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Mehrdeutigkeit ohne Mehrdeutigkeit Manfred Hermes über "Spring Breakers" von Harmony Korine

90_Hermes_01 Harmony Korine, "Spring Breakers", 2012

Glaubt man den viel zitierten Verlautbarungen des ­Filmemachers, hat Harmony Korine an der Ästhetik seines aktuellen Beitrags zum zeitgenössischen Avant­gardekino ebenso lange gefeilt wie an seinem letzten Film „Trash Humpers“ (2009). Das Ergebnis heißt „Spring Breakers“ und spielt mit einer wilden Farb­palette, die sich vor allem in Partyszenen entlädt und sich direkt aus dem Unbewussten aktueller Popmusik-Videos zu speisen scheint.

Vielleicht liegt in dem praktisch universalen Unterhaltungswert die Anziehungskraft von „Spring ­Breakers“, an dem es in diesem Frühjahr kein Vorbeikommen gab. Das Feuilleton schien sich ebenso ausnahmslos wie die zahlreichen Fans darauf einigen zu können, dass unter den pinken Bikinis der Korine’schen Teenager irgendeine Art von Subversion stattfindet. Zeit, sich das Spektakel der Dauertrunkenheit ebenso genau anzusehen wie die Blüten seiner Rezeption.

Als ehemaligem Wunderkind mit guten Verbindungen legt man Harmony Korine die Implikationen seiner neuesten Produktion vielleicht etwas zu günstig aus. Der Anlass von „Spring Breakers“, das Ferienritual des massenhaften bingeing von Alkohol und Sex angehender US-Akademiker, war aber ja auch sehr vielversprechend. Schon der Vorspann mit den durchs Bild schleudernden Bierinfusorien und den hin- und herschwingenden nackten Brüsten in Zeitlupe ist auf zunächst sympathische Weise grell und vulgär. Doch ist die Visualität dieser kurzen Sequenz (blendende Sonne, kräftige Farben, feuchte Plastizität hauptsächlich weiblicher Körperteile) eben auch abgeleitet. Die Vorlage war wohl das Musikvideo zu „Windowlicker“ von Aphex Twin, dem Korine in der Folge aber auch deutlich widersprechen wird. Chris Cunninghams deformierende Sicht war ja als Parodie der pompösen Inszenierungen der Triebabfuhr im amerikanischen Gangster-Hip-Hop gedacht; Richard D. James hatte darin sowohl die weiblichen als auch die männlichen Partien übernommen und dem Video so eine ziemlich brachiale Monstrosität verliehen. Bei Korine ist es genau umgekehrt. Er hält sich heraus, macht aber aus Utensilien des Gangster-Hip-Hop den irgendwie feministisch gemeinten Vorschlag einer Machtübertragung an die Frauen.

Zunächst geht es aber um das Motiv eines studentischen Ballermanns, und immer wieder wird der Spring Break als Mythos und soziale Tatsache beschworen, vor allem aber der Ausdruck selbst bis zum Überdruss wiederholt: „Spring break forever, bitches“, „Let’s get that fucking cash and go on spring break“, „It’s more than just spring break“. Vermutlich ist dieses Mantra parodistisch gemeint, doch wird im „More than“ eben auch eine Sehnsucht nach etwas angedeutet, das über die Standards eines noch so lustigen Sexurlaubs hinausgeht oder mit dessen Versprechen ernst macht: Gefahr, reicheres Leben, Faszination des Kriminellen, auch in sexueller Hinsicht. Damit wird allerdings deutlich mehr insinuiert, als sich im Laufe des Films tatsächlich ereignen wird. Im Grunde kommt die sexuelle Atmosphäre in „Spring Breakers“ nie über jene sanitären Formen hinaus, die für alle US-Produktionen, gleich welcher Ebene, typisch sind, und bleibt also selbst vom durchschnittlichen Körpereinsatz in den Reality-Formaten von RTLII weit entfernt. Anders als in Korines Film würden in den meisten US-Serien während des Unterrichts zwar vermutlich keine Zettel herumgereicht, auf die junge Frauen „I want penis“ schreiben, aber als Andeutung und Gesprächsthema ist die Fellatio doch schon sehr etabliert.

Glaubt man den Rezensionen, so ist „Spring Breakers“ allerdings ein Bacchanal oder sogar ein Bacchanal „on acid“. Da überrascht es dann aber schon, wie wenig der Film als Produkt eines Drogenhirns rüberkommt, denn dramaturgische Konventionen werden hier geradezu übererfüllt. Um dem Ganzen Festigkeit und Fallhöhe zu geben, hat Korine korrektive Ebenen und Leitmotive eingezogen, die dem Kriminellen familiäre, kleinbürgerliche und christliche Maßstäbe entgegensetzen (verlogene Anrufe bei der Mutter, Rückblenden auf Selena Gomez’ popspirituelle Gebetsstunden bei den Born Again Christians: „Are you crazy for Jesus?“, „Jesus is the coolest of all“). Andererseits werden intensivere Situationen, wenn es schon einmal zu diesen kommt, umgehend zerschlagen. Das Gewalt- und Gefahrenpotenzial bleibt weitgehend unausgeschöpft und folgenlos, was dem Film jede Spannung nimmt und alles in allem ziemlich langweilig macht; die Belohnungen beschränken sich auf einige Soundereignisse und die Licht- und Farbgestaltung.

Nun ist Korine aber auch eher für ein distanziertes Kino der Einfälle, Beobachtungen und Anblicke bekannt. In Kommentaren zu „Spring Breakers“ hat er das so auch bestätigt: es sollte wie ein Trip sein, ich wollte auf eine Pop-Poesie hinaus, ich habe mich als Autor bewusst herausgehalten und nur gesampelt, was da ist. [1] Aber auch Distanzierungen können Komplikationen nach sich ziehen. Der Frauenüberschuss führt hier zu verdrehten, wenn auch eindeutigen Adressierungsverhältnissen und zu Spagaten, die nicht sehr Larry Clark sind. Während man Candy, Cotty, Faith und Brit, trotz unterschiedlicher Haarfarbe, nur schwer auseinanderhalten kann, werden die Interessen eines jungen männlichen Heteropublikums überdurchschnittlich bedient – jedenfalls, wenn man davon ausgeht, dass junge Frauen, die in nichts anderem als in knappen Bikinis herumlaufen, für dieses Publikum tatsächlich irrsinnig anziehend sind. Gleichzeitig sind diese Frauen, die dem Publikum als Anblick geboten werden, aber auch Adressatinnen eines Ermächtigungsangebots. Sie sind es ja, die plötzlich die Dinge in die Hand nehmen, wobei sie sich mit einem einzigen und schon etwas aus dem Leim gegangenen James Franco begnügen müssen, der seinerseits die Wahl zwischen allen Vieren hat.

In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch bemerkenswert, dass in keinem Artikel über den Film der Hinweis fehlte, dass sich der ehemalige Disney-Star Selena Gomez hier testweise an einer nuttigen Facette versucht, wohingegen Francos auch nicht gerade zurückhaltende Imagebemühungen mit keinem Wort erwähnt, dafür aber seine darstellerische Begabung allseits hervorgehoben wurden. Dabei ist durchaus bekannt, dass auch Franco den Wert krasser Gesten für die Statuserhöhung durchaus zu schätzen weiß – in „Spring Breakers“ lässt er sich auf eine Fellatio an der Pistole ein, zu der ihn die jungen Frauen in einem völlig lächerlichen Moment der Machtumkehr nötigen.

Vom Aspekt eines kulturindustriellen Berühmtheitsmanagements abgesehen und unter Ausblendung seiner offensichtlichen und vielsagenden Schwächen wurde „Spring Breakers“ von der Kritik vor allem als Phänomen gesehen. Teil des Phänomens ist dann aber auch, wie sehr Korine als Jugendversteher akzeptiert ist und wie selbstverständlich ihm ein besonderer Zugang zu einem coolen Wissen unterstellt wird. [2] Dabei wurde als ein herausragendes Merkmal die Fähigkeit hervorgehoben, die Dinge in der Mehrdeutigkeit zu belassen. [3] Unbestimmtheit ist demnach nicht mehr ein Mangel an Durcharbeitung, sondern wird als Voraussetzung für offene Lesarten ausgelegt – etwa in Bezug auf die hier repräsentierten Werte („the pursuit of happiness taken to nihilistic extremes“ [4]) und ihre Verwirklichung bzw. Perversion im Kriminellen („the drug dealer’s life as ,the American dream‘“ [5]). Ähnliches gilt auch für das Ende des Films und die Frage, was das für Lektionen sein könnten, die der Kriminelle erteilt und die einige der Frauen mit nach Hause nehmen. Hier gibt es die Wahl zwischen zwei Varianten: Nach ihrer Überschreitung wird die Bildungsgesellschaft noch viel fleißigere Studentinnen zurückbekommen. Oder aber: Die gefährliche Erfahrung der Verlockungen des Geldes, des Mordens und der Macht stellt den Sinn akademischer Bildung grundlegend infrage.

Auch wenn Korine behauptet, die Verantwortung ganz an sein Material übergeben zu haben, ist die Frage, wie sich sein Film zu den eigenen Angeboten stellt, nicht so schwer zu beantworten. Denn auf der Ebene von tits’n’ass gibt es eine Dunkelheit des Sinns überhaupt nicht mehr, und auch von anderen Teilen des Films lässt sich sagen, dass ihre möglichen Doppeldeutigkeiten (oder Ironien) das am wenigsten Interessante sind. [6]

Auch eine Nichtambivalenz ist nur so gut wie das, was sich aus ihr machen lässt. Hier kam es in der Zeitschrift Cahiers du cinéma zu einer beispielhaften Lösung (und da dort neuerdings eine Filmästhetik des Poetischen propagiert wird, wurde „Spring Breakers“ auch in diesem Sinne vereinnahmt): „Diesem idiotischen Objekt entströmt eine Art abstoßende und naive Poesie, die burlesk und synthetisch ist, vulgär und dumm, eine verlorene, wie durch die Mangel genommene und gespülte Poesie, undefinierbar und unkonsumierbar, und doch drückt sich so das Poetische und Elendige unserer Zeit aus. ‚Spring Breakers‘ ist ein Objekt ohne Kopf oder Schwanz. Trotzdem steht der Film an der vordersten Front eines politischen Kinos, aber nicht etwa deshalb, weil er das Politische in Worte, Haltungen oder kritische Posen fassen würde. Im Gegenteil: Dieser Film denkt nicht, er schießt, ohne zu zielen.“ [7] Wenn etwas etwas nicht ist, tut oder denkt, kann es also immer noch irgendwie „politisch“ sein, oder ist es sogar gerade dann. [8] Auf dieser Basis wird die Behauptung von Ambivalenz selbst ambivalent, da offene Lesarten eigentlich gewundene sind.

Anmerkungen

[1]So war es in einer Homestory („Korine Révolution Pop“) zu lesen, in: Cahiers du cinéma, 687, März 2013, S. 6–14.
[2]Auf die Rolle des Spielverderbers verzichtend, erlaubte es vielen Rezensenten/Rezensentinnen, sich selbst als Kenner oder Vertreter einer youthology einzusetzen. Auch hier gibt es eine Adressierungsproblematik, da die Emphase, Launigkeit und Expressivität mit dem Alter der Rezensenten/Rezensentinnen korrelierte. Beispiele: Amy Taubin in Artforum (März 2013) und, schon makaberer, Dietrich Kuhlbrodt in Konkret (3/2013): „Den Film zu gucken, ist ein krasses Rezeptionsabenteur. […] Ficken, ficken, fixen. Alk, Alk, Alk. Drogen, Drogen, Drogen. Kotzen, kotzen, kotzen. Regeln brechen. […] Was wir im Film sehen, ist eine brutale Funmaximierung. Bis zum Gehtnichtmehr. […] Jubel! Ultimativer Spaß! Und dann der Sonnenuntergang in Florida. Mann! Ja, um Männer geht’s den Girls. Vielleicht mal ein feuchter Kuss zwischen Frauen, aber das kennt man ja. Was machts. Es geht zum Dreier. Beim Sonnenuntergang. Im Wasser.“
[3]Ambivalenz überall. Manohla Dargis, New York Times (15.3.2013): „Mr. Korine, a pasticheur and cultural vulgarian (part Dada, part European art cinema, part MTV’s ,Jackass‘), isn’t interested in making up your mind for you. Instead he tosses out his ideas like puzzle pieces and lets you see how or if they fit. […] At once blunt and oblique, ,Spring Breakers‘ looks different depending on how you hold it up to the light.“ Richard Brody löste die Frage der Ambivalenz in benjaminianischer Weisheit auf: „The closer one gets to the movie, the further it recedes.“ (The New Yorker, 18.3.2013). Und Cord Jefferson schrieb in The New Inquiry (17.4.2013) schon weniger gutmütig: „Like a woman taking her clothes off on a stage, which looks like exploitation to some and empowerment to others, Spring Breakers resembles different things depending on who’s watching, and many have hated what they saw.“
[4]Siehe Dargis, a.a.O.
[5]Siehe Brod, a.a.O. Brodys Text schlägt dann schon den halben Weg in eine akademische Auseinandersetzung ein, indem er diesen Film „Korine’s version of Norman Mailer’s 1957 essay ‚The White Negro‘“ nennt: der Drogenhändler Alien als ein seiner „Weißheit“ entfremdeter Mann.
[6]Laura Bennett: „If Korine’s other films have at times suffered from too much obliqueness, the message of Spring Breakers is garishly obvious“, in: The New Republic (21.3.2013); das war übrigens eine der seltenen kritischen Rezensionen.
[7]Jean-Philippe Tessé, „Fluo et sang“, in: Cahiers du cinéma, 687, 2013, S. 21.
[8]Ähnlich auch Taubin: „Anyone who thinks that Spring Breakers is apolitical hasn’t noticed the signposts along the way.“