-Vorwurf an die Vereinigten Staaten (und den kleinen Teufel Israel) ist allzu oft mit Motiven unterfüttert, die antiliberal, antiamerikanisch und antisemitisch sind.

Ähnlich argumentiert auch eine bürgerliche Position, die man der Einfachheit halber als neokonservativ und neoliberal bezeichnen kann, wobei Letzteres für den Moment nicht auf die Chicago School des klassischen Neoliberalismus verweisen soll, sondern eine Neu-Aneignung liberalen Gedankenguts meint. Die Tatsache, dass ein Teil der Linken und die Neuliberalen hier einer Meinung sind, kann man nur begrüßen, die jeweils daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen allerdings gilt es zu hinterfragen. Denn wo Teile der einen Gruppe zu einer dezidierten (und allerdings schon in ihrem Umfeld alles andere als unumstrittenen) "antideutschen" Position gelangen, fordern die anderen unter anderem Patriotismus und neue "Leitbilder". Vor kurzem hat Christina Knüllig, Lektorin bei der Europäischen Verlagsanstalt, einen Sammelband mit dem knappen Titel "Aufwärts bitte!" herausgegeben, in dem die eben skizzierte Kritik an der fahrlässigen deutschen Massenbewegung gegen einen "neuen amerikanischen Imperialismus" keine unwesentliche Rolle spielt, auch wenn es zunächst nicht danach aussieht. Der Untertitel des Bandes lautet "10 Beiträge gegen Deutschlands freien Fall". Das Copywriting auf dem Buchrücken erklärt das Projekt noch genauer: "Deutschland braucht ganz neue Leitbilder, nicht bloß ein paar Reformen!" So allgemein und dunkel die hier vertretenen Konzepte wie Patriotismus, Bürgergesellschaft, Gemeinsinn etc. zuweilen sind, so luzide ist doch die von einigen Essays in Variationen vorgetragene Feststellung, dass die Abwesenheit bestimmter Wertvorstellungen und Menta- litäten nicht nur für den verbreiteten Antiamerikanismus unserer Tage, sondern auch für die Reformfeindlichkeit der Deutschen verantwortlich zu machen seien. Wie historisch präzise diese Analyse im Einzelfall ist, steht allerdings wiederum auf einem anderen Blatt.

In ihrem einleitenden Essay verknüpft Herausgeberin Knüllig zwei Beobachtungen, die in der Tat eine Überlegung wert sind. Als paradigmatischen Ausdruck einer zeitgenössischen Mentalität fasst Knüllig nämlich zwei Slogans zusammen, die im letzten Jahr eine bemerkenswerte Karriere machen konnten: "Geiz ist geil" und "Nicht in unserem Namen". Sie stehen auf der einen Seite für eine "totale Forderung", auf der anderen für "totalen Gestaltungsverzicht", so Knüllig. Die neue Konsumentenmentalität bringt Knüllig dabei kurz und bündig auf den Punkt: "Du sollst alles bekommen und es wird dich nicht einmal etwas kosten." Das "Nicht in unserem Namen" der deutschen Pazifisten interpretiert sie hingegen als Ergebnis einer falschen deutschen Identifikation mit den Nazi-Tätern: "Die Vergangenheit wird nicht so interpretiert, dass aus ihrem Vermächtnis der Auftrag erwachsen könnte, sich aktiv, mit gegebenenfalls sehr machtvollen Mitteln für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen." In ihrer Kombination seien die beiden Grundmotive fatal, schließt Knüllig. Auf dem Spiel stehe nämlich "die Erkenntnis, dass der Erhalt eines liberalen Gemeinwesens aus der Kundenperspektive allein nicht bewerkstelligt werden kann." Knüllig ist sich mit ihren Autoren größtenteils darüber einig, dass die positive Bezugnahme auf die Zivilisierungsleistungen der Bundesrepublik die Schlüsselmaßnahme ist, um die Kollateralschäden möglichst gering zu halten, die die deutsche Mentalität zeitigen könnte. So weit, so notwendig, so gut.

Kritisch geprüft werden müssten, so aber die Schlussfolgerung Knülligs, daher nun "Begriffe wie Verantwortung, Leistung, Überdurchschnittlichkeit, Geschichte, Werte, Eliten, Hierarchie, Hegemonie, Patriotismus." Auch verdächtigt Knüllig die deutschen Demonstranten nun nicht etwa einer positiven Identifikation mit dem deutschen Kollektiv, das neuerdings ja sehr wohl als eines gedacht wird, das passiv zum Opfer kriegerischer Auseinandersetzung - konkret: des alliierten "Bombenterrors" - geworden ist. War es nicht Jörg Friedrich, der Bild-Leser über die Folgen der Bomben von Bagdad aufgeklärt hat? Es bleibt der Welt-Redakteurin Mariam Lau überlassen, in ihrem Text zur Rolle der Re-Education, der diverse deutsche Mythen über die traditionell negativ konnotierte "Umerziehung" der Deutschen richtig stellt, darauf hinzuweisen, wie eben dieser deutsche Opferdiskurs sich geschmeidig in eine alte antiamerikanische Tradition einfügt: "Von Dresden nach Bagdad: Sie schlagen kaputt, wir dürfen aufbauen" lautet die treffende Überschrift zur entsprechenden Passage. Die nicht nur von Lau skizzierte passive und im Kern antiliberale Haltung, die das Problem der bewaffneten Verteidigung einer Demokratie nicht kennen will, wird auch in den meisten anderen Aufsätzen benannt, in denen sich darüber hinaus eine ganze Fülle von mehr oder weniger einleuchtenden, ganz konkreten und sehr abstrakten sowie sich teils ganz grundsätzlich widersprechenden Vorschlägen für Maßnahmen "gegen Deutschlands Fall" finden. Dass die Commons, also die "gemeinsamen, übergreifenden Güter" des Landes, gestärkt werden müssten und das Gerede von der Bürgergesellschaft Quatsch sei, erklärt Gerd Held, der regelmäßig für die FAZ schreibt. Dass die spd wohl oder übel die eigentliche Kraft der Liberalisierung sein müsse, die uns in die von Held geschmähte Bürgergesellschaft führe, entgegnet Richard Herzinger (Die Zeit). Dass die Begeisterungstabus in Deutschland fallen müssten, postuliert der in den usa lebende Journalist Wolfgang Harrer. Dass sich um einen innerlich verunsicherten Konservatismus auch Linke Sorgen machen sollten, erkennt ganz richtig Jörg Lau (Die Zeit). Einen neuen Gesellschaftsvertrag fordert Paul Nolte.

Es bleibt allerdings dem ehemaligen sds-Mitglied und jetzigen Zeit-Redakteur Klaus Hartung überlassen, den Antiliberalismus und Antiamerikanismus der deutschen Pazifisten als Kehrseite einer Mentalität zu lesen, die den Sozialstaat als eigentlichen Kern der Nation begreift. Er leistet die zentrale Analyse dieses Sammelbands, indem er eine Kritik der deutschen "Sozialnation" formuliert: Schröders kurzzeitig vor den letzten Wahlen ausgerufener "deutscher Weg", der konkret ein Nein zum Irakkrieg meinte, wurde recht schnell wieder aus dem Vokabular der Außenpolitik entfernt, schreibt er. Franz Müntefering habe sich beeilt zu erklären, Schröder habe damit nur "unsere soziale Marktwirtschaft" gemeint. Vor diesem Hintergrund fragt sich Hartung nun, warum "das offen nationalistische Paradigma" der gegen den Irakkrieg demonstrierenden "Friedensvolksgemeinschaft" als solches gar nicht wahrgenommen werden konnte. Seine Antwort ist so simpel wie einleuchtend: Eine "sozialnationale Selbstermächtigung" habe die Friedensbewegung geprägt, die sich mit dem deutschen Mainstream eben darin einig sei, dass "der eigentliche 'clash of civilizations' zwischen amerikanischem Raubkapitalismus und einer sozialpolitisch orientierten Völkergemeinschaft drohe." Ganz im Sinne der neuliberalen Übereinkunft skizziert Hartung im Folgenden aber erst einmal die Genese der spezifisch deutschen Sozialnation, deren Problem vor allem darin bestehe, dass sie im Kern eben alles andere als solidarisch sei, weil sie zwangsläufig asoziales Verhalten fördere: Die Anonymität des Sozialstaats verbirgt ein unüberschaubares System von Transferleistungen. Kern des Problems sei daran aber vor allem "eine immer gefräßigere Struktur von Transferagenten, die den größeren Teil des Transfers" konsumiere. Laut Schätzungen werden nämlich 80 Prozent dieser Leistungen von der staatsnahen Mittelklasse verbraucht. Eine tiefgreifende Reform müsste also die Interessengruppen entmachten, die sich des Systems bemächtigt haben. (Dass dabei allerdings, etwa im Fall der Gesundheitssysteme, auch Lobbys wie die Ärztekammern und nicht zuletzt die Pharmaindustrie, die mit mafiösen Mitteln das System aushöhlt, ins Auge gefasst werden müssten, erwähnt Hartung nicht.)

Die Genese der Sozialnation verdanke sich unter anderem der historischen Tatsache, dass es in der unmittelbaren Nachkriegszeit das demokratische Deutschland nicht gab, das eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust vorausgesetzt hätte, glaubt Hartung. Die Politik versuchte daher, eine ökonomische Instabilität wie in der Weimarer Republik, die als Ursache des Nationalsozialismus betrachtet wurde, zu vermeiden. Der Sozialstaat als soziale Befriedungsmaßnahme wäre also zuvörderst ein antifaschistisches Projekt gewesen. Diese Analyse ist sicher nicht falsch, aber unzureichend. Sie ignoriert nämlich, dass dieses "Ineins des Sozialen und Nationalen" einen direkten Vorläufer hat, nämlich den Volksstaat Adolf Hitlers. Die Sozialnation entstand 1933, weil das völkische Gleichheitsversprechen der Nazis für eine Mehrheit der Deutschen hohe Anziehungskraft besaß. Der "Sozialismus des guten Blutes" (Himmler) zeigte sich in der Realität als Umverteilungsstaat: Die kleinen Einkommen zu schützen war die oberste Maxime von Hitlers Wirtschaftspolitik. So wurden 1942 rund 80 Prozent des Steuereinkommens von 13 Prozent der Steuerzahler getragen. Diese Politik stieß aber bald an ihre Grenzen.

"Du sollst alles bekommen und es wird dich nicht einmal etwas kosten." Diese Mentalität hat Christina Knüllig im Kern des heutigen deutschen Bewusstseins ausgemacht, womöglich reichen ihre Wurzeln aber weiter zurück, als gedacht: Es waren die Eroberungen sowie die in den besetzten Gebieten vorgenommenen "Arisierungen" und Enteignungen, welche die klassenlose Utopie im Innern erst ermöglichten. Jedes besetzte Land musste fünfzig Prozent des letzten Friedenshaushalts als Besatzungskosten an Deutschland abführen. Weil man an der Stabilität der besetzten Länder aber interessiert war, schuf man für diese neue Einnahmequellen. Große Teile der von Juden geraubten Vermögen in den besetzten Ländern flossen in deren Staatskassen. Die Hitler'sche Sozialnation verfolgte also ein einfaches Konzept: Gleichheit ist völkisch, bezahlen werden dafür die "Untermenschen" und Juden außerhalb der Volksgemeinschaft. Dass der gemeine Kleinbürger nicht so genau wissen will, wer seine Transferleistungen eigentlich bezahlt, hat also Tradition. "Im Gegensatz zu den kommunistischen Regimen blieb Hitler-Deutschland eine jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur", hat der Historiker Götz Aly dazu an anderer Stelle geschrieben. [1]

Nun basiert die bundesrepublikanische Sozialnation nicht auf der Ausplünderung Europas, nichtsdestotrotz muss man wohl oder übel über diese Traditionsstränge nachdenken, wenn man die deutsche Versorgungsmentalität anprangern will, die in Ost wie West nach dem Krieg ja durchaus ähnliche Formen annahm. Hartung selbst warnt vor den populistischen Gefahren, die der Kollaps des Systems nach sich ziehen könnte. Interessant dabei ist, dass auch viele seiner Koautoren im Zusammenhang mit der deutschen Misere von einem nötigen Umdenken in Sachen Immigration sprechen, darunter Jörg Lau: "Leitkultur-Gedröhne und Kopftuchverbot sind einfach keine intelli-gente Antwort auf die Fragen, die uns umtreiben." Richard Herzinger schreibt der Bürgergesellschaft unter anderem ins Stammbuch, dass sie den Islam nicht mehr als Exotikum betrachten dürfe und endlich akzeptieren müsse, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Wolfgang Harrers Aufsatz handelt aus einer amerikanischen Perspektive unter anderem davon, dass Frauen endlich größere Chancen im Beruf bekommen müssten und eine - positiv besetzte - Politik der Einwanderung eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende moderne Ökonomie sei. Aber so wie die Neolinke feststellen musste, dass die vermeintlichen Nebenwidersprüche der modernen kapitalistischen Gesellschaften oft Hauptkriegsschauplätze der sozialen Antagonismen sind, so müssten die neuen Liberalen und wiedergeborenen Neokonservativen eigentlich erkennen, dass Kopftuchphobie, Nichtanerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, Marginalisierung des Islam etc. schnell mit der Vorstellung eines dezidiert deutschen Versorgungsstaats kurzgeschlossen werden können, in dem man heute wieder - oder eben immer noch - "Sozialschmarotzer" öffentlich anprangert. Wer einen aufgeklärten Patriotismus, ein positives nationales Selbstbild und die liberale Bürgergesellschaft fordert, muss wohl oder übel unter anderem auch über Rassismus sprechen. Denn eben der könnte für die populistischen Vereinfacher von morgen zum entscheidenden Vehikel werden, um die Angst vor dem Umbau des Sozialstaats zu kanalisieren. "Die Nation ist tabu, aber die Sozialnation hat keine Adresse", schreibt Klaus Hartung. Das ist leider falsch: Die deutsche Volksgemeinschaft ist die historische Adresse der Sozialnation. Es bleibt also zu hoffen, dass ihre heutigen Verteidiger nicht demnächst ihre völkischen Wurzeln als Bezugspunkt wiederentdecken.

Anmerkung

[1]Götz Aly hat in einigen Aufsätzen die hier skizzierte These entwickelt. "Hitlers Volksstaat. Notiz zum Klassencharakter des Nationalsozialismus", "Zur Schonung des Steuerzahlers. Massenmord als Technik staatlicher Umverteilung" und andere Essays zum Thema sind erschienen in Götz Aly, Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, Frankfurt/M. 2003.